Was ist eine 15-Minuten-Stadt? Das Öko-Konzept, auf das sich die Verschwörungstheoretiker stürzen

Demonstration gegen die "15-Minuten-Stadt" in Oxford am 19.02.2023
Demonstration gegen die "15-Minuten-Stadt" in Oxford am 19.02.2023 Copyright Getty Imags/zorazhuang
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Von Lottie Limb
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Die COVID-Pandemie hat lebenswertere Viertel erstrebenswerter erscheinen lassen, aber zugleich bei manchen Ängste vor einer "grünen Tyrannei" geschürt. Das Paradox am Beispiel Stadtplanung in Oxford.

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Autos aus den Straßen der Städte zu filtern, um die Emissionen zu verringern und die Anwohner vor schädlicher Luftverschmutzung zu schützen, ist für Umweltschützer eine Selbstverständlichkeit.

Doch die verkehrsberuhigenden Maßnahmen im englischen Oxford sind in den letzten Wochen zu einem unwahrscheinlichen Krisenherd geworden, da einige Demonstranten behaupten, sie würden zu einer "Klimasperre" führen.

Die Verschwörungstheorie über 15-Minuten-Städte - ein städtebauliches Konzept, bei dem die Menschen alles, was sie brauchen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können - hat sich im Internet schnell verbreitet.

Laut einer neuen Untersuchung von DeSmog wird sie von einem internationalen Netzwerk etablierter Klima- und COVID-Wissenschaftsleugner verbreitet.

Hier erfahren Sie, worum es bei der ganzen Aufregung geht.

Was tut die Stadt Oxford, um den Verkehr zu reduzieren?

"Wir müssen die Menschen und nicht die Autos in den Mittelpunkt der Verkehrssysteme stellen", so die unumstrittenen Worte des Direktors des UN-Umweltprogramms Erik Solheim aus dem Jahr 2016.

Seit Jahren versuchen europäische Städte, dieses Ungleichgewicht durch verschiedene Maßnahmen auszugleichen, zum Beispiel durch den Ausbau von Fahrradwegen in Berlin oder die Einrichtung von Fußgängerzonen im Zentrum von Pontevedra in Spanien.

Das System der “verkehrsarmen Bezirken” (Low Traffic Neighbourhoods, LTNs) ist eine im Vereinigten Königreich weit verbreitete Strategie. Durch die Errichtung von Barrieren, so genannten "modalen Filtern", wird der Autoverkehr in Wohnstraßen reduziert. Sie sind bereits seit den 1960er Jahren in manchen Städten zu finden, aber die Pandemie war der Auslöser für ihre Einführung in London und anderen wichtigen Städten - auch in Oxford.

Die Regionalverwaltung der Grafschaft Oxfordshire beschloss nach Konsultation der Öffentlichkeit im Juli 2022 einige befristete Sperrschilder dauerhaft einzurichten.

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Oxford: Der Rat schlägt Verkehrsfilter vor, weil "die Stadt seit Jahrzehnten unter entsetzlichen Verkehrsstaus leidet". Das schadet der Wirtschaft und der UmweltGetty Images

Als weiteren Versuch, die Verkehrsüberlastung zu verringern, plant man nun, im nächsten Jahr auf sechs Straßen der Stadt ein Verkehrsfilterprogramm zu testen. Autos müssen eine Genehmigung einholen, um diese Strecken befahren zu dürfen. Mit Hilfe von Verkehrskameras werden die Nummernschilder der Fahrer gescannt und diejenigen, die keine Genehmigung haben, mit einem Bußgeld belegt (mit zahlreichen Ausnahmen).

Unabhängig davon hat der Stadtrat von Oxford das Konzept der 15-Minuten-Stadt in seinem im September veröffentlichten lokalen Plan für 2040 befürwortet.

Im Dezember begannen Beiträge in den sozialen Medien, die beiden Ideen fälschlicherweise miteinander zu vermischen: so wurde behauptet, dass der Einsatz eines Überwachungssystems geplant sei, der die Menschen auf einen Radius von 15 Minuten um ihr Zuhause beschränken und eine “Klimasperre” errichten würde.

