UNHCR in Libyen: Ex-Mitarbeiter prangert "Korruption & Inkompetenz" an

Migranten in Khoms
Migranten in Khoms Copyright Sara Creta
Von Lillo Montalto MonellaSara Creta
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Ein ehemaliger Mitarbeiter der Vereinten Nationen spricht von schweren Missständen bei der Arbeit in Libyen.

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Ein ehemaliger Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Libyen hat die Organisation als die "schlimmste in der Region" bezeichnet. Er spricht von Korruption, Misswirtschaft und Inkompetenz im Umgang mit Zehntausenden von gefährdeten Flüchtlingen und Asylbewerbern.

Er wollte sich gegenüber Euronews nur anonym äußern und zeichnet das Bild einer überforderten Organisation. Asylsuchende blieben ohne Obdach, sie erhielten keine medizinische Versorgung und befänden sich in einem rechtlichen Schwebezustand in einem zunehmend gewalttätigen und instabilen Libyen.

Durch Bestechung ins Gefangenenlager

Migranten und Flüchtlinge vor Ort erzählten Euronews, dass sie Leute bestochen haben, um in die berüchtigten Gefangenenlager in Libyen zu gelangen - in der Hoffnung, ihre Asylanträge zu beschleunigen. Dort sind sie der Ausbeutung durch Milizen ausgesetzt, die diese Zentren kontrollieren.

Der ehemalige Mitarbeiter war mehrere Jahre beim UNHCR in Libyen tätig. Er spricht von einer chaotischen Infrastruktur, von Asylbewerbern, die unter falschen Nationalitäten registriert waren, und anderen, die monatelang warten mussten, um über den Status ihrer Anträge informiert zu werden.

Eine interne Untersuchung ergab, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk Laptops zu überhöhten Preisen gekauft hat (acht Laptops für knapp 50.000 Dollar) und zwei Reisebüros bezahlte, um Flugtickets im Wert von fast 200.000 Dollar zu kaufen. Aus dem Bericht geht zudem hervor, dass "für die Reisedienstleistungen keine Ausschreibung durchgeführt wurde" (Abschnitt D des OIOS-Berichts 2019/007).

Medizinische Versorgung

Euronews hat mit Dutzenden von Asylbewerbern vor Ort in Libyen gesprochen, darunter auch mit einem Mann, der an Lungentuberkulose leidet. Asyas, 30, wurde von einem medizinischen Partner der Vereinten Nationen, dem International Medical Corps (IMC), aus dem Krankenhaus entlassen und lebte dann in einem privaten Haus in Tripolis.

"Ich warte nur darauf zu sterben", sagte er uns.

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Asyas ist 30 Jahre alt. Er wurde im Juli in Tripolis im Krankenhaus behandelt. Er ist heute auf sich allein gestellt.Sara Creta

Eine Quelle aus dem medizinischen Umfeld in Tripolis sagte, dass der Krankenhausaufenthalt von Migranten und Flüchtlingen - insbesondere in Fällen mit Tuberkulose - teuer ist. Einigen öffentlichen Krankenhäusern fehlt die Ausrüstung, um die Fälle richtig zu diagnostizieren.

Daher müssten die NGOs ein Gleichgewicht finden zwischen der Zahlung sehr hoher Rechnungen in privaten Krankenhäusern oder der frühzeitigen Entlassung von Patienten.

Der IMC wollte sich gegenüber Euronews nicht zu dem Fall äußern.

Migranten fühlen sich im Stich gelassen

Auf den Straßen fühlen sich die Menschen von den internationalen Institutionen im Stich gelassen. Asylbewerber in städtischen Gebieten glauben, dass die UN-Agentur ihnen helfen wird, eine Unterkunft zu finden, doch das UNHCR ist dazu nicht verpflichtet.

In einem Fall lebte eine Gruppe sudanesischer Flüchtlinge - darunter werdende Mütter und Neugeborene - seit mehreren Monaten in einem verlassenen Lagerhaus in der Gegend von Tripolis, bekannt als al-Riyadiya.

Die Menschen wurden inzwischen aus ihrem Lager vertrieben und schlafen nun vor dem Gemeinschafts-Tageszentrum des UNHCR. Sie hoffen, in sicherere Wohnungen gebracht zu werden.

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Familien haben sich in einem verlassenen Fabrikgebäude niedergelassen, es ist nur 400 Meter vom Sitz des UNHCR entfernt.Sara Creta

Ein Sprecher des UNHCR, Charlie Yaxley, sagte zu den Missständen, die Euronews aufgedeckt hat: "Das Leben vieler Flüchtlinge ist extrem schwierig, und was wir tun können, ist manchmal sehr begrenzt."

Libyen im Zentrum der Krise

Libyen ist der Knotenpunkt für viele Boote, die versuchen, das Mittelmeer nach Italien zu überqueren.

Die Gesetzlosigkeit in Libyen seit dem Krieg von 2011 nach dem Sturz von Gaddafi hat den Aufstieg zahlreicher Milizen mit begünstigt. Sie alle wollen am lukrativen Migrantenhandel mitverdienen.

