Neonazis in den USA: neue Mitglieder durch Coronavirus

Rechtsextreme in den USA
Rechtsextreme in den USA Copyright Michael Dwyer/Copyright 2020 The Associated Press. All rights reserved
Von Thomas Seymat mit AP, AFP
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Neue Mitglieder und Sichtbarkeit: US-Neonazis wussten, die Proteste gegen die Coronavirus-Maßnahmen geschickt für sich zu nutzen.

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In den Vereinigten Staaten hat die Coronavirus-Pandemie einen fruchtbaren Boden für einen anderen Virustypen geschaffen: für Rechtsextremismus. Seit Wochen beteiligen sich regierungsfeindliche Milizen, rechtsradikale Gruppen und Verschwörungstheoretiker an Online-Protesten und Demonstrationen gegen die Kontaktbeschränkungen. Eine Welle, die sich von Michigan bis Texas und von Kalifornien bis Massachusetts weiter ausbreitet. 

Die Bewegung fußt auf Opportunismus und Militanz und hat nach nach Ansicht der von Euronews befragten Experten mehrere Ziele: breitere Akzeptanz, erhöhte Sichtbarkeit und die Rekrutierung neuer Mitglieder.

Für viele regierungsfeindliche Extremisten, insbesondere Milizen, boten die Beschränkungen und Vorschriften zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ungeahnte Chancen.
Mark Pitcavage
Forscher am Centre on Extremism der NGO Anti-Defamation League

Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten, eine Kandidatur, die rechtsextremen Bewegungen "nachdrücklich unterstützten", hatte ihre Aufgabe paradoxerweise erschwert: Wie "sein Niveau an Wut und Aktivität aufrechthalten, wenn jemand, den man unterstützt, tatsächlich an der Spitze der Regierung steht?"

Doch "die Pandemie war eine Chance, weil die Gouverneure der Bundesstaaten und Kommunen, aber nicht die Bundesregierung für die Beschränkungen verantwortlich gemacht wurden". "Regierungsfeindliche Extremisten waren in der Lage, den Zorn" gegen diese regionalen Behörden - "und vor allem, aber nicht ausschließlich, gegen Demokraten" - zu lenken, nicht aber gegen Trump.

Der Zeitpunkt ist umso günstiger, als diese Milizen laut Mark Pitcavage seit langem vor Pandemien warnen: von H1N1 über SARS bis hin zu Ebola. Sie sind seit vielen Jahren davon überzeugt, dass die Bundesregierung eine echte oder vorgetäuschte Pandemie als Vorwand nehmen könnte, um das Kriegsrecht auszurufen oder die Verfassung außer Kraft zu setzen. 

Es werden Änderungen am zweiten Zusatzartikel befürchtet, der das Tragen von Waffen erlaubt.

Viele Mitglieder dieser rechtsextremen Gruppen erscheinen zu den Protesten mit halbautomatischen Gewehren.

MEGAN JELINGER/AFP or licensors
Neonazis in den USAMEGAN JELINGER/AFP or licensors

Die Pandemie wurde zur willkommenen Gelegenheit. Der Forscher der Anti-Defamation League Mark Pitcavage erklärt:

Die Gruppen waren bereits im Februar und März aktiv, um gegen die Pandemie-Maßnahmen Stimmung zu machen, und organisierten im April einige der ersten öffentlichen Demonstrationen in Ohio und Michigan.

Andere gemäßigtere Gruppierungen begannen, für ein Ende der Beschränkungen zu demonstrieren. Den Protesten schlossen sich die regierungsfeindlichen Extremisten an.

Propaganda und Rekrutierung

Für die radikalsten Gruppen "bieten Demonstrationen gegen Kontaktbeschränkungen eine Gelegenheit, neue Mitglieder zu gewinnen und ihre Botschaften zu verbreiten. Die Medien greifen oft die extremsten Banner und Botschaften auf. Es gibt also einen klaren Vorteil für Propagandanachrichten", erklärt Heidi Beirich, Mitbegründerin des Globalen Projekts gegen Hass und Extremismus. 

Beirich ist seit mehr als 20 Jahren eine genaue Beobachterin der US-amerikanischen rechtsextremen Szene. Sie sagt, da die Mehrheit der Demonstranten nicht offen nationalistisch sei - "viele scheinen aus dem Umfeld der früheren Tea-Party zu stammen" - habe die Teilnahme an einer Demonstration eine assimilierende Wirkung auf die extremsten Gruppen.

"Sie denken, "meine Gruppierung kann gar nicht so schlecht sein, wenn normale Leute dabei sind". So machen Demonstration die extremen Ideen salonfähig". 

