Hohe Preise und Angst vor Stagflation: Europas Wirtschaft vor unsicherer Zukunft

EZB-Präsidentin Christine Lagarde
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Von Euronews
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Der Krieg in der Ukraine hat die Inflation in der Eurozone in die Höhe schnellen lassen und bedroht das Wirtschaftswachstum.

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Das Jahr 2022 – es sollte eigentlich das Jahr sein, in welchem sich die Europäische Union von den wirtschaftlichen Probleme der Pandemie erholt und wieder nach vorne blickt. Doch dann kam alles anders: Der russische Präsident Wladimir Putin überfiel die Ukraine und warf damit alle wirtschaftlichen Prognosen und Erwartungen über den Haufen.

Einen Monat nach Beginn des Krieges ist die jährliche Inflationsrate in der Eurozone auf 7,5 Prozent angestiegen (im Februar betrug sie noch 5,9 Prozent) und widerspricht damit den Voraussagen von Analysten. Allein die Energiepreise sind, auf das Jahr umgerechnet, um 44,7 Prozent in die Höhe geschnellt, ein extremer Anstieg im Vergleich zu den 4,3 Prozent von März 2021.

Unternehmen in ganz Europa sehen sich nun unvorstellbar hohen Kosten gegenüber, die die Produktion zu unterbrechen und Fabriken zu schließen drohen, während die Kaufkraft der Haushalte in Rekordgeschwindigkeit sinkt.

Da Moskau keine Anzeichen macht, seinen Krieg zu beenden, macht sich in der EU zunehmend Unsicherheit breit über die unmittelbare Zukunft der Staatengemeinschaft. Steigende Preise und eingeschränkte Lieferketten schüren die Angst vor Stagnation und einem plötzlichen Ende des Aufschwungs, nachdem man gerade aus dem Coronavirus-Tal herauszukommen scheint.

"Europa tritt jetzt in eine schwierige Phase ein. Kurzfristig werden wir mit einer höheren Inflation und einem langsameren Wachstum konfrontiert sein. Es besteht große Unsicherheit darüber, wie groß diese Auswirkungen sein werden und wie lange sie anhalten werden", sagte die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, in der vergangenen Woche.

"Je länger der Krieg andauert, desto größer dürften die Kosten sein"

Die derzeitigen Voraussetzungen setzen die EU-Organe sowie die nationalen Regierungen unter enormen Druck, schnelle und greifbare Lösungen für Arbeitnehmer und Unternehmen gleichermaßen zu liefern.

Spanien hat vor kurzem ein Soforthilfepaket verabschiedet, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine abzufedern. Die Maßnahme sieht vor, 16 Milliarden Euro für öffentliche Gelder bereitzustellen.

Das südeuropäische Land wurde von der monatelangen Energiekrise mit am stärksten getroffen, die Inflation erreichte im März 9,8 Prozent. Die sich verschlimmernde Situation veranlasste die Transportbranche zu einem 20 Tage dauernden Streik, der dazu führte, dass vielen Supermärkten die Lebensmittel ausgingen und Fabriken Nachschub-Probleme bekamen.

Doch auch wenn die politischen Entscheidungsträger eilig Hilfsmaßnahmen anbieten, werden durch die dramatische Entwicklung des Krieges die Rufe nach härteren Sanktionen gegen Moskau lauter. Neue Berichte über wahllose Tötungen in Butscha, einem Vorort nordwestlich von Kiew, lassen die Stimmen eines Embargos auf russische Energie wieder lauter werden – was drastische Konsequenzen für die Wirtschaft der EU bedeuten würde.

Deutschland, das stark von russischer Energie abhängig ist, gehört zu den Ländern, die einen solchen Schritt (noch) ablehnen – zu groß ist die Angst vor den Folgen für die heimische Industrie. Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sagte gegenüber Euronews, dass die deutsche Industrie das Risiko sieht, dass Unternehmen aufgrund der Energiepreise oder eines russischen Exportstopps für Energierohstoffe in existenzielle Schwierigkeiten geraten könnten. "Schon jetzt sind einige Unternehmen mit hohem Energieverbrauch gezwungen, ihre Produktion aufgrund der exorbitanten Gas- und Stromkosten zu drosseln."

Europas Wirtschafts-Motor steht nun vor einem "erheblichen" Risiko einer Rezession, warnte kürzlich der Wirtschaftsrat der Regierung. Die Gruppe senkte ihre Wachstumsprognose für 2022 von 4,6 Prozent auf 1,8 Prozent und stellte fest, dass das Niveau von vor der Pandemie nicht vor dem dritten Quartal des Jahres erreicht werden wird.

In Litauen, dem EU-Land mit der höchsten Inflationsrate (15,5 Prozent im März), kämpfen die Unternehmen gegen den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit an. Denn Rohstoffe aus der Ukraine, Russland und Belarus werden knapper, und Alternativen aus anderen Ländern verursachen zusätzliche Kosten.