Die Stadträte wurden daraufhin mit einer Flut von Beschimpfungen überhäuft, woraufhin sowohl die Regional- und die Stadträte Ende des Jahres in einer gemeinsamen Erklärung die Fehlinformationen entkräfteten.

Doch bis dahin hatten sich die Theorien bereits verselbständigt.

Was sind 15-Minuten-Städte?

Die Entstehungsgeschichte von Ideen ist selten einfach, aber im Fall der "15-Minuten-Städte" gibt es ein klares Datum, an dem das Konzept geprägt wurde.

Der Pariser Stadtplaner Carlos Moreno diskutierte es 2015 auf der UN-Klimakonferenz COP21, nachdem er jahrelang über die Optimierung des städtischen Lebens geforscht hatte.

Im Umkreis von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad, so der Panthéon-Sorbonne-Professor, "sollten die Menschen in der Lage sein, die Essenz dessen zu leben, was die städtische Erfahrung ausmacht: Zugang zu Arbeit, Wohnen, Essen, Gesundheit, Bildung, Kultur und Freizeit".

"Eigentlich geht es um die Wahlfreiheit", erklärt der britische Fahrradaktivist Tom Jones gegenüber Euronews Green.

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"Wir sagen, dass wir keine neuen Häuser bauen sollten, in denen die Leute dann mit dem Auto fahren müssen, um Lebensmittel zu kaufen, zur Schule zu gehen oder den Arzt zu besuchen, weil es keine Geschäfte, Schulen oder Arztpraxen in der Nähe gibt."

Der Vater von vier Kindern fügt hinzu: "Eine richtige 15-Minuten-Nachbarschaft würde meine Kinder davon befreien, Geiseln in unserem Haus zu sein. Denn das sind sie wegen all der Autofahrten von weniger als ein oder zwei Kilometern, die den ganzen Tag an unserer Haustür vorbeirasen."

Warum muss eine laute und verschmutzte Straße eine laute und verschmutzte Straße sein?
Carlo Moreno
Stadtplaner, Sorbonne

Neben den Argumenten der Bequemlichkeit, der Sicherheit und der Sozialverträglichkeit gibt es auch eindeutige Vorteile für die Umwelt, wenn man den Autoverkehr einschränkt, und so die Luftverschmutzung verringert und mehr Raum für die Natur schafft.

"Warum muss eine laute und verschmutzte Straße eine laute und verschmutzte Straße sein", fragt Moreno. "Warum kann sie nicht eine von Bäumen gesäumte Gartenstraße sein?"

Die Dinge könnten anders sein - und sie waren es auch. Die Anziehungskraft von Annehmlichkeiten in der Nähe ist offensichtlich älter als 2015.

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15-Minuten-Stadt-Verschwörungstheorien in 60 Sekunden entlarvt.

So verfolgt der Verkehrsjournalist Carlton Reid dieses Ideal durch die "Zeitgeografie" der 1960er Jahre und die "Nachbarschaftseinheiten" der 1920er Jahre zurück und weist darauf hin, dass alle Städte einst Fußgängerstädte waren:

"Selbst die alten Römer haben den Verkehr auf vier Rädern (in den Städten) blockiert!"

Wie sind die 15-Minuten-Städte in die Verschwörungstheorie von der "Klimasperre" verwickelt worden?

Die Pandemie hat der Idee des "menschengroßen Raums", wie es Moreno ausdrückt, neues Leben eingehaucht.

Aber sie gab auch den verdrehten Ideen von Klimaskeptikern Auftrieb, die behaupteten, die COVID-Abriegelungen seien der Vorläufer einer "grünen Tyrannei" der Regierungen. Sie glauben, dass die globalen Eliten die Freiheit unter dem Vorwand des Klimawandels einschränken wollen.

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Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wurde in diesen breiteren Trend der "Klimasperren" hineingezogen und von Verschwörungstheoretikern als “kommunistische” Verschwörung dargestellt, um die Menschen leichter kontrollieren zu können.