Geld verdient wird durch den Betrieb von Haftanstalten, die offiziell von der Regierung organisiert, aber tatsächlich von Milizen kontrolliert werden. In Libyen inhaftierte Asylsuchende werden in den Zentren festgehalten und sind dort oft Missbrauch und Gewalt ausgesetzt.

Die Bedingungen in den Haftanstalten sind so schlecht geworden, dass das UNHCR sich zunächst nur um die Flüchtlinge und Migranten kümmert, die in diesen Einrichtungen leben. Sie gehören zu den am stärksten gefährdeten Personen. Aus anonymen Quellen hat Euronews erfahren, dass Menschen mittlerweile in ihrer Verzweiflung Geld bezahlen, um in die Haftanstalten aufgenommen zu werden.

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Im Dezember begannen Migranten und Flüchtlinge, die in Khoms Suq al-Khamis festgehalten wurden, einen Hungerstreik, um das UNHCR davon zu überzeugen, das Zentrum zu besuchen und sie zu registrieren.

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Kurz nach der Geburt entlassen: Mouna hat keine Hilfe für ihr Neugeborenes: "Nichts vom UNHCR"Sara Creta

Geld bezahlt, um inhaftiert zu werden

Amina kommt aus Somalia und ist in der Einrichtung Triq al-Sikka in Tripolis. Euronews gegenüber sagte sie, dass sie Geld gezahlt hat, um "in Haft genommen zu werden und eine bessere Chance zu haben, registriert und evakuiert zu werden".

Der ehemalige UN-Mitarbeiter erläuterte einen Fall, in dem sich eine Frau, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war, für die Rückkehr in eine Haftanstalt entschied, um ihre Chancen auf eine Evakuierung zu erhöhen.

In der Haftanstalt Abu Salim sitzen zahlreiche eritreische Flüchtlinge in Haft mit der gleichen Hoffnung.

Und sogar um in die Gathering and Departure Facility (GDF), die Versammlungs- und Abfahrtseinrichtung des UNHCR, in Tripolis zu gelangen, bezahlen zahlreiche Flüchtlinge Schmiergelder. Das Zentrum wird vom libyschen Innenministerium, dem UNHCR und ihrem Partner LibAid verwaltet. Hier werden normalerweise Flüchtlinge aufgenommen, deren Überstellung in einen anderen Staat bereits bestätigt ist.

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Das GDF in Tripolis unweit einer der großen HaftanstaltenSara Creta

Im GDF sagte ein Flüchtling, der auf die Evakuierung wartete, zu Euronews: "Die Wachen, die am Tor arbeiten, brachten somalische und eritreische Frauen herein; sie zahlten jeweils 2000 Dinar (ca. 430€). Wir haben dies dem UNHCR mitgeteilt, und sie haben uns gebeten, es niemandem zu sagen".

Mit diesen Anschuldigungen konfrontiert, sagte Yaxley: "Das UNHCR nimmt alle Hinweise auf Fehlverhalten sehr ernst. Jeder Behauptung, die sich nach einer Untersuchung als gültig erweist, folgt ein Nulltoleranzansatz. Wir empfehlen allen Opfern dringend, sich direkt an das Büro des Generalinspekteurs zu wenden.".

Mangelnde Informationen

Doch nicht nur Bestechung ist ein Problem, sagte der ehemalige Mitarbeiter, das Schicksal einzelner Asylbewerber und ihrer Familien in Libyen sei weitgehend Glücksache.

"Es liegt in der Hand des Büros", sagte die Quelle.

"Anfang 2019 registrierte der UNHCR eine Frau aus der Elfenbeinküste (die nicht zu den neun Nationalitäten gehört, die laut Cochetel auf der Priorit¨ätenliste stehen), nur weil es ein Empfehlungsschreiben von einem höheren Rang gab."

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"Manchmal kann man Monate warten, um einen Fall zu registrieren, weil einem niemand zustimmen wird; es gibt Fälle von Günstlingswirtschaft und auch einfach Faulheit. Die Registrierungsprozesse sind unklar."

Viele Flüchtlinge und Asylbewerber in Tripolis beschwerten sich bei Euronews über den Mangel an Informationen, die ihnen über ihren persönlichen Fall zur Verfügung stehen. Der ehemalige Mitarbeiter sagte, dass dies Teil einer Strategie bei der Agentur ist, um nicht eine enorme Menge an Administration auskommen zu müssen.

"Es ist eine allgemeine Einstellung, Flüchtlingen keine Antworten zu geben, um weitere Anfragen zu vermeiden. In Tripolis bleiben Flüchtlinge oder Asylbewerber meist ahnungslos. Sie wissen nicht, ob sie akzeptiert oder abgelehnt werden."

"Sie erhalten nur sehr wenige Informationen über ihre Akte und meist keine Informationen zum Fortschritt ihres Antrags, falls sie Berufung einlegen müssen, wenn ihr Antrag abgelehnt wurde."

Keine Berufung gegen Ablehnung möglich

Die Quelle sagte, dass es seit September 2017 kein System gibt, um gegen die Ablehnung ihres Flüchtlingsstatus Berufung einzulegen. Asylbewerber wüssten nicht, dass sie das Recht haben, die Entscheidung innerhalb von 30 Tagen anzufechten.

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Eine Familie aus Nigeria, die jetzt in der Haftanstalt Az-Zāwiyah ist, beschrieb ihre Erfahrungen.

"Das erste Mal, dass wir es geschafft haben, das UNHCR zu treffen, war im Juli 2018 - heimlich im Zentrum von Tarik Al Matar. Seitdem weigert sich die Organisation, uns zu registrieren. Wenn wir nach unserem Antrag fragen vertrösten sie uns immer: Das nächste Mal, das nächste Mal...", sagte der Vater.

"Manchmal gehen sie uns völlig aus dem Weg. Einmal hat uns das UNHCR sogar geraten, nach Hause zurückzukehren. Mein jüngstes Mädchen wurde in Haft geboren, und die Älteren leiden unter Traumata, weil sie so viele schreckliche Dinge erlebt haben."

Und die Situation in Libyen dürfte sich nur noch weiter verschärfen, da ein Engpass in einigen Staaten wie Niger den Evakuierungsplan aus Libyen verzögert.

Derzeit leben 1.174 Evakuierte aus Libyen in Niger, darunter 192 evakuierte unbegleitete Minderjährige, so das UNHCR. Da der Notfalltransitmechanismus (ETM) voll ausgelastet ist, stehen viele Fälle noch vor einer Entscheidung.

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"Die nigerianische Regierung hat im Rahmen des vom UNHCR in Niamey mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union betriebenen Notfalltransitmechanismus großzügig zusätzlichen Platz für bis zu 1.500 Flüchtlinge angeboten", schreibt Cochetel im Mai 2018.

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Brief eines Migranten aus Khoms: "Die Aufseher sprechen drei Sprachen: Arabisch, Englisch, Schlagen"Sara Creta

Personen unter falschen Namen oder falscher Nationalität registriert

Der ehemaligen Mitarbeiters erhebt weitere Vorwürfe gegen das Flüchtlingshilfswerk. Es käme vor, dass Personen unter falschen Nationalitäten registriert wurden.

"Das UNHCR registrierte Tschadier als Sudanesen oder Äthiopier als Eritreer. Die Mitarbeiter des UNHCR in Libyen waren nicht qualifiziert, die Situation richtig zu beurteilen", sagte die Quelle.

Yaxley sagte diesbezüglich: "Die Auswahl der Mitarbeiter des UNHCR erfolgt nach den gleichen Verfahren wie bei allen anderen Operationen weltweit, da gibt es Personalvorschriften. In Libyen sind über 100 nationale Mitarbeiter tätig. Das UNHCR arbeitet nicht mit externen Auftragnehmern zusammen."

Die (oben genannte) Begrenzung auf neun bestimmte Nationalitäten wurde eingeführt, um die Zahlen niedrig zu halten, sagte der ehemalige Mitarbeiter.

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Der libysche Unterstaatssekretär im Innenministerium für Migration, Mohammed Al-Shibani, erklärte, dass die libysche Regierung sich im Gegenteil nicht weigere, andere Nationalitäten zu registrieren. "Die Nationalitäten werden von den Vereinten Nationen und nicht von uns bestimmt", sagte er.

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Mohammed Al-ShibaniSara Creta

Überzogene Ausgaben

In Bezug auf die zu teuer bezahlte Ausstattung wies der ehemalige Mitarbeiter Euronews auf das interne UN-Audit der Operationen in Libyen hin. Das UNHCR habe mit zwölf Partnern zusammengearbeitet und Aufträge im Wert von 4,7 Millionen US-Dollar bzw. 4,0 Millionen US-Dollar in den Jahren 2017 und 2018 vergeben.

Doch es wurde "keine Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt". Stattdessen entschied man sich für die Direktbeschaffung "trotz der erheblichen Unterschiede zwischen offiziellen und marktüblichen Wechselkursen".

In den Jahren 2017 und 2018 wurde die "Beschaffung von mehr als 100.000 US-Dollar an drei Partner vergeben, ohne dass sie vom zuständigen Dienst der Zentrale vorqualifiziert wurden". Fehlende Beschaffungspläne führten zu "unnötigen und höheren" Kosten.

So fand der Bericht beispielsweise eine Transaktion für acht Laptops mit einem Gesamtaufwand von 47.067 US-Dollar (entspricht einem Stückpreis pro Laptop von 5.883 US-Dollar).

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"Die Untersuchung konnte nicht nachweisen, dass sie ihre Ressourcen effektiv und effizient eingesetzt hat, um die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen zu decken. Der Mangel an Berichterstattung hat auch das Reputationsrisiko des UNHCR erhöht", so das Dokument der Betriebsprüfung.

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