"Wut-Bürger, die das System hassen": Das steckt hinter den Krawallen in den Niederlanden

Randalierer werfen Steine auf Polizisten in Haarlem, Niederlande, 25.01.2021
Randalierer werfen Steine auf Polizisten in Haarlem, Niederlande, 25.01.2021 Copyright AP
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Von David Walsh
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Das steckt hinter den Krawallen in den Niederlanden

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Mehrere Nächte hintereinander krachte es zwischen Demonstrant:innen und Sicherheitskräften in zahlreichen niederländischen Städten. Sie wurden als die schlimmsten Gewaltausbrüche in den Niederlanden seit mehr als vier Jahrzehnten beschrieben. Und sie gewinnen an Momentum in einem Land, das versucht, die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen.

Seit dem Inkrafttreten einer nächtlichen Ausgangssperre, die das niederländische Parlament zuvor beschlossen hatte und die am vergangenen Samstag begann, haben gewalttätige Proteste Amsterdam und Eindhoven erschüttert, bevor sie in den darauffolgenden Tagen auf Rotterdam, Den Haag, Den Bosch, Gouda, Amersfoort, Haarlem und weitere Städte des Landes übergriffen.

Die überwiegend jungen Menschen, die sich über Social-Media-Apps organisierten, zogen durch die Straßen der Städte, verwüsteten und plünderten Geschäfte, bewarfen die Polizei mit Steinen und Feuerwerkskörpern und setzten in einigen Städten sogar Autos in Brand. In der Stadt Urk wurde eine Coronavirus-Testanlage in Brand gesteckt. In Enschede wurden Steine auf ein Krankenhaus geworfen.

Oberflächlich betrachtet scheint es keine vereinende Motivation hinter den Krawallen zu geben, unter den Protestierenden befanden sich Rechtsextreme, Hooligans, Coronaleugner:innen und anderen, politisch motivierten Demonstrant:innen. Doch wie finden sie zusammen?

"Es gibt eine Gemeinsamkeit und das ist das Misstrauen in die Regierung, Hass gegen die Regierung, und noch weiter gefasst, Hass und Misstrauen gegenüber allen möglichen gesellschaftlichen Institutionen", erklärt Dr. Jelle van Buuren, außerordentliche Professorin an der Universität Leiden und Expertin für Sicherheitsfragen und Verschwörungstheorien, gegenüber Euronews.

"Dieses Misstrauen, dieser Hass, wird mit der Zeit durch eine Vielzahl von Missständen, Wut, Enttäuschungen und genährt. Und deshalb ist es so schwer, dieses Phänomen zu fassen. Es ist wirklich vielschichtig."

Der Umgang mit der Pandemie

Von den Randalierern wurden nicht wenige von Rotterdams Bürgermeister Ahmed Aboutaleb als "schamlose Diebe" gebrandmarkt. Andere protestierten in erster Linie gegen den Umgang des Landes mit der Coronavirus-Pandemie.

Nach dem Rücktritt der Regierung Anfang des Monats war die skandalgeschüttelte Regierung von Ministerpräsident Mark Rutte - die nun als Übergangsregierung fungiert - gezwungen, die Zustimmung des Parlaments für neue pandemiebezogene Einschränkungen einzuholen.

Angesichts der heftigen Kritik stimmten viele der Oppositionsparteien mit der Regierungskoalition überein, eine Ausgangssperre von 21 Uhr bis 4.30 Uhr zu verhängen.

Zu denjenigen, die den Schritt in Frage stellten, gehörte der umstrittene Geert Wilders, Vorsitzender der größten Oppositionspartei, der rechtsextremen Partei für die Freiheit (PVV). Er behauptete, die Ausgangssperre sei "ein Zeichen der völligen Ohnmacht und Panik" der Regierung.

Bis vor einigen Monaten hatte Ruttes liberal geführte Regierung einen lockeren Umgang mit der Pandemie gewählt und sich - im Gegensatz zu europäischen Nachbarländern - gegen Anordnungen wie das Tragen von Masken, Geschäftsschließungen und Ausgangssperren gewehrt.

Im Oktober gab es einen deutlichen Richtungswechsel: Bars und Restaurants mussten schließen, im Dezember folgten Schulen und nicht lebensnotwendige Geschäfte. Die Ausgangssperre - die erste seit dem 2. Weltkrieg - war nur die jüngste Maßnahme in einer Reihe von Restriktionen, die der Pandemie Einhalt gebieten sollten, aber auch eine sich vertiefende Unzufriedenheit mit der Regierung nach sich zogen.

In Umfragen befürwortet dennoch eine Mehrheit der niederländischen Bevölkerung das Vorgehen der Regierung. Allerdings heißt das nicht, dass sie mit der generellen Richtung, die das Land einschlägt, einverstanden ist.

"Es gibt mehr Menschen, die die Corona-Politik mehr oder weniger akzeptieren; nicht weil sie sie mögen, sondern weil sie denken, dass sie einfach notwendig ist", erklärte van Buuren. "Aber sie sind auch sehr kritisch gegenüber bestimmten Aspekten der niederländischen Politik der letzten 10, 15, 20 Jahre."

Tiefere gesellschaftliche Probleme

Laut van Buuren waren schon viele gesellschaftliche Probleme am Schwelen, schon lange, bevor sie in der Gewalt eskalierten, die diese Woche in den Niederlanden zu beobachten war.

Vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse und die Zunahme flexibler Arbeitsverträge haben junge Menschen demoralisiert. Wohnraum ist für viele immer teurer geworden. Auch die Unzufriedenheit mit der EU hat spürbar zugenommen, ebenso wie die Kritik an der Einwanderungspolitik des Landes, dessen multikulturelle Gesellschaft auf den Prüfstand gestellt wird.

"Daneben gibt es zum Beispiel eine Gruppe von Leuten, die eher aus der spirituellen New-Age-Bewegung kommen und schon immer sehr kritisch waren, wenn es um Big Pharma und auch um Impfungen ging", erklärt van Buuren. "Sie springen also auch auf diesen Zug auf, aber aus einer anderen Perspektive."

Ist diese gewalttätige Aufwallung mit ihren Anti-Establishment-, Coronaleugner:innen - und Impfgegner:innen ein Beispiel für das Überschwappen Trumpscher Ideen aus Übersee oder handelt es sich eher um einen innenpolitischen Trend?

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"Ich denke, es ist eine innenpolitische Sache, weil dieser Unterton von verärgerten Bürgern, wütenden Bürgern, Menschen, die gegen das System wettern, schon seit langem Teil der niederländischen Gesellschaft ist", sagt van Buuren. "Eines der ersten Anzeichen gab es beispielsweise im Vorfeld der Wahlen, bei denen Pim Fortuyn ermordet wurde."

Der rechte Politiker Fortuyn wurde neun Tage vor der Parlamentswahl 2002 vor einem Radiosender in Hilversum, Nordholland, erschossen. Sein Mörder, Volkert van der Graaf, war ein linker Aktivist, der bei seinem Prozess sagte, er habe gegen das gehandelt, was er als Fortuyns Schuldzuweisung an Muslime für die gesellschaftlichen Missstände in den Niederlanden bezeichnete.

Das Attentat schockierte das Land und zeigte tiefe Brüche in der niederländischen Gesellschaft auf, die lange vor sich hin geköchelt hatten.

"Für viele Menschen war es ziemlich unerwartet. Man glaubte, dass wir in so etwas wie einem Fast-Paradies lebten, aber plötzlich schien es eine große Gruppe in der Gesellschaft zu geben, die eine völlig andere Perspektive darauf eröffnete, wie es der Gesellschaft ging", sagte van Buuren.

Peter Dejong/AP 2016
Geert Wilders bereitet sich darauf vor, vor den Richtern des Hochsicherheitsgerichts in der Nähe des Flughafens Schiphol in Amsterdam zu sprechen, 23.11.2016Peter Dejong/AP 2016

"Dieser Unterton in der Gesellschaft, manchmal ist er deutlicher, manchmal ist er sichtbarer. Manchmal wird er politischer, weil es eine politische Vertretung gibt; das war Pim Fortuyn vor 20 Jahren, später kam Wilders dazu."

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Wilders war eine prominente Größe in der niederländischen politischen Landschaft, dessen deutliche Haltung zu Einwanderung und Islam ihn vor Gericht brachte und ihn dazu zwang, aufgrund ständiger Drohungen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen zu leben.

Das soll nicht heißen, dass das, was sich derzeit in den Niederlanden manifestiert, isoliert geschieht.

"Es ist eine nationale Sache, aber es passt in einen breiteren internationalen Trend, den man in den Vereinigten Staaten, aber auch in anderen europäischen Ländern sieht", erklärt van Buuren. "Die extreme Rechte, Rechtspopulismus, Verschwörungstheorien, Misstrauen gegen die liberale Elite, Misstrauen gegen die Medien; das ist auch ein internationales Phänomen."

Anhaltende Unterstützung für Rutte

Nach einem Skandal um Kinderbeihilfen musste die Regierung Rutte am 15. Januar zurücktreten, nur wenige Monate vor den nächsten Parlamentswahlen am 17. März.

Nach den jüngsten Umfragen bleibt seine Partei VVD die beliebteste. Rutte könnte also durchaus in der kommenden Regierung wieder die Zügel übernehmen.

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Die Politik der Liberalisierung der Wirtschaft und die langfristigen Kürzungen der Sozialprogramme, die von den aufeinanderfolgenden Regierungen in den letzten zwei Jahrzehnten verfolgt wurden, haben die bestehende Kluft in der niederländischen Gesellschaft jedoch nur vergrößert.

John Thys, Pool Photo via AP, File
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte trifft zu einem EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates in Brüssel ein, 19.07.2020John Thys, Pool Photo via AP, File

"All diese Entwicklungen sind in den Niederlanden sichtbar, manchmal existiert etwas, aber man sieht und erlebt es nicht, weil es keine Stimme hat", behauptet van Buuren.

"Alles, was normal war, wie sich zu treffen und in die Kneipe zu gehen usw., war plötzlich verboten. Lange Zeit wurden wir von Notstandsmaßnahmen regiert, ohne jegliche demokratische Kontrolle, also entsteht viel Angst, Unsicherheit und ein allgemeines Gefühl des Unbehagens."

Ruttes Partei scheint vor dem Zorn der niederländischen Öffentlichkeit bewahrt worden zu sein, da sich die Wogen des Kindergeldskandals langsam glätten. Aber die großen Sorgen in der Pandemie scheinen die Unterstützung für Kontinuität in unsicheren Zeiten zu festigen.

"Das könnte der Grund dafür sein, dass sich viele Menschen nicht bewegen, wenn es um ihre politischen Präferenzen im Moment geht", so van Buuren.

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