"Ihre Lügen sind gigantisch", sagte Moreno kürzlich in einem Interview mit Reid zu diesem Thema und fügte an:

"Da unter anderem (das Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen) UN-HABITAT, das Weltwirtschaftsforum, das globale Städtenetzwerk C40 und die Federation of United Local Governments (UCLG, ein weltweiter Verband von Städten, Gemeinden und anderer lokaler Gebietskörperschaften) das [15-Minuten-Stadt]-Konzept unterstützt haben, nährt es ihre Fantasien, dass ich an der 'unsichtbaren Führung' der Welt beteiligt bin."

Interviewer: Wogegen protestieren Sie? Demonstrant: Wir protestieren gegen das kommunistische 15-Minuten-Städte-Programm. Q: Wie fühlen Sie sich? A: Großartig! Ich bin draußen auf der Straße. Ich treffe Freunde, lerne neue Leute kennen. Warum kann das nicht immer so sein?

Vor einer Woche gingen Hunderte von Menschen in Oxford auf die Straße und trugen Transparente mit der Aufschrift "NO TO 15 MIN CITY | COMMUNISM | WE DO NOT CONSENT". In einem Video, das tausende Male geteilt wurde, kritisiert ein 12-jähriges Mädchen die 15-Minuten-Stadtteile an und behauptet, sie würden "bald zu digitalen ID-Gesichtserkennungszonen werden."

Es gibt triftige Gründe, warum die 15-Minuten-Viertel im Vereinigten Königreich umstritten sind. Ladenbesitzer haben beispielsweise ihre Besorgnis über die Auswirkungen auf die Laufkundschaft geäußert; andere Anwohner sagen, dass sie nur den Verkehr auf die umliegenden Straßen drängen würde.

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Grüne Verkehrsaktivisten erwidern, dass die Menschen solche Maßnahmen nur selten wieder rückgängig machen wollen, wenn sie einmal eingeführt wurden. Die Klima-NGO Possible hat herausgefunden, dass Langsamfahrstellen tatsächlich zu den allgemeinen Zielen der Verkehrsreduzierung beitragen.

Doch der Widerstand gegen die Verkehrsberuhigungspläne von Oxfordshire kommt nicht nur von der Basis.

Wer verbreitet Verschwörungstheorien über das Verkehrskontrollnetz von Oxford?

Die Gruppe "Not Our Future", die den Widerstand anführt, wurde vor Jahren gegründet, wie DeSmog herausgefunden hat. Sie wird von einem Netzwerk hochrangiger Klimaleugner und Verschwörungstheoretiker aus aller Welt unterstützt.

Jennie King, Leiterin der Abteilung für Klimaforschung und -politik am Institute for Strategic Dialogue (ISD), erklärte gegenüber Euronews Green, die Pandemie sei ein Wendepunkt für diese Akteure, die das Trauma, das Millionen von Menschen erlitten haben, nun auszunutzen trachten.

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"Dieses Trauma wurde von der Anti-Klima-Lobby zu einer Waffe gemacht, die nun jede öffentliche Politik als 'Verletzung der bürgerlichen Freiheiten' verurteilt und direkte Vergleiche mit COVID zieht."

1/ Die Analyse von mehr als 120.000 Tweets zum Hashtag #15minutecities zeigt eine klare Polarisierung zu diesem Thema. Wie bereits von anderen erwähnt, wird das Thema von einer ziemlich eindeutig rechtsgerichteten und verschwörungsorientierten Gruppe propagiert

Diejenigen, die sich für umweltfreundlichere Straßen einsetzen, wissen sehr wohl, wie unsere Straßen in den Kulturkampf verwickelt werden.

"Was wir sehen", erklärt Tom Jones von Family ByCycle, "ist eine inhaltlich äußerst dünne, aber sorgfältig kalkulierte Fehlinformationskampagne, die darauf abzielt, emotionale Herdenreaktionen bei Menschen hervorzurufen, die so viel Angst davor haben, kontrolliert zu werden, dass sie nicht merken, dass es ihnen bereits passiert ist."

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