Sarajevo - die am längsten belagerte Stadt

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Sarajevo – die Stadt, die die längste Belagerung im 20. Jahrhundert zu erdulden hatte. Über den genauen Beginn wird in den Quellen gestritten.
Die einen nennen die Nacht von 4. zum 5. April 1992 als jenen Moment, in dem die mehr als 1.400 Tage andauernde Leidsenszeit für die Einwohner der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina begann.
An dieser Brücke wird des ersten Opfers eines Heckenschützen am 6. April 1992 gedacht.
Das englische Wort “sniper” sollte zum grausamen Symbol für die Leiden der Zivilbevölkerung dieser Stadt werden. Was folgte, war der Kampf der serbisch dominierten Reste des eben zerbrechenden kommunistischen Vielvölkerstaates Jugoslawien um die Vormacht. Auch um die Vormacht in Bosnien-Herzegowina, bisher eine der sechs jugoslawischen Teilrepubliken. Zum Ende des Jahres 1995 kam auf Druck der internationalen Staatengemeinschaft das Dayton-Friedensabkommen zustande, das formal den Bosnienkrieg beendete. Seither geht der Streit mit nicht-militärischen Mitteln weiter.
Der Staat Bosnien-Herzegowina ist ein unregierbares Gebilde aus drei sich befehdenden ethnischen Gruppen. Wobei die bosnischen Serben de facto längst ihre “Republick Srpska” abgespalten haben. Ihr Präsident Milorad Dodik hat wiederholt die staatliche Existenz von Bosnien und Herzegowina in Frage gestellt. Und er leugnet das von serbischen Milizen verübte Massakers in Srebrenica.
Heute wird der Anteil der Muslime an der Einwohnerschaft von Sarajevo mit 80% angegeben.
Der oberste Geistliche, der Große Mufti von Bosnien-Herzegowina, Mustafa Ceric, kritisiert, dass zuwenig für eine Versöhnung der Volksgruppen getan werde. Er sagt: ” Nach dem Dayton-Abkommen waren wir die Region in der Welt, die die größten Fortschritte machte. Aber wenn wir einen Schritt vorwärts machen, kommen sofort Kräfte, die uns wieder zurück stoßen. Wir müssen alle Fragen klären, vor allem jene zum Völkermord von 1992 und 1993. Wie kann man jemandem vergeben, ohne dass die Täter sich zu ihren Taten bekennen?“
20 Jahre nach Beginn der Belagerung von Sarajevo sind Stadt und Staat aussichtslos gespalten.
Niemand mag sagen, ob das einst multiethnische Sarajevo jemals wieder aufleben wird.

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Wir sprechen mit dem bosnischen Journalisten und Filmemacher Refik Hodzic, der heute in New York lebt. Er hat jahrelang sowohl dem UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien als auch der Justiz seines Heimatlandes geholfen und führt diese Arbeit auf internationaler Ebene weiter.
Sie kritisieren den höchsten islamischen Geistlichen von Bosnien und Herzegowina, den “Großen Mufti” Mustafa Ceric. Wofür?

Refic Hodic
Im heute Bosnien besteht ein großer Bedarf an gründlicher und aufrichtiger Bewältigung der Vergangenheit. Wunden müssen heilen in allen Gemeinschaften nach dem großen Leid, das wir vor 20 Jahren erfahren haben. Mustafa Ceric und Milorad Dodik sind heute die führenden Stimmungsmacher in Bosnien, die beiden einflußreichsten Personen. Sie sind verantwortlich für die Aufarbeitung in den ethnischen Gemeinschaften.
Sie tun aber das Gegenteil. Sie arbeiten in Richtung Teilung, heizen wieder Ängste und Hass an.

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Wer kann auf die beiden Druck ausüben? Die internationale Gemeinschaft oder die Menschen in Bosnien selbst? Warum läuft das so?

Refic Hodic
Die internationale Gemeinschaft hat leider doppelte Standards eingeführt, und Leuten wie Milorad Dodik und Mustafa Ceric erlaubt, weiter ihre Rhetorik der Trennung und des Hasses zu betreiben, während es gleichzeitig heisst, Bosnien sei auf dem Weg zur Europäischen Union. Das betrachte ich als Lügen. Die internationale Gemeinschaft steht in der Verantwortung, die Standards der EU durchzusetzen. Wenn Angela Merkel zum Beispiel den Holocaust leugnen würde, wäre sie politisch erledigt. Aber dass Milorad Dodik den Völkermord von Srebrenica leugnet, übergeht die internationale Gemeinschaft mit taktischer Ignoranz.

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Sie kritisieren die politischen und religiösen Führer und auch die internationale Gemeinschaft. Aber was ist mit den Bosniern selber? Sind die auch schuld an der fehlenden Aussöhnung?

Refic Hodic
Dazu muss ich sagen, dass die Leute in Bosnien keine schlechten Menschen sind. Wir sind kein Volk, das nicht vergeben kann, das kein Mitgefühl hat für andere. In der Stadt, aus der ich komme, hat es so viel Gewalt gegeben, Konzentrationslager, mehr als 3.000 Menschen wurden ermordet. Und heute gibt es wieder gemischte Ehen. Menschen sind wieder Freunde, ohne nach Religion oder ethnischer Zugehörigkeit zu fragen – allerdings trotz jener Atmosphäre, die Führer wie Milorad Dodik und Mustafa Ceric schaffen.

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Manche sagen, nach 20 Jahren seien die Wunden noch zu frisch für eine Versöhnung.

Refic Hodic
Ich muss sagen, die Zeit ist reif. Mit der Aufarbeitung hätten wir gestern schon anfangen müssen. Wir brauchen eine aufrichtige, offene, mitfühlende Debatte über das, was war. Tun wir das nicht, wird die nächste Generation mit diesen Geschichten über Trennendes, über Hass aufwachsen und die historischen Trennungen nicht überwinden können. Dann haben wir keine Hoffnung für die neue Generation.

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