"Schande" oder "Demokratie" - 4 Pressestimmen zu Thüringen

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Was sagen die Kommentatoren in den Zeitungen zur Wahl des FDP-Politikers Kemmerich mit den Stimmen der AfD?

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Nach dem politischen Erdbeben von Erfurt am Mittwoch hat es spontane Proteste in Berlin und anderswo gegeben - mit Parolen wie "Nazis raus" und "Wer hat uns verraten - Liberaldemokraten" gingen Tausende auf die Straße. 

In der Presse gibt es verschiedene Analysen. Die "Neue Zürcher Zeitung" stellt sich gegen den Aufschrei über die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen. Die SZ dagegen meint, die Wahl mit den Stimmen der AfD sei "eine Schande".

Die NZZ aus der Schweiz positioniert sich unter dem Titel "Das ist Demokratie" gegen die moralische Entrüstung über die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit den Stimmen der AfD. Das sei Demokratie meint das Blatt aus der Schweiz. Benedict Neff kommentiert: "Allen, die sich jetzt um die Demokratie sorgen, möchte man sagen: Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein liberaler und bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen. Im Gegenteil, es ist geradezu irritierend, wenn man sieht, wie sich bürgerliche Politiker von der Union und der FDP genieren und sich öffentlich von ihren Thüringer Kollegen distanzieren.

Anders läge der Fall, wenn Kemmerich nun mit dem Thüringer AfD-Chef eine Regierung anstreben würde. Aber er hat sich von Björn Höcke und dessen Partei eindeutig und unmissverständlich distanziert. Er peilt in Thüringen eine Minderheitsregierung mit der CDU an. Dass er sich von der AfD wählen liess, um seine politischen Ziele zu verfolgen, ist kein Makel. Abgesehen davon liegt es auch nicht an ihm zu sagen, wen die AfD zu wählen hat. Beunruhigend wäre es eher, wenn bürgerliche Politiker in Deutschland nicht mehr kandidieren würden, aus Angst, von der AfD gewählt zu werden."

"Kemmerichs Wahl ist eine Schande" meint Detlef Esslinger in der "Süddeutschen Zeitung".

"Es ist eine Schande, dass Kemmerich in Kenntnis des Ergebnisses diese Wahl angenommen hat. Im dritten Wahlgang ist in Thüringen gewählt, "wer die meisten Stimmen erhält". Der Landtag besteht aus 90 Abgeordneten. Hätte - nur als Beispiel - der AfD-Kandidat in diesem dritten Wahlgang 22 Stimmen erhalten, Ramelow 20, Kemmerich 26; der Rest Enthaltungen: Es wäre eine zwar kuriose, aber seriöse Wahl gewesen. Weil aber tatsächlich der AfD-Kandidat null Stimmen bekam und es auch lediglich eine Enthaltung gab, konnte Thomas Kemmerich nur durch ein Zusammenwirken der bürgerlichen Parteien CDU und FDP mit einer Partei ins Amt kommen, an deren Spitze in Thüringen ein Nazi steht. Noch mal zur Erinnerung: Höcke ist der Mann, der Vokabeln wie "Denkmal der Schande", "tausendjährige Zukunft", "wohltemperierte Grausamkeit", "vollständiger Sieg der AfD" et cetera in den Diskurs platziert. Dieser Mann nutzt die Instrumente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, um sie zu bekämpfen."

Im "Spiegel" ONLINE schreibt Martin Knobbe unter dem Titel "Die Machtbesoffenen":

"Um wieder zum Reden zu finden, müssen CDU und FDP, deren Landesverbände diese fatale Wahl zu verantworten haben, genau analysieren, wie es dazu kam. Gab es andere Motive außer pure Machtbesoffenheit? Gab es Absprachen? Und, die vielleicht wichtigste Frage: Passen Verbände, die sich vom rechtsextremen Flügel einer Partei bedenkenlos unterstützen lassen, noch zu Parteien, die sich in ihren Verlautbarungen glasklar von Rechtsextremisten absetzen? Diese Frage muss sich die CDU auch in ihrem Verhältnis zur Werteunion stellen, die im völligen Gegensatz zur Parteiführung den Coup bejubelte. Ist das noch als Vielfalt innerhalb der Partei zu tolerieren oder doch eher als falsche Toleranz gegenüber AfD-Sympathisanten, die sich als CDUler tarnen?"

In der FAZ versucht Jasper von Altenbockum unter der Schlagzeile "In einem Boot mit der AfD" aufzuzeigen, welche Szenarien sich jetzt auftun:

"Wie es weitergehen soll im Thüringer Landtag, steht erst einmal in den Sternen: Ist das der Dammbruch? Will Kemmerich auf Dauer mit der AfD zusammenarbeiten? Das wird er tun müssen, weil eine rot-rot-grüne Duldung wenig wahrscheinlich ist. Angewiesen ist Kemmerich auf jeden Fall auf die CDU, die dann bekäme, was sie wollte, nämlich die Regierungsbeteiligung – allerdings als Seniorpartner eines Ministerpräsidenten, der eine Fraktion hinter sich hat, die nicht einmal ein Viertel so groß ist wie die der CDU. Mike Mohring, der Partei- und Fraktionsvorsitzende, wäre der geheime Ministerpräsident einer solchen Regierung.

Für die AfD wiederum heißt das alles: Sie muss nun beweisen, dass sie mehr kann als Höcke-Töne von sich zu geben. Sie wird sich diese Chance sicher nicht entgehen lassen wollen. Die rot-rot-grüne Opposition wiederum steht vor der Frage, wie ernst es gemeint war, als sie die CDU davor warnte, die „Brandmauer“ (Robert Habeck) zu durchbrechen und das Schicksal des Landes in die Hände der AfD zu legen. Es liegt auch an ihr, ob es dazu kommt."

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