"Wir dürfen Leute, die mitreden wollen, nicht als Populisten abtun"

"Wir dürfen Leute, die mitreden wollen, nicht als Populisten abtun"
Copyright 
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Griechenland ist noch lange nicht aus der Schuldenkrise heraus, aber EU-Beamte und -Minister halten ihm große Anstrengungen zugute.

Griechenland ist noch lange nicht aus der Schuldenkrise heraus, aber EU-Beamte und -Minister halten ihm große Anstrengungen zugute. Dies bedeutet unpopuläre, schmerzhafte Reformen, um Geld aus dem EU-Rettungsschirm zu bekommen. Die Mehrheit der Griechen wird nach eigener Aussage dieses Jahr keine Steuern zahlen können. Wann kommt Griechenland aus dem Tief heraus? Wir sprachen darüber mit dem griechischen Finanzminister Euklid Tsakalotos.

Rettungsprogramm verlangt Griechen vor allem an Anfang viel ab

Efi Koutsokosta, euronews:
“Es ist ein Jahr her, dass die griechische Regierung und Sie persönlich als Finanzminister dramatische Momente durchlebten, bevor Sie die Vereinbarung über ein weiteres Rettungspaket unterzeichneten und einen Grexit verhinderten. Ein Jahr danach: Sind Sie zufrieden, dass das Programm letztlich für Griechenland funktionierte?”

Euklid Tsakalotos, Griechenlands Finanzminister:
“Nun, es war ein sehr schwieriges Jahr. Wir hatten einen Fahrplan, wie wir aus der Krise herauskommen sollen. Dazu gehört, die Rekapitalisierung der Banken abzuschließen, um sie auf eine solidere Basis zu stellen. Dazu gehört der Abschluss der ersten Überprüfung und ein Schulden-Deal. Und ich denke, am 24. Mai hatten wir eine Entscheidung, die zum Abschluss der ersten Überprüfung führt und zur Auszahlung der nächsten Tranche, aber auch zu einer guten Einigung über die Schulden.”

Euklid Tsakalotos

  • Wirtschaftswissenschaftler, politisch links, griechischer Finanzminister
  • geboren 1960 in Rotterdam, Studium an den Universitäten Oxford und Sussex; Doktor der Wirtschaftswissenschaften
  • Professor an der Wirtschaftsuniversität Athen, Autor zahlreicher Bücher und Zeitungsartikel
  • Kapitalismus-Gegner, bezeichnet sich selbst als Marxist

euronews:
“Sie haben über einen Schuldenerlass gesprochen. Sind Sie zufrieden mit der jüngsten Entscheidung – denn Griechenland hat sehr schmerzhafte Reformen und Gesetze verabschiedet und natürlich dafür etwas erwartet. Aber am Ende ist das nicht so viel.”

Euklid Tsakalotos:
“Es ist eine wichtige Abmachung in folgendem Sinne: Zum ersten Mal wurde die ‘wenn nötig’-Klausel klar definiert. Bislang hatten wir Zusagen, dass die Eurogruppe bereit steht, wenn es nötig ist. Jetzt ist ‘wenn nötig’ beziffert: Es gibt die klare Linie, dass Griechenlands Bruttofinanzierungsbedarf nach 2018 über Jahre nicht mehr als 15 Prozent des BIP betragen wird. So werden alle Maßnahmen ergriffen werden, um diese objektive Bedingung zu erfüllen. Es ist keine Frage, dass der deutsche, spanische oder französische oder der griechische Finanzminister eines Morgens aufwacht und entscheidet, ob man etwas tun muss – es ist jetzt objektiv vorgegeben, was getan werden muss. Und das ist meiner Ansicht nach ein Riesenschritt nach vorn.”

euronews:
“Laut Umfrage der Athener Industrie- und Handelskammer werden 69 Prozent der Griechen in diesem Jahr keine Steuern zahlen können, und 89 Prozent fürchten, dass die jüngsten Steuererhöhungen zu noch tieferer Rezession führen werden. Warum haben Sie sich dafür entschieden?”

Euklid Tsakalotos:
“Da das Rettungspaket sehr frontlastig war, können die Griechen davon ausgehen, dass wir die Steuermaßnahmen abschließen und dann zu einer entwicklungsorientierteren Politik übergehen können. Diese wird unterstützt werden durch Anleihekäufe der EZB und durch die Rückkehr der Investoren. Viele Anstrengungen sind nötig – es ist noch nicht vorbei. Aber auch wenn die Leute pessimistisch sind, wie die Umfrage zeigt: Wir sind jetzt ganz unten. Hätten Sie mich im September gefragt, wann der schlimmste Moment für die griechische Regierung kommt, hätte ich gesagt, der Abschluss der ersten Überprüfung. Denn das Programm verlangt uns vor allem am Anfang viel ab. So ist es nicht überraschend, dass etliche jetzt so enttäuscht sind. Sie haben in gewisser Weise Recht. Die Krise hält ja seit fünf, sechs, sieben Jahren an.”

euronews:
“Ja, und Sie haben ihnen viel versprochen. Denken Sie, dass die Leute Ihnen immer noch glauben?”

Euklid Tsakalotos:
“Wir haben ihnen viel versprochen, sind Kompromisse eingegangen, aber wir haben die Vereinbarung auch den Wählern vorgelegt. Bei der Wahl im September wussten die Griechen zum ersten Mal, wofür sie stimmen. Wir haben nicht gesagt, hier habt ihr die Vereinbarung, aber hinterher ändern wir unsere Meinung. Die Vereinbarung mit ihren guten und schlechten Seiten war Teil unserer Wahlkampagne, und auf dieser Basis haben wir gewonnen.”

euronews:
“Wie fühlen Sie sich als linker Politiker, wenn sie diese Art von Politik unterstützen und umsetzen – also auch Privatisierung öffentlichen Guts?”

