Jahrzehntelang vertraute Deutschland sicherheitspolitisch auf Amerika. Doch diese Ära ist vorbei. USA-Experte Josef Braml zieht eine bittere Bilanz – und warnt vor den Folgen.
Die Bundeswehr soll zur "stärksten konventionellen Streitmacht Europas" werden, erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Mai. Vor der Regierung liegt damit eine doppelte Herausforderung: den Personalmangel durch einen neuen Wehrdienst zu lindern und zugleich die Truppe zügig mit moderner Ausrüstung auszustatten.
"Buy European"
Laut Politico arbeitet die Bundesregierung an einem umfassenden Rüstungs- und Beschaffungsplan im Umfang von bis zu 83 Milliarden Euro. Der Großteil der Aufträge soll an europäische Hersteller fließen; lediglich etwa acht Prozent sollen in den USA eingekauft werden. Nach Informationen von Politico plant die Bundesregierung zwischen September 2025 und Dezember 2026 insgesamt 154 größere Rüstungsbeschaffungen.
Die Abhängigkeit Europas von amerikanischen Rüstungsgütern hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri haben sich die Waffenimporte aus den USA nach Europa - einschließlich der Ukraine - zwischen 2020 und 2024 im Vergleich zu den fünf Jahren zuvor mehr als verdreifacht.
Zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten ging der größte Anteil der US-Waffenexporte nach Europa: Der Anteil stieg von 13 Prozent (2015–2019) auf 35 Prozent (2020–2024). Insgesamt verdoppelten die europäischen Nato-Staaten in diesem Zeitraum ihre Rüstungsimporte, wobei zwei Drittel davon aus den Vereinigten Staaten stammten.
Deutschland verzeichnete einen besonders drastischen Anstieg: Die Waffenimporte nahmen um 334 Prozent zu, rund 70 Prozent davon kamen aus den USA.
Auch global bauten die USA ihre führende Rolle weiter aus. Ihre Exporte legten zwischen den beiden Fünfjahreszeiträumen um 21 Prozent zu, der Anteil am weltweiten Waffenhandel wuchs von 35 auf 43 Prozent.
Nun will Berlin einen neuen Kurs einschlagen, ganz nach dem Motto "Buy European".
Abwehr made in the USA: Vom Patriot-System bis zum "Kill Switch"
Laut dem USA-Experten und Autor Dr. Josef Braml sollte bei diesem Schritt nicht der Fehler gemacht werden, Ursache und Wirkung zu verdrehen.
"Die Ursache war, dass Trump deutlich gemacht hat, dass auf Amerika kein Verlass mehr ist", erklärt Braml im Gespräch mit Euronews. Nachdem dies klar geworden sei, "ergibt es keinen Sinn mehr, Tribut für einen Schutz zu zollen, den wir nicht mehr kriegen".
Braml zufolge wurde dieses "Tribut" gezahlt, indem amerikanische Waffen gekauft wurden, die Deutschland und andere europäische Länder von US-Systemen abhängig machten.
Dazu zählt auch das Abwehrsystem "Patriot", von dem Deutschland derzeit noch sechs Stück besitzt. Das System gilt als eines der modernsten und leistungsfähigsten Luftabwehrsysteme weltweit. Laut The Atlantic hat die US-Regierung den Export dieser Systeme vorübergehend gestoppt, da das Pentagon sie als knapp betrachtet und vorrangig für den eigenen Einsatz reservieren möchte.
Für manche Waffensysteme gibt es jedoch bislang noch keine europäische Lösung. Darunter fällt beispielsweise das Kampfjet Modell F-35.
Christophe Gomart, ehemaliger Chef des französischen Militär Geheimdienstes und heutiger EU-Abgeordneten der Europäischen Volkspartei, stellte dieses Jahr die These eines sogenannten "Kill Switches" in den Raum, bei denen die USA ein Sperrsystem in die Jets einbauen, dass aktiviert werden könnte, wenn der Flugplan nicht vom Pentago genehmigt wird.
