Neun von zehn ukrainischen Kriegsgefangenen werden laut dem ukrainischen Generalstaatsanwalt Andriy Kostin körperlich und moralisch gefoltert. Viele werden hingerichtet, bevor sie überhaupt in Gefangenschaft landen.
Körperliche und seelische Folter, sexuelle Gewalt, rechtswidrige Verurteilung und brutale Hinrichtung – ukrainische Kriegsgefangene erleiden in russischer Gefangenschaft erhebliche Torturen.
Laut dem ukrainischen Generalstaatsanwalt Andriy Kostin gaben bis zu 90 % aller zurückgekehrten Kriegsgefangenen an, in russischen Gefängnissen gefoltert worden zu sein. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen die dritte Genfer Konvention, die Moskau unterschrieben hatte.
Dennoch sei Russland "entschlossen, die Regeln des Krieges zu ignorieren", so Kostin.
Die dritte Genfer Konvention – einer von insgesamt vier Verträgen – beinhaltet spezifische Regeln für die Behandlung von Kriegsgefangenen. Demnach müssen Kriegsgefangene menschlich behandelt, angemessen untergebracht und ausreichend mit Nahrung, Kleidung und medizinischer Versorgung versorgt werden.
Humanitäre Aktivitäten, einschließlich die des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) und anderer unparteiischer humanitärer Organisationen, die zum Schutz und zur Befreiung von Kriegsgefangenen initiiert werden, dürfen nicht behindert werden.
Das IKRK hat nach eigenen Angaben bis dato fast 3.500 Kriegsgefangene in der Ukraine und in Russland besucht, aber, so heißt es auch, das IKRK habe "bis heute nicht zu allen Kriegsgefangenen uneingeschränkten Zugang".
Ukrainische Soldaten, die aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt sind, und die Familien derer, die noch in russischen Gefängnissen sind, sagen, dass sie keinen Kontakt zu den Gefangenen haben und keine Informationen bekommen. Das heißt, dass sie nicht einmal wissen, ob sie noch am Leben sind.
Die einzige Möglichkeit, Informationen über ukrainische Kriegsgefangene in Russland zu bekommen, bestehe darin, auf den Austausch von Kriegsgefangenen zu warten – wenn ein Soldat nach Hause zurückkehrt und möglicherweise Informationen über die in Russland Verbliebenen hat, sagten sie gegenüber Euronews.
Serhii Rotchuk, Offizier der Asow-Brigade, Kampfsanitäter und Verteidiger von Mariupol, verbrachte ein Jahr in russischer Gefangenschaft, wo er Folter, Misshandlungen sowie körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt war.
Gegenüber Euronews sagte er, er habe gesehen, dass sich seine Kameraden in russischer Gefangenschaft in einem gesundheitlich und seelisch schlechten Zustand befanden.
"Fast alle von ihnen haben eindeutig irgendwelche gesundheitlichen Probleme. Sie werden unter ziemlich schwierigen Bedingungen und ohne angemessene medizinische Unterstützung festgehalten", sagte Rotchuk.
"Wenn sie Medikamente brauchen oder bestimmte Krankheiten haben, werden sie unter ziemlich schwierigen Bedingungen festgehalten und sind ständig Folter, Schikanen, physischer oder moralischer Gewalt ausgesetzt."
Warten auf die Heimkehr von Kriegsgefangenen
Yevheniia Synelnyk hat seit zwei Jahren nichts mehr von ihrem Bruder Artem gehört. Er gehört zu den Verteidigern von Mariupol, die mit ihrer erbitterten Verteidigung des Stahlwerks Azovstal während der dreimonatigen Belagerung zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands wurde.
Das letzte, was sie hörte, war, dass ihr Bruder in ein Gefängnis in Taganrog, einer Stadt in der russischen Region Rostow, verlegt worden war, wo die Bedingungen für die Gefangenen entsetzlich sein sollen.
Sie erfuhr das von anderen Kriegsgefangenen, die Artem während seiner Gefangenschaft kennengelernt hatten und die zu denen gehörten, die im Zuge des Austauschs von Kriegsgefangenenen in die Ukraine zurückgekehrt waren.
Yevheniia ist auch Vertreterin der "Vereinigung der Familien der Verteidiger von Azovstal", die im Juni 2022 gegründet wurde, kurz nachdem sich rund 2500 ukrainische Soldaten auf Befehl von Präsident Selenskyj während der Belagerung des Stahlwerks Azovstal im Mai desselben Jahres an Russland ergeben hatten.
Die Sprecherin der Vereinigung, Marianna Khomeriki, erklärte gegenüber Euronews, dass die internationalen Organisationen nicht genug unternehmen würden. Die einzige Hoffnung der Familien bestehe darin, dass die ukrainischen Streitkräfte russische Soldaten gefangen nehmen und "den Austauschfonds durch die Gefangennahme der Besatzer auffüllen".
"Wir können diesen Fonds nutzen, um das Leben und die Gesundheit unserer Soldaten zu retten, die von den Russen gefangen genommen wurden", erklärte sie.
Khomeriki merkte an, dass die russische Führung "im Allgemeinen nicht will, dass ihre Leute zurückkommen".
Moskau zögert insbesondere, die Verteidiger von Mariupol auszutauschen. Sie wurden nur ausnahmsweise in den jüngsten Austausch von Kriegsgefangenen gegen die Soldaten des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow einbezogen, die seit Beginn des Angriffs auf Kursk in Gefangenschaft waren.
Hinrichtung in Kursk: Ein Zeichen für einen breiteren Plan?
Unterdessen haben russische Streitkräfte erst vergangenen Donnerstag neun ukrainische Kriegsgefangene in der Nähe des Dorfes Seleni Schljach in der Region Kursk hingerichtet, wie ukrainische Quellen berichten.
Die in den USA ansässige Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) analysierte die Exekution und erklärte: "Es deutet darauf hin, dass die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kriegsgefangenen entwaffnet, aufgereiht, entkleidet und erschossen haben – ein klarer Hinweis auf den vorsätzlichen Charakter der Exekutionen".
Der ISW beobachtete in letzter Zeit, dass Moskauer Truppen vermehrt ukrainische Kriegsgefangene im gesamten Kriegsgebiet hinrichten und fügt hinzu, dass russische Befehlshaber diese Exekutionen wahrscheinlich billigen, ermutigen oder direkt anordnen.
Rotchuk sagt, das russische Militär mache daraus kein Geheimnis. "Sie sprachen direkt darüber, dass sie den Befehl hatten, Gefangene entweder zu fangen oder sich nicht weiter mit ihnen abzugeben. Das ist fast ein direktes Zitat des Vertreters der Streitkräfte der Russischen Föderation", erklärte er.
"Die russische Propaganda zielt darauf ab, Hass gegen die Ukrainer zu schüren. Es ist staatliche Politik, alles zu zerstören, was nicht russisch ist. Und wenn jemand nicht will, wenn etwas nicht russisch sein will, oder jemand nicht russisch sein will, nicht zu Russland gehören will, dann muss er sterben."
Asow-Brigade – Opfer der Propaganda
Insbesondere die Asow-Brigade wurde von dieser Propaganda ins Visier genommen.
Nestor Barchuk, Rechtsberater der Brigade, weist darauf hin, dass die Asow-Brigade zehn Jahre lang wegen angeblicher Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen keine westlichen Waffen und keine westliche Ausbildung erhalten hatte. Das habe das Potenzial der Einheit stark eingeschränkt, sagt er.
Im Juni hoben die USA das Verbot mit der Begründung auf, bei einer Überprüfung seien keine Beweise für grobe Menschenrechtsverletzungen gefunden worden.
"Wer weiß, wenn es dieses Verbot nicht zehn Jahre lang gegeben hätte, wäre die Schlacht um Mariupol vielleicht anders verlaufen, und vielleicht würde die Landkarte des Krieges jetzt anders aussehen", sagte Barchuk gegenüber Euronews.
Geändert hat das die Politik Moskaus gegenüber ukrainischen Kriegsgefangenen und insbesondere den Verteidigern von Mariupol nicht. Rund 900 Asow-Soldaten sind noch immer in russischer Gefangenschaft, und etwa 100 von ihnen wurden zu Haftstrafen verurteilt, laut russischer Staatsanwaltschaft wegen "Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung".
Für Barchuk ist das ein klares Signal, dass die Ukraine für die Befreiung ihrer inhaftierten Männer und Frauen kämpfen muss.
"Die einzige Möglichkeit für die Ukraine, alle ihre Verteidiger nach Hause zu holen, besteht darin, den Krieg zu gewinnen", sagt er.