Euklid Tsakalotos:
“Als linker Minister muss man die Dinge trotzdem angehen. Im Sommer haben mir Leute gesagt, wir brauchen die Linke nicht, wenn sie nur taugt bei fünf Prozent Wachstum und fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Wenn wir den Menschen nicht nutzen bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit und keinerlei Wachstum, werden sie uns nach der wirtschaftlichen Erholung auch nicht wählen. Die Leute haben uns gewählt, weil sie wissen, dass wir dieses Programm so sozial verträglich wie möglich durchziehen. Das haben wir auch schon gezeigt bei der Reform des Rentensystems und bei der Reform der Einkommenssteuer.”

Lockerung des Kündigungsschutzes ist kein Allheilmittel

euronews:
“In Frankreich versucht die Regierung gerade, eine sehr unpopuläre Arbeitsmarktreform durchzusetzen, und die Leute gehen auf die Straße. Sind Sie auf Seiten der Menschen, die demonstrieren, oder auf Seiten der französischen Regierung, mit der sie auf gutem Fuß stehen?”

Euklid Tsakalotos:
“Mit dem Thema Arbeitsmarktreform müssen sich alle Länder herumschlagen. Ich bin nicht überzeugt, dass Europa deshalb in Schwierigkeiten steckt, weil der Arbeitsmarkt zu unflexibel ist. Es gab etliche Ansätze zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, ohne dass sich das groß auf die Beschäftigung auswirkte. In Griechenland drängt man uns auch, Entlassungen zu erleichtern. Aber wir wissen – und ich bin Ökonom – dass es tatsächlich keinen Beweis dafür gibt, dass man mit der Lockerung des Kündigungsschutzes die Arbeitslosigkeit senkt. Man bekommt denselben Beschäftigungsgrad, aber man erhöht die Unsicherheit der Arbeitnehmer.”

Brexit: Europa muss sich Gegnern sozialer präsentieren

euronews:
“Derzeit ist der mögliche EU-Ausstieg Großbritanniens auf dem Tisch. Die Briten werden in einem Referendum befragt – was Ihre Regierung den Griechen nicht bot. In der EU bleiben oder nicht, was wäre besser für Großbritannien, für die EU und für Griechenland?”

Euklid Tsakalotos:
“Ich bin sicher, dass es für Großbritannien, Europa und Griechenland besser ist, wenn die Mitgliedsstaaten in der EU bleiben. Bei einem Brexit wird es andere Zentrifugalkräfte geben. Und Zentrifugalkräfte gab es in den 1930er Jahren mit Währungskrieg und Nationalismus, mit dem widerwärtigen Ende, das wir alle kennen. Deshalb bin ich sehr besorgt. Es ist aber wichtig für die Europäer, die Lehre aus dem Ergebnis zu ziehen, wie auch immer es ausfällt. Wenn zum Beispiel die Befürworter für den Verbleib mit zwei bis drei Prozent gewinnen – das ist ein Alarmsignal. Und wenn Europa nicht reagiert und den gewöhnlichen Leuten versichert, dass es eine Tagesordnung gibt, auf der Löhne, Renten und Wohlfahrtsstaat stehen, dann werden wir solcherart Brexit-Episoden auch in Zukunft haben.”

euronews:
“Ihr Vorgänger, Herr Varoufakis, hat wiederholt gesagt, dass die Europäische Union und ihre Institutionen undemokratisch seien. Denken Sie auch so? Welche Erfahrung haben Sie gemacht?”

Euklid Tsakalotos:
“Ich denke, es steht außer Frage, ob die EU demokratisch ist. Ich glaube nicht, dass das in den vergangenen zehn Jahren unter Politikwissenschaftlern diskutiert wurde. Es ist absolut notwendig, dass wir Leute nicht als Populisten abtun, die sagen, ich möchte soviel wie möglich zu sagen haben in Dingen, die mein Leben betreffen. Wenn man diese Leute Populisten nennt, treibt man sie zu Le Pen, zu den Befürwortern des Brexit, zur Ultrarechten. Man muss den Leuten zuhören, Leuten, die sagen, ich möchte bei den Dingen, die mein Leben angehen, mitreden, und wenn Europa das nicht kann, werde ich zum Anti-Europäer.”

In einem Jahr wird alles besser sein

euronews:
“Wann wird Griechenland die Kurve bekommen, wann werden die Leute bemerken, dass sich etwas ändert, nicht nur die Zahlen, sondern auch die echte Wirtschaft, das Leben der Menschen?”

Euklid Tsakalotos:
“Ich denke, wir werden gescheitert sein, wenn Sie mich in einem Jahr wieder hierher bitten und die ersten Zeichen der Erholung nicht zu sehen sind. Sie können mich also gern in einem Jahr wieder einladen und die Frage noch einmal stellen! Aber ich hoffe, dass für die Menschen in einem Jahr die Entwicklungsaspekte unseres Programmes sichtbar sind, dass es wieder Wachstum gibt, Anleihekäufe – ich denke, es wird ganz anders sein.”

Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Kyriakos Mitsotakis: Die Teilnahme an den Europawahlen ist wichtig, um den Alltag mitzugestalten

Griechen streiten über Homo-Ehe: Kinderkriegen verboten, Adoptieren erlaubt

Kampf gegen Flammen auf griechischen Inseln: "Wir befinden uns im Krieg"