"Der Einmarsch Russlands in die Ukraine wird das ohnehin schon lodernde Feuer der Inflation weiter anfachen. Dieses Feuer könnte das gesamte Wirtschaftswachstum Litauens im Jahr 2022 vernichten", erklärte Vidmantas Janulevičius, Präsident des Litauischen Industriellenverbands (LPK), gegenüber Euronews.

Der lange Schatten der Stagflation

Die Entwicklung der letzten Monate hat unweigerlich das gefürchtete Schreckgespenst der Stagflation aufkommen lassen, einer Phase, die durch wirtschaftliche Stagnation, hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist.

Der Begriff Stagflation wurde in den 1970er Jahren geprägt, als die Erdöl produzierenden Länder nach dem Jom-Kippur-Krieg ein Erdölembargo ausriefen und einen Anstieg der Produktionskosten verursachten. Die Krise führte zu einem "Ölschock", der eine steigende Inflation mit einem wirtschaftlichen Niedergang verband.

Fünfzig Jahre später droht eine neue Energiekrise die Stagflation wieder aufleben zu lassen, wenn auch nur vorübergehend. "Das ist ein Albtraum, denn man hat ein negatives Wachstum und gleichzeitig eine hohe Inflation. Man sollte also die Zinssätze erhöhen, um die hohe Inflation zu bekämpfen, die Geldpolitik jedoch sehr locker halten, weil es der Wirtschaft schlecht geht", sagte Peter Vanden Houte, Chefökonom bei ING Belgien, gegenüber Euronews.

"Vorerst werden die Energiepreise wegen der unsicheren Versorgung aus Russland recht hoch bleiben. Es gibt eine Art 'Kriegsprämie' sowohl beim Erdgas- als auch beim Ölpreis.“

Es wird erwartet, dass die EZB ihr Programm der quantitativen Lockerung aus der Pandemie-Ära im Sommer beenden und eine erste Zinserhöhung im vierten Quartal dieses Jahres beschließen wird, obwohl die jüngsten Wirtschaftsdaten den Zeitplan beschleunigen könnten.

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"Die kommenden Zahlen deuten nicht auf ein wesentliches Stagflationsrisiko hin", sagte Präsidentin Lagarde in ihren Ausführungen vor der Veröffentlichung der Inflationsdaten für März. "Das Wachstum in der Eurozone könnte in einem ernsten Szenario aufgrund des Krieges im Jahr 2022 nur 2,3 Prozent betragen", fügte sie hinzu. Das ist fast die Hälfte der Wachstumsrate von 4 Prozent, die die Europäische Kommission Anfang Februar veröffentlicht hatte.

Erschwerend für die Verbraucher kommt hinzu, dass die Inflation durch eine drohende Nahrungsmittelkrise auf globaler Ebene in die Höhe getrieben werden dürfte. Die Ukraine und Russland gelten als die Kornkammern der Welt und produzieren rund 30 Prozent der Nahrungsmittel wie etwa Weizen und Mais.

In der vergangenen Woche erklärte David Beasley, der Leiter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, vor dem Sicherheitsrat, dass der Konflikt in der Ukraine eine weitere Katastrophe hervorrufen und die schlimmste globale Nahrungsmittelkrise seit dem Zweiten Weltkrieg auslösen könnte.

In Brüssel haben EU-Beamte versucht, den Bürgern zu versichern, dass die Versorgung mit Lebensmitteln gewährleistet ist, dass aber mittelfristige Maßnahmen erforderlich sind, um Engpässe zu vermeiden. Die Inflationsdaten für März zeigen, dass die Preise für Lebensmittel, Alkohol und Tabak auf Jahresbasis um 5 Prozent gestiegen sind, gegenüber 4,2 Prozent im Februar. Unverarbeitete Lebensmittel stiegen um 7,8 Prozent, was auf saisonale Faktoren und höhere Kosten für Transport und Düngemittel zurückzuführen ist.

Die Lebensmittelkrise, die Energiekrise, die Unterbrechung der Versorgungsketten und all die anderen potenziellen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs lassen einen langen, beschwerlichen Weg für die europäische Wirtschaft erahnen, auf dem die hohe Inflation nicht mehr nur ein vorübergehendes Problem ist, wie viele vor der Invasion erwartet hatten, sondern zu einer langfristigen Herausforderung wird.

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"Wir müssen auch berücksichtigen, dass wir jetzt, da die Preise für Energie und Lebensmittel hoch sind, einige Zweitrundeneffekte haben werden. Am Ende des Tages könnte sich das auch auf andere Preise auswirken. Hohe Energiepreise werden auch andere Waren und Dienstleistungen teurer machen", warnt Vanden Houte, der den Krieg gegen die Ukraine zuvor als einen, verglichen mit der Coronakrise, noch extremeren „game-changer“ bezeichnete.

"Alles in allem kann man sagen, dass der Rückgang der Inflation ein sehr langsamer Prozess sein wird. Wir werden wahrscheinlich bis zur zweiten Hälfte des Jahres 2023 warten müssen, bevor wir wieder von normaleren Inflationsraten sprechen können."

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