Ist Stille ein Geräusch? Das Ergebnis einer neuen Studie wird Sie überraschen

Ist Stille ein Geräusch? Eine neue Studie legt nahe, dass wir mehr hören als nur die Abwesenheit von Geräuschen.
Ist Stille ein Geräusch? Eine neue Studie legt nahe, dass wir mehr hören als nur die Abwesenheit von Geräuschen. Copyright Euronews - Canva
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Von Camille Bello
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Anhand einer Reihe von akustischen Illusionen haben Wissenschaftler:innen herausgefunden, dass Menschen Stille aus kognitiver Sicht ähnlich wahrnehmen wie Geräusche.

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Kann man den Klang von Stille hören? Oder ist Stille die bloße Abwesenheit von Geräuschen? Seit Jahrhunderten bieten diese Fragen Anlass für Grübeleien. In einer kürzlich durchgeführten Studie könnten Forscher:innen jedoch mit einem wissenschaftlichem Ansatz Antworten gefunden haben: Die Ergebnisse legen nahe, dass Stille tatsächlich ein Geräusch ist.

Traditionell gibt es zwei Sichtweisen auf die Natur der Stille: Die wahrnehmungsbezogene Sichtweise und die kognitive Sichtweise. Die wahrnehmungsbezogene Sichtweise besagt, dass wir Stille tatsächlich hören, während die kognitive Sichtweise davon ausgeht, dass wir ihr Vorhandensein lediglich aus der Abwesenheit anderer Geräusche ableiten.

Auditive Illusionen als Schlüssel zur Beantwortung der Frage

"Bis zu unserer Forschung gab es keinen empirischen Schlüsseltest für diese Frage. Und genau danach haben wir gesucht", sagt Rui Zhe Goh, Mitautor der Studie und Doktorand in Kognitionswissenschaften und Philosophie an der Johns Hopkins University.

Goh und seine Professor:innen arbeiteten an einer Reihe von akustischen Illusionen, um herauszufinden, ob Menschen Stille aus kognitiver Sicht genauso wahrnehmen wie Geräusche.

"Unsere Strategie bestand also darin, zu testen, ob einige der auditiven Illusionen, die bei Geräuschen auftreten, auch bei Stille auftreten", erklärte er gegenüber Euronews Next.

Ähnlich wie bei optischen Täuschungen, die unsere visuelle Wahrnehmung austricksen, können akustische Täuschungen dazu führen, dass Menschen Töne als länger oder kürzer wahrnehmen, als sie tatsächlich sind. Ein Beispiel ist die "one-is-more-Illusion", bei der ein langer Piepton länger erscheint als zwei kurze aufeinander folgende Pieptöne - selbst wenn die beiden Sequenzen die gleiche Gesamtlänge haben.

In Tests mit 1000 Teilnehmer:innen tauschte das Team die für die one-is-more-Illusion typischen Geräusche gegen Momente der Stille aus und formte die auditive Täuschung zu dem um, was sie als "one-silence-is-more-Illusion" bezeichnen.

Bei der one-silence-is-more-Illusion wurden den Teilnehmer:innen Tonspuren vorgespielt, die belebte Umgebungen wie Restaurants, Märkte und Bahnhöfe nachahmen. Darin fügte das Team Momente der plötzlichen Unterbrechung ein, die zu einer kurzen Stille führten. Wie bei der one-is-more-Illusion wurde in einer Tonspur eine lange Stille eingefügt, in einer anderen Tonspur zwei kurze aufeinanderfolgende Momente der Stille. Die Gesamtdauer der Stille war in beiden Tonspuren tatsächlich gleich. Die Teilnehmer:innen wurden dann gebeten, anzugeben, welche der beiden Tonspuren mehr Stille enthält.

Die Ergebnisse der Studie

Die Ergebnisse, die in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht wurden, waren überraschend, sagt Goh.

Die Menschen hielten einen langen Moment der Stille für länger als zwei kurze Momente der Stille. Mit anderen Worten: Die one-silence-is-more-Illusion führte zu denselben Ergebnissen wie die ursprüngliche one-is-more-Illusion.

"Ich dachte: Wow, das funktioniert tatsächlich. Ich meine, ich habe es gemacht, ich habe es programmiert, und ich wusste, dass die Dauer der Stille-Sequenzen gleich lang war, aber als ich es hörte, klang es definitiv so, als ob die eine Stille-Sequenz länger war", sagt Goh.

Die Tatsache, dass diese auf Stille basierenden Täuschungen genau die gleichen Ergebnisse erbrachten wie ihre auf Tönen basierenden Gegenstücke, deutet darauf hin, dass Menschen Stille genauso hören wie Töne. Die Ergebnisse implizieren eine ähnliche kognitive Verarbeitung von Stille und Tönen.

"Unser Ansatz war die Frage, ob unser Gehirn Stille auf die gleiche Weise behandelt wie Geräusche. Wenn man bei Stille die gleichen Illusionen wie bei Geräuschen hat, könnte das ein Beweis dafür sein, dass wir Stille tatsächlich hören", so Chaz Firestone, Assistenzprofessor für Psychologie und Gehirnforschung und Leiter des Johns Hopkins Labor für Wahrnehmung und Bewusstsein in einer Erklärung.

"Dieselbe kognitive Verarbeitung, die bei Geräuschen stattfindet, wird auch durch Momente der Stille ausgelöst. Und da das auditorische System diese Momente der Stille genauso behandelt wie einen Ton, deutet dies darauf hin, dass wir auditive Erfahrungen von Stille machen können", erklärt Goh.

Stille als eine eigene Art von Klang

"Die Ergebnisse könnten erklären, warum man, wenn man eine belebte Straße entlangläuft und einen ruhigen Raum betritt, von der Stille geradezu erschlagen wird, und warum die Momente der Stille während einer Theateraufführung oder eines Musikstücks eine so starke Kraft ausüben", fügt er hinzu.

"Es gibt mindestens eine Sache, die wir hören, die kein Geräusch ist, und das ist die Stille, die eintritt, wenn die Geräusche verschwinden", sagt Mitautor Ian Phillips, Professor für Philosophie, Psychologie und Gehirnwissenschaften, in einer Erklärung.

"Die Art von Illusionen und Effekten, von denen man dachte, dass sie nur bei der auditiven Verarbeitung von Geräuschen auftreten, treten auch bei Stille auf, was darauf hindeutet, dass wir auch die Abwesenheit von Geräuschen wahrnehmen", erläutert er weiter.

Die Studie bietet zwar keinen Einblick in die Art und Weise, wie unser Gehirn Stille verarbeitet, aber die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen Stille als eine eigene Art von "Klang" wahrnehmen und nicht nur als eine Lücke zwischen Geräuschen.

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Die Zukunft des Klangs der Stille

Die Forscher wollen weiter erforschen, inwieweit Menschen Stille wahrnehmen, einschließlich dessen, "was wir als reine Stille bezeichnen könnten, das heißt, Stille, die im Gegensatz zu Geräuschen nicht wahrgenommen wird".

"Also die Stille, die man bei der Meditation hört oder wenn man aus dem Fenster schaut und der stillen Nacht lauscht", so Goh.

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