Ein umständliches Bündnis: 

Viele der Demonstrationen richten sich gegen demokratische Gouverneure, und ein großer Teil der US-amerikanischen Rechtsextremen unterstützt Präsident Trump. Diese radikalen Gruppen verbünden sich mit den "Pro-Trump"-Kräften, die konservativ und eher dem Mainstream zuzurechnen sind.
Heidi Beirich
Globales Projekt gegen Hass und Extremismus
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Bewaffnete NeonazisMichael Dwyer/Copyright 2020 The Associated Press. All rights reserved

Für Kenneth Stern, den Direktor des Bard Center for the Study of Hate, "bieten sich diese Versammlungen geradezu an als Orte für weiße Rassisten, die sichtbar sein und ihre Botschaft verbreiten wollen", um "einfache, konspirative und hasserfüllte Antworten auf die Sorgen und Nöte der Menschen zu geben".

Ganz unabhängig von Trumps Zielen war es für diese Gruppen wie eine willkommene Einladung, an den Protesten teilzunehmen.
Kenneth Stern
Direktor, Bard Center for the Study of Hate

Sie fühlen sich demnach _"von einem Präsidenten ermutigt, der wie sie von Verschwörungen spricht, der unterstützende Worte für diejenigen hatte, die mit Nazi-Symbolen in Charlottesville marschierten, und "Befreit Staaten" twitterte!" _

Die "Boogaloo"-Bewegung

Die "Boogaloo"-Bewegung zählt sicherlich zu radikalsten Zweigen. Sie stammt aus einer Internet-Kultur und fordert nichts weniger als einen zweiten Bürgerkrieg. Der Name stammt eigentlich aus einem Film aus den 80er Jahren, "Breakin' 2: Electric Boogaloo", der im Laufe der Zeit zum Synonym für eine schlechte Fortsetzung wurde, bevor er von den Rechtsextremen online aufgegriffen wurde.

"Sie sind viel expliziter und spezifischer in ihren Bedrohungen als das, was ich seit langer Zeit gesehen habe", sagte J.J. MacNab, ein Forscher des Extremismusprogramms der George Washington University, gegenüber AP. Laut MacNab geht ihre Rhetorik über Diskussionen zur Bekämpfung der Covid-19 - Maßnahmen hinaus, die viele Protestierende als "Tyrannei" bezeichnen. Sie fordern, FBI-Agenten und Polizisten zu töten, "um den Beginn des Bürgerkriegs zu beschleunigen".

Strafverfolgungsbeamte sagen, dass sie versuchte Bombenanschläge und Schießereien von Personen mit Verbindungen zu der Bewegung vereitelt haben. 

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Im März wurde in Missouri ein Mann mit neonazistischen Verbindungen erschossen, als FBI-Agenten versuchten, ihn zu verhaften. Timothy Wilson, 36, plante für den Tag, an dem die Eindämmungsmaßnahmen gegen Covid-19 in Kraft treten sollten, einen Bombenanschlag auf ein Krankenhaus im Gebiet von Kansas City. Wilson hatte einem verdeckten FBI-Agenten gesagt, sein Ziel sei es, "eine Revolution auszulösen" und beschrieb seine Pläne als "Operation Boogaloo", so die eidesstattliche Erklärung des Agenten.

Im Netz sehr aktiv

Ein Bericht des Tech Transparency Projects, das Technologieunternehmen überwacht, identifizierte am 22. April 125 "Boogaloo"-Gruppen auf Facebook, die in den vergangenen 30 Tagen Zehntausende von Mitgliedern gewinnen konnten. Das Projekt hob die mit dem neuen Coronavirus verbundene Gesundheitskrise als einen Schlüsselfaktor für dieses rasche Wachstum hervor.

"Einige Boogaloo-Anhänger betrachten Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus und die Richtlinien von Bundesstaaten und Städten als eine Verletzung ihrer Rechte und versuchen, die öffentliche Frustration über diese Maßnahmen znutzen, um neue Anhänger für ihre Sache zu gewinnen", heißt es im Projektbericht. Facebook hat seither die Verwendung von "Boogaloo" und verwandten Begriffen verboten, "wenn sie von Erklärungen und Bildern begleitet werden, die bewaffnete Gewalt darstellen", teilte das Unternehmen in einer Erklärung mit.

"Während Neonazis und weiße Rassisten immer noch auf alternativen Plattformen wie Telegram aktiv sind, wurde ihre Fähigkeit, sich öffentlich zu organisieren und in den wichtigsten sozialen Netzwerken zu rekrutieren, in den letzten drei Jahren eingeschränkt", sagt Brian Friedberg, leitender Forscher am Technology and Social Change Research Project am Shorenstein Center von Harvard. Er zitiert insbesondere journalistische Untersuchungen, die Aktionen antifaschistischer Aktivisten und die daraus resultierenden Kontolöschungen, die "zu Veränderungen der Nutzungsbedingungen von Sites wie Youtube, Twitter und Facebook geführt haben".

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