Ägyptens Islamisten wollen nicht lockerlassen - wie weit geht der Protest?

Ägyptens Islamisten wollen nicht lockerlassen - wie weit geht der Protest?
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
WERBUNG

Wochenlang haben sie gegen die Entmachtung von Präsident Mursi demonstriert, Tag und Nacht in ihren Protestlagern ausgeharrt. Die Anhänger der Muslimbruderschaft – nicht jeder auch zwangsläufig ein Anhänger von Mursi – bestehen auf dem Prinzip: Dass der rechtmäßig gewählte Präsident wieder in sein Amt eingesetzt wird. Mohammed Mursi sitzt derweil, seit seiner Entmachtung am 3. Juli, an unbekanntem Ort unter Arrest. Die Haft wurde gerade um einen Monat verlängert.

Der Vertreter der Mulimbruderschaft war der erste frei und demokratisch gewählte Präsident in Ägypten. Bald nach Amtsantritt entließ Mursi den damaligen Chef des mächtigen Militärrats. Mit seinem Machtkampf mit der Justiz und neuen Verfassungsdekreten, die seine Kompetenzen ausdehnten, ging er dann aber einem Teil der Ägypter zu weit.

Am Mittwoch wurde in Ägypten der Ausnahmezustand verhängt, aber unserem Korrespondenten zufolge, hat die Muslimbruderschaft keine Absicht in dem Konflikt nachzugeben. Wir befragten den Politologen Hasni Abibi, einen Nahostexperten am CERMAM, dem Forschungszentrum für die Arabische Welt und den Mittelmeerraum in Genf, wie es denn jetzt weitergehen könnte.

Hasni Abibi:
“Die Vorzeichen sind unglücklicherweise sehr beunruhigend, auf Seiten der Armee ebenso wie seitens der Muslimbrüder und ihrer Anhänger. Mit der Verhängung der Ausgangssperre aber auch mit dem Erklären des Belagerungszustands hat sich die Armee die Befugnis verschafft, öffentliche und private Freiheiten einzuschränken. Sie kann jetzt jeden Moment die Verhaftungen fortsetzen. Seitens der Islamisten ist zu erwarten, dass sie die Zahl der Spannungspunkte erhöhen wird, und nicht nur durch Sit-ins in den größten Städten.”

euronews:
“Viele Ägypter darunter auch Intellektuelle unterstützen die Armee, wie sie es schon bei der ersten Revolution getan haben. Das ist eine seltsame Verbindung zwischen den Menschen und der mächtigsten Institution des Landes. Aber wie weit kann die Armee gehen, ohne diese Unterstützung zu verlieren?”

Hasni Abidi:
“Wir dürfen nicht vergessen, dass Ägypten eine Volksarmee hat und nicht eine Berufsarmee wie die Türkei. Die Armee durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft, vor allem die Wirtschaft. Für gewöhnliche Ägypter ist sie der einzige Schutz gegen eine von vielen befürchtete Machtübernahme der Muslimbruderschaft als einziger politischer Kraft.”

euronews:
“Heißt das, die Armee könnte bis zum äußersten gehen?”

Hasni Abibi:
“Leider ist eine gewisse autoritäre Tendenz zu befürchten. Der Armee ist gestern ein Gewaltstreich gelungen, wenn auch die Konsequenzen furchtbar sind für ihr Image. Die Reaktionen aus dem Ausland sind dabei natürlich nicht hilfreich. Wenn es der Armee aber gelingt, Sicherheit und Stabilität wiederherzustellen, wenn sie etwas mehr Ordnung schaffen kann, dann wird sie meiner Meinung nach bald wieder soviel Sympathie bekommen wie zuvor.Außerdem wird sie aber auch in der Lage sein, der ägyptischen Bevölkerung, die so gespalten ist wie nie zuvor, etwas Zuversicht zu geben.”

euonews:
“Wie könnte die Strategie der Islamisten aussehen? Die Situation erinnert in gewisser Weise ja an Algerien in den 90er Jahren. Gibt es die Gefahr der Radikalisierung oder gar des Terrorismus?”

Hasni Abidi:
“Ja, es gibt Ähnlichkeiten zwischen Ägypten und Algerien. Die Annulierung der Wahlen im Januar 1992 trieb viele Islamisten in den Untergrund. Es kam zu einer Radikalisierung und es entstanden Bewegungen wie die GIA, die GSPC und so weiter. Ägypten hat unglücklicherweise bereits seine eigenen radikalen Gruppen. Gamaa al-Islamija und Islamischer Dschihad hatten den Kampf nach dem arabischen Frühling eigentlich verloren, weil die Islamisten durch Wahlen und nicht durch Waffengewalt an die Macht kamen. Aber die gestrigen Ereignisse und natürlich der urspüngliche Staatsstreich gegen Präsident Mursi werden diesen radikalen Gruppen nun leider wieder Aufwind geben. Ob sie zur Muslimbruderschaft gehören oder nicht, jetzt werden sie sagen, dass politische Partizipation eben nicht die Lösung ist und nur der bewaffnete Kampf in Frage kommt. “

euronews:
“Ägypten ist ein Schwergewicht in der arabischen Welt. Besteht die Gefahr, dass sich der Konflikt über seine Grenzen hinaus ausweitet?”

Hasni Abibi:
“Wenn die Islamisten weiter ihrer selbstmörderischen Logik folgen oder, wenn sie alles verloren haben, eine Politik der verbrannten Erde betreiben, wird das die Armee natürlich erschöpfen. Außerdem stößt sie an anderen Orten auf Widerstand, etwa auf der Sinaihalbinsel oder in anderen Städten. Dann gibt es das Problem des praktisch unkontrollierbaren Waffenschmuggels aus Libyen. Die Regierungsaufgaben werden die Armee zusätzlich belasten und aus diesem Grunde ist es unabdingbar, dass sie die Regierungsverantwortung so schnell wie möglich Zivilisten überträgt. Ich glaube, die internationale Gemeinschaft steht moralisch und politisch in der Pflicht, die Ägypter nicht allein ihrem Schicksal zu überlassen.”

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Proteste zum Besuch von US-Präsident Biden auf der COP27

Mursi: Miserable Haftbedingungen

Erdogan trauert um Ägyptens Ex-Präsident Mursi