Wie verändert sich der Alltag, wenn plötzlich nichts mehr funktioniert? Was bedeutet ein Blackout für Bahn, Pflegebedürftige oder Patienten im Krankenhaus? Ein Blick auf ein mögliches Worst-Case-Szenario.
Wasser bis zum Bauch, Einsatzkräfte im Notfallmodus, Häuser, von denen nur noch die Dächer sichtbar sind - und das mitten in Berlin. Was klingt wie ein dystopisches Szenario aus einem Blockbuster, wird im Zukunftslabor Sicherheit zur Realität. Zumindest für die politischen Entscheider, die dort durch die Simulation geführt werden.
Ihnen wird gezeigt, wie sich ein Blackout in Deutschland auswirken kann, hautnah und interaktiv. Eine Art Konfrontationstherapie für die Politik, gedacht, um das Bewusstsein für den Katastrophenschutz zu schärfen und theoretische Szenarien greifbarer zu machen.
Euronews war exklusiv vor Ort und hat miterlebt, was ein plötzlicher Blackout auslösen kann.
Die Timeline eines Worst-Case Szenarios
Das Zukunftslabor in Berlin selbst ist unscheinbar - ein kleiner Raum mit vielen Bildschirmen. Doch was dort gezeigt wird, reicht weit über die Hauptstadt hinaus: Es betrifft ganz Deutschland, teils sogar Szenarien über die Landesgrenzen hinweg. Auf Karten und in kurzen Videos erhalten Besucher einen kompakten - und realistischen - Überblick darüber, wie ein 24-Stunden-Blackout ablaufen kann.
Entscheidend sei vor allem die Anfangsphase, sagt die Leiterin des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit, Dr. Naomi Shulman. Sie und ihre Kollegin, ebenfalls Leiterin des Forschungsforums Dr. Sophia Rossmann betonen: In diesen ersten Stunden zeigt sich, wie weitreichend die Folgen werden. Hier wird der Grundstein für funktionierendes Krisenmanagement gelegt.
Um all das greifbar zu machen und notwendige Schritte auf den Weg zu bringen, hat das Zukunftslabor eine Timeline erarbeitet. In zwei Zeitabschnitten wird sichtbar, welche Bereiche besonders anfällig wären.
0–4 Stunden: Informations- und Versorgungsabbruch
Zunächst trifft es direkt den Kern unserer heutigen Gesellschaft: die Kommunikation, die alles und jeden miteinander verbindet. Fällt der Strom aus, fällt auch das Telekommunikationsnetz innerhalb weniger Stunden weitgehend aus. Das bedeutet: kein Internet, kein Handy, keine Warn-Apps, keine Live-Updates. Der Zugang zu offiziellen Informationen reißt ab, und auch untereinander wird die Kommunikation eingeschränkt, bis oft nur noch das unmittelbare Umfeld erreichbar ist.
"Man muss sich das so vorstellen: In der einen Minute hat man noch Internet und in der nächsten ist es weg. Keiner weiß, was eigentlich passiert ist", schildert Dr. Shulman.
Auch für Behörden und Einsatzkräfte wird es dadurch deutlich schwieriger, sich untereinander zu koordinieren oder die Bevölkerung über verschiedene Kanäle zu erreichen. Der Notruf ist nur noch eingeschränkt erreichbar, Notrufzentralen können ihre Arbeit kaum fortführen und akute Notfälle bleiben länger unbehandelt.
4–8 Stunden: Die kritische Phase
Nach einigen Stunden zeigt sich der nächste Effekt des Blackouts: zentrale Ressourcen stehen unter Druck - mit unmittelbaren Folgen für den Alltag.
Krankenhäuser unter Druck
Krankenhäuser verfügen zwar über Notstrom, können damit jedoch nicht den Normalbetrieb aufrechterhalten. Dementsprechend müssen Operationen verschoben werden, weil Stromsparmaßnahmen greifen und elektromedizinische Geräte Prioritäten bekommen.
Gleichzeitig bricht die digitale Infrastruktur weg. Dr. Shulman erklärt: "Die digitalen Patientenakten funktionieren nicht mehr, bei Arztpraxen ist auch eingeschränkte Handlungsfähigkeit da". Informationen zu Patienten - etwa zu Medikation oder anderen sensiblen Daten - werden deutlich schwerer zugänglich. Die Diagnostik dauert dadurch länger, weil digitale Systeme, Labordaten und interne Vernetzungen fehlen.
Versorgung und Mobilität geraten ins Stocken
Tankstellen fallen unmittelbar aus - ohne Strom kommt weder Kraftstoff aus den Pumpen noch läuft das Kassensystem. In Berlin gibt es beispielsweise nur zwei Tankstellen, die auch manuell bedient werden können; alle anderen wären in diesem Falle praktisch nicht nutzbar.
Konkret heißt das: Rettungsdienste und Logistikunternehmen können ihre Fahrzeuge nur so lange einsetzen, wie ihre Reserven reichen. Busse und private Autos sind ebenfalls betroffen - wer länger nicht getankt hat, steht in kürzester Zeit vor einem Problem. Die vermeintlich kurze Fahrt zum Supermarkt, die normalerweise nur fünf Minuten dauert, kann so schnell zur Odyssee werden.
Und die, die noch fahren können, landen schnell im Chaos.
"Es kommt zu Stressituationen im Verkehr, weil dann keine Ampel mehr funktioniert. Die Sicherheitslage verändert sich auch dadurch massiv", erklärt die Leiterin des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit, Dr. Sophia Rossmann.
Auch die Lebensmittelversorgung wird empfindlich. Kühlketten geraten unter Druck, Warenwirtschaftssysteme arbeiten nicht mehr, und der Transport stockt, weil Fahrzeuge nicht nachgetankt werden können. Die Regale sind zwar nicht sofort leer - aber die Kette, die sie füllt, wird brüchig.
Die Psyche: Der vergessene Faktor
Ein Faktor, der in vielen Fällen gerne vergessen wird, ist die Psyche der Menschen. Mit jeder Stunde ohne Strom wachsen auch die Unsicherheiten in der Bevölkerung - was zum Stresstest für die Psyche des Einzelnen werden kann. Denn: Auf Dauer ohne Nachrichten, ohne Orientierung, ohne digitale Kontaktmöglichkeiten zu sein, lässt die Nervosität stark steigen. Menschen beginnen zu spekulieren, Gerüchte ersetzen Informationen.
Das bekommen dann auch ganz schnell die Einsatzkräfte zu spüren: Für sie kann es vermehrt zu Situationen kommen, die deeskaliert werden müssen. Das Konfliktpotenzial steigt im Allgemeinen.
Sauberes Wasser wird knapp
Zu den sensibelsten Bereichen gehört schließlich die Trinkwasserversorgung. Pumpwerke und Filteranlagen arbeiten in vielen Regionen mit Notstrom, jedoch nicht unbegrenzt. Mit jedem weiteren Ausfall von digitaler Steuerung steigt der Aufwand, Anlagen manuell zu kontrollieren und zu betreiben. Gleichzeitig zeigt sich ein weiterer kritischer Punkt: Sauberes Wasser ist eine Grundlage für Hygiene und damit erneut ein Faktor, der unmittelbar den Gesundheitsbereich betrifft.
Leuchtturmprojekte für ganz Deutschland
Die Szenarienarbeit des Zukunftslabors wird durch Leuchtturmprojekte aus ganz Deutschland ergänzt. Seit 2018 wechseln diese regelmäßig - in diesem Jahr erstmals mit Schwerpunkt Blackout. Aktuell werden fünf Projekte gezeigt, darunter ein Vorhaben aus dem Landkreis Meißen in Sachsen, das ein autarkes Krisenkommunikationssystem entwickeln soll: inklusive besserer Alarmierungswege, neuen Optionen für Notrufe und einer abgesicherten Energieversorgung.
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sei das politische Interesse für das Zukunftslabor deutlich gestiegen, erklären Shulman und Rossmann. Die Besucher stammen aus allen demokratischen Fraktionen sowie aus Bundes- und Landespolitik.
Ziel des Projekts ist es, das Bewusstsein für Krisen zu schärfen. Entscheidend sei, so die Projektleiterinnen, zu erkennen, dass der Staat im Ernstfall nicht alles sofort leisten kann und Vorbereitung eine gemeinsame Aufgabe ist. Dazu gehört auch das Thema gesellschaftliche Resilienz: zu verstehen, welche Krisenszenarien möglich sind.
Als Vorbild gelten hier die skandinavischen Länder, in denen Vorbereitung stärker verankert ist, etwa durch verfügbare Schutzräume und mehr Selbstversorgungsbereitschaft. Deutschland müsse hier nachziehen.
Dazu gehöre auch, soziale Unterschiede mitzudenken: Nicht alle Menschen können sich gleichermaßen vorbereiten. Resilienz bedeute daher auch nachbarschaftliche Unterstützung und der Blick auf unterschiedliche Lebensrealitäten.
Keine Panik - sondern Handlungsfähigkeit
Innerhalb der vergangenen Jahre ist es den Mitarbeitenden des Zukunftslabors gelungen, dauerhafte Austauschstrukturen zur Politik zu schaffen. "Wer zu uns kommt, weiß, dass er sich mit Fragen jederzeit an uns wenden kann", sagt Dr. Shulman.
Wichtig ist dem Team dabei, keine Panik zu erzeugen. Es gehe darum, dem Gefühl der Ohnmacht im Ernstfall etwas entgegenzusetzen: Handlungsfähigkeit.
Denn, wer versteht, wie Krisen ablaufen und welche Optionen es gibt, fühlt sich bereits im Alltag sicherer - auch ohne, dass der Ernstfall tatsächlich eintritt.
So endet das Zukunftslabor nicht bei der Analyse möglicher Risiken. Es soll zeigen, dass Vorbereitung nicht Alarmismus bedeutet, sondern Orientierung, Aufklärung und Stärkung der eigenen Resilienz.