Arzt in Aleppo: Die Angst ist immer dabei

Arzt in Aleppo: Die Angst ist immer dabei
Von Euronews
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Ein syrischer Arzt, der in West-Aleppo arbeitet sprach mit euronews über seinen gefährlichen Alltag.

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Die Einwohner von Aleppo verlassen jeden Morgen ihre Häuser, ohne zu wissen, ob sie abends zurückkehren. Egal ob sie im vom Rebellen besetzten Osten der Stadt wohnen, der von Bomben fast völlig zerstört ist, oder im Westen der Stadt, wo es immer noch funktionierende Krankenhäuser gibt.

Unter der Bedingung anonym zu bleiben, stimmte ein syrischer Arzt zu, mit euronews-Reporterin Mária-Dominique Illés über seinen gefährlichen Alltag zu sprechen. Der Arzt, der in Frankreich studierte, arbeitet seit Langem in Aleppo. Laut seiner Aussage sind nicht nur die Bewohner von Ost-Aleppo in Gefahr. Der Westteil ist zwar von Angriffen der syrischen Armee und russischen Bombenangriffen verschont, aber den Raketen- und Artillerieangriffen
des sogenannten Islamischen Staates und der Al-Nusra-Front ausgesetzt, die in den östlichen Vierteln der Stadt positioniert sind.

euronews-Reporterin Mária-Dominique Illés:
“Fühlen Sie sich in Gefahr?”

Syrischer Arzt:
“Jeden Tag, wenn ich meine Wohnung verlasse, frage ich mich, ob ich nachts lebend nach Hause kommen werde. Gerade wurden durch Mörserangriffe verwundete Zivilisten eingeliefert. Einer von den beiden musste sofort operiert werden. Ich sage nicht, dass es keine verwundeten Zivilisten im Ostteil der Stadt gibt. Aber bei uns im westlichen Teil gibt es täglich genauso viele, Erwachsene, Kinder, Babys. Wir sind am Rande unserer Kräfte. Mehrere Kirchen und Schulen wurden bombardiert. Jeder, egal ob in der Schule, auf einem Markt, auf der Straße, in einem Geschäft kann von einer Bombe aus dem Ostteil getroffen werden. Es gibt tote Eltern und Freunde. Wir wollen einfach nur unser Leben leben. Wir sind des jahrelangen Krieges müde. Es ist die Hölle im östlichen Aleppo, aber hier ist es auch die Hölle. Wenn dort eine Person getötet wird, wird hier eine Person getötet.”

euronews:
“Funktionieren die humanitären Korridore, von denen für die Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten gesprochen wird, tatsächlich?”

Syrischer Arzt:
“Nein! Vor Kurzem versuchte ein verzweifelter Onkel einer Krankenschwester, mit der ich im Krankenhaus arbeite, mit seiner Frau und ihren beiden Kindern über einen humanitären Korridor die Stadt zu verlassen. Sie wurden sofort erschossen. Zivilisten werden als menschliche Schilde eingesetzt. Sobald man versucht, sich diesen Korridoren zu nähern, wird man getötet. Wir haben tagelang darauf gewartet, dass die Armee mit den Russen zwei humanitäre Korridore aufmacht, aber ich wiederhole, sobald jemand in die Nähe davon kommt, wird er von der Al-Nusra-Front getötet.”

euronews:
“Unter welchen Bedingungen arbeiten Sie im Westteil der Stadt?”

Syrischer Arzt:
“Aleppo wurde 2011 aufgrund des Krieges zweigeteilt. Wir behandeln Kriegsverletzungen, aber auch normale Krankheiten. Die Kriegsverletzten werden auch in privaten Krankenhäusern kostenlos behandelt und betreut. Alle Betriebe behandeln kostenlos, da Verletzte zum nächstgelegenen Krankenhaus gebracht werden. Wir behandeln viele Verletzungen, die durch Bomben, Gewehrwunden und Raketen verursacht werden, aber gleichermaßen behandeln wir übliche Beschwerden wie Bronchitis, Infarkt und Diarrhoe. Im Augenblick haben wir keine Nachschubprobleme für gängige Medikamente, aber wir haben Probleme mit unseren Elektrizität. Vor rund zwei Jahren haben Rebellen die Elektrizität in die Stadt gekappt. Wir arbeiten mit elektrischen Generatoren. Manchmal, wenn sie beschließen, die Wasserversorgung zu kappen, haben wir monatelang kein Wasser. Wasser ist Leben, und bisher hat die Armee es geschafft, immer Wasser fließen lassen.”

euronews:
“Warum bleiben Sie?”

Syrischer Arzt:
“Auch meine Freunde fragen mich, warum ich jeden Tag mein Leben aufs Spiel setze, aber ich bin Arzt. In diesem Beruf geht es um Menschen. Helfen ist unsere Aufgabe. Ich habe meine Aufgabe hier, ich habe Patienten hier, um die ich mich kümmern muss. Nach so vielen Jahren ist ein Wechsel nicht einfach und hier werde ich gebraucht. Geld ist nicht alles im Leben. Es gibt auch menschliche Größe und das Bedürfnis der Bevölkerung zu dienen.”

euronews:
“Der Krieg begann vor fünf Jahren, aber Sie kamen schon lange vorher in die Stadt, stimmt das?”

Syrischer Arzt:
“Ja, ich wollte hier ein Krankenhaus aufbauen und ich habe es geschafft. Ich arbeite mit 60 bis 70 Ärzten und Chirurgen in einer freundschaftlichen Atmosphäre. In meinem Team gibt es Kurden, Muslime, Christen und Atheisten. Vor dem Krieg lebten fünf Millionen Menschen in Aleppo. Viele von ihnen flüchteten, wenn auch widerwillig. Wir waren hier glücklich, unser Leben war gut. Syrien ist ein schönes Land mit einem guten Klima. Die Bevölkerung ist offen und gastfreundlich. Unser Zusammenleben basiert auf gegenseitigem Respekt. Man wird nicht gefragt, ob man Muslim oder Christ ist.”

euronews:
“Wie reagieren ihre Patienten auf einer psychischen Ebene?”

Syrischer Arzt:
Wir beobachten leider, dass es immer mehr posttraumatische Störungen gibt. Kinder und Erwachsene leiden psychisch, sie leben in Angst und Schrecken. Mit ein paar Freunden und Kollegen denken wir darüber nach, wie wir den unter Traumata leidenden Zivilisten helfen können. Körperliches Leiden ist oft sichtbar, eine gebrochene Seele nicht. Auch wenn diese Leiden unsichtbar erscheinen, muss man sie behandeln. Wir müssen Frieden in dieses Land bringen.”

euronews:
“Wie sieht Ihrer Meinung nach eine Lösung aus?”

Syrischer Arzt:
“Wir müssen die Ursachen dieser Angriffe bekämpfen, diejenigen finden, die aus Afghanistan, aus Tschetschenien oder aus Saudi-Arabien kamen, einer Gehirnwäsche unterzogen wurden und nun freudig in den Tod gehen. Wir müssen diese Menschen loswerden und mit denen arbeiten, die bereit sind, eine Lösung zu finden. Es ist leider so, dass eine aufgezwungene Kultur von Fanatikern, diese Kultur der Intoleranz im Konflikt endet und dieser Konflikt in einer Kultur des Todes mündet. Sie verhängen Gesetze, sie verbieten Frauen, ihre Häuser zu verlassen, sie zwingen sie, den Schleier zu tragen, sie behandeln sie wie Sklaven. Leute wie diejenigen, die das Bataclan in der französischen Hauptstadt angegriffen haben, gibt es hier zu Hunderttausenden. Warum sind diese Menschen hier keine Kriminellen, wenn sie es in Europa sind? Wir können nicht mit diesen Leuten leben.

euronews:
“Haben Sie Angst?”

Syrischer Arzt:
“Ja, ich habe Angst. Wenn der IS seine Kämpfer sendet, die Bomben werfen und drohen alle zu töten, die nicht so denken wie sie, ja, das macht mir Angst. Der Armee ist es mit viel Mut gelungen, Aleppo zu verteidigen, aber wenn man diese Fanatiker sieht, die gekommen sind, um zu sterben, dann macht das einem Angst, denn sie haben Angst vor nichts.”

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euronews:
“Haben Sie Hoffnung?”

Syrischer Arzt:
“Dieser Fanatismus kommt nach Europa. Ich glaube, Sie werden nicht glücklich sein, wenn sich dieser Fanatismus in Ihren Städten ausbreitet. Ich habe Hoffnung, weil man beispielsweise in Frankreich oder in Belgien nicht den Rechten oder der Linken oder den Flamen oder Wallonen zustimmen müssen, aber das bedeutet nicht, dass Sie anfangen werden, einander zu töten. Die Demokratie lebt in Europa. Nach dem fanatischen Terrorismus müssen alle Formen der Demokratie beseitigt werden. Meiner Meinung nach müssen wir uns darüber klar werden, dass sich diese sehr gefährliche Kultur auf der ganzen Welt ausbreitet. Wir müssen die Heuchelei entlarven. Hier, egal ob in Ost- oder West-Aleppo, haben die Menschen das Recht zu leben, aber für geopolitische Interessen töten wir ein ganzes Volk, ein ganzes Land, wir vernichten die Stadt Aleppo, die auf 10.000 Jahre Geschichte zurückblickt.”

Info:

- West-Aleppo hat zwei Millionen Einwohner. – Es gibt fünf öffentliche Krankenhäuser, davon sind zwei Uni-Krankenhäuser. In allen fünf Häusern ist die Behandlung kostenlos. – Darüber hinaus gibt es 45 Kliniken und private Krankenhäuser unterschiedlicher Größe. Die größten sieben oder acht Betriebe haben eine Kapazität von 50-80 Betten. – Ost-Aleppo hat rund 200.000 Einwohner.

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