"Abtreibungspille umkehren" - die umstrittene Praxis einiger Ärzte

Archivbild: Fläschen des Abtreibungsmittels RU-486 in Des Moines, Iowa, USA, 2010
Archivbild: Fläschen des Abtreibungsmittels RU-486 in Des Moines, Iowa, USA, 2010 Copyright Charlie Neibergall/AP2010
Copyright Charlie Neibergall/AP2010
Von Lauren ChadwickLillo Montalto Monella, Sandrine Amiel
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Rezepte für eine "Umkehr" medikamentöser Schwangerschaftsabbrüche: so versucht eine in den USA ansässige Organisation mit einer wissenschaftlich unbewiesenen Methode europäische Ärzt:innen zu instrumentalisieren.

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Mehrere Ärzt:innen in Europa haben eine umstrittene und wissenschaftlich nicht ausreichend fundierte Behandlungsmethode verschrieben, die einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch rückgängig machen soll.

Ermittlerinnen der in Großbritannien ansässigen Organisation openDemocracy kontaktierten Ärzt:innen in Italien, Litauen, Portugal, Rumänien, Spanien und Großbritannien, die bereit waren, diese Behandlung, die die Wirkung der Abtreibungspille umkehren soll, anzubieten.

Die Undercover-Mitarbeiterinnen wurden über eine rechte, christliche Organisation in den Vereinigten Staaten mit den Ärzt:innen in Kontakt gebracht.

Sie gaben sich als schwangere Frauen aus, die die erste von zwei Pillen für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch genommen hatten, und kontaktierten die US-Gruppe Heartbeat International über eine Hotline, wo sie erzählten, ihre Entscheidung des Schwangerschaftsabbruchs rückgängig machen zu wollen.

Die Gruppe verwies die Undercover-Mitarbeiterinnen an Krankenschwestern in den USA, die Anweisungen für den Erhalt eines Rezeptes für die Behandlung in Belgien, Deutschland, Kroatien und Russland gaben. In anderen europäischen Ländern wurden die Frauen mit Ärzt:innen in Kontakt gebracht, die das entsprechende Medikament verschreiben würden.

Die Anti-Abtreibungsgruppe behauptet, dass die Frauen durch die Einnahme von Progesteron nach der ersten Abtreibungspille den Schwangerschaftsabbruch stoppen könnten. Obwohl Frauen, die die Hotline anrufen, versichern müssen, dass sie ihre Abtreibung rückgängig machen wollen, beharrt die Gruppe darauf, dass die Behandlung sicher sei.

Die Behandlung wurde 2019 in einer US-Studie erprobt, die später abgebrochen wurde, weil ein Viertel der Teilnehmerinnen starke Blutungen hatte.

Wie funktioniert ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch?

Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, haben die Wahl zwischen der Abtreibungspille und einem chirurgischen Abbruch. Beide sind ein sicherer und effektiver Weg, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden.

Die Abtreibungspille wird meist bei einem Schwangerschaftsabbruch bis zur 10. Schwangerschaftswoche durchgeführt. Dabei müssen die betroffenen Frauen zwei Tabletten im Abstand von 48 Stunden einnehmen. Die erste Tablette, Mifepriston, blockiert das Hormon Progesteron, das eine große Rolle bei der Schwangerschaft spielt. Die zweite Pille verursacht Blutungen, die die Gebärmutter entleert. Es ist eine Methode, die 94 bis 98 Prozent wirksam ist.

Wie soll die Umkehrbehandlung der Abtreibungspille funktionieren?

Abtreibungsgegner, die eine "Umkehrung" der Abtreibung unterstützen, behaupten, dass eine Frau nach der Einnahme der ersten Pille, Mifepriston, die Abtreibung rückgängig machen kann, bevor sie die zweite Pille nimmt.

Das Konzept basiert auf einer nicht ausreichend geprüften Behandlung, die die Einnahme hoher Dosen des Hormons Progesteron beinhaltet.

Sie wurde erstmals von Dr. George Delgado in einer Fallstudie mit nur sechs Frauen angewandt, von denen vier ihre Schwangerschaften austrugen.

Was sind die Probleme mit der Behandlung?

Das American College of Obstetricians and Gynaecologists erklärt, dass die Behauptungen bezüglich dieser Umkehrbehandlung "nicht wissenschaftlich fundiert sind und nicht den klinischen Standards entspricht"