Die Existenz des "Kill Switches" konnte jedoch nicht bestätigt werden, da es "keine Möglichkeit gebe, die F-35 aus der Ferne einfach abzuschalten", so ein Sprecher des Verteidigungsministeriums zur Tagesschau.
Die Bundesregierung hält somit an der Bestellung der Jets für die Truppe bei. "Bei der F-35 handelt es sich aber um ein Kampfflugzeug der fünften Generation, das es in Europa so derzeit noch nicht gibt. Durch seine Stealth Technologie kann es fast gar nicht erkannt werden. Wenn von der Truppe an uns solche Forderungen gestellt werden, können wir also nur in den USA kaufen", so eine Sprecherin des Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) zu Euronews.
"Souveränität heißt auch, dass man sich selbst schützen kann"
Pieter Wezeman, Forscher am Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri und Mitautor der Studie zu den jüngsten Zahlen der europäischen Waffenimporte aus den USA, betont jedoch, dass Europa bereits gegensteuere: "Die Nato-Staaten in Europa haben Schritte unternommen, um ihre Importabhängigkeit zu verringern und die eigene Rüstungsindustrie zu stärken. Doch die transatlantische Beziehung im Rüstungsgeschäft hat tiefe Wurzeln."
Der Marshall-Plan und die NATO legten nach dem Zweiten Weltkrieg den Grundstein für die Sicherheits- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und den USA. Seit dem Amtsantritt von Donald Trump bemüht sich die Bundesregierung, die bilateralen Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dennoch läuft der deutsche Kurs den Erwartungen des US-Präsidenten zuwider.
Trump hat seine zweite Amtszeit mit dem Versprechen "America First" angetreten. Diese Reihe von politischen Maßnahmen zielt darauf ab, außen- und innenpolitische Entscheidungen zu treffen, die den Interessen der USA Vorrang vor den Interessen aller anderen Nationen einräumen.
Noch im Februar hatte Trump die NATO-Partner dazu aufgefordert, ihre Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent zu steigern und US-Waffen zu beschaffen. In seinem Haushalt, der sogenannten "One Big Beautiful Bill" (OBBB), hat Trump als Teil seiner "Peace through Strength"-Agenda" rund 150 Milliarden US-Dollar an verpflichtenden Mitteln für das US-Verteidigungsministerium vorgesehen.
Auf die eigene Rüstungsindustrie könne man sich demnach verlassen, so Braml, vor allem, wenn es um Ersatzteile oder Software für einzelne Systeme gehe. "Souveränität heißt auch, dass man sich selbst schützen kann", so der USA-Experte Braml zu Euronews. Sollte dies nicht der Fall sein, mache man sich Braml zufolge erpressbar.
Bei seinem ersten offiziellen Besuch im Weißen Haus räumte Merz ein, dass, "ob es uns gefällt oder nicht, wir werden noch lange Zeit von den Vereinigten Staaten von Amerika abhängig bleiben."
"Die Sicherheit ist weg, die Pax Americana ist tot"
"Wir leben in einer neuen Zeitrechnung, in einer multipolaren Weltordnung und wenn es uns nicht gelingt, Europa als eigenständigen Pol aufzustellen, dann haben wir verloren in dieser Welt, in der die Starken machen, was sie können, und die Schwachen leiden", so der USA-Experte und Autor von "Die transatlantische Illusion".
Am Ende zeigt jedoch schon der Blick in die Patentstatistik: Wenn es um Rüstungstechnologie geht, gibt in Europa weiterhin Washington den Takt vor.
So meldeten zwischen 2015 und 2021 laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) US-Unternehmen knapp 18.000 Patente an, während alle 27 EU-Staaten zusammen auf weniger als 12.000 Patente kamen. Deutschland liegt innerhalb der EU mit rund 4.300 Patentanmeldungen an zweiter Stelle nach Frankreich, ist insgesamt aber stark von US-Konzernen abhängig.
Fortfahren wie bisher ist für Braml deshalb keine Option: "Die Sicherheit ist weg, die Pax Americana ist tot." Jahrzehntelang hat Deutschland seine Verteidigung in die Hände der USA gelegt.
Nun müsse das Land in kürzester Zeit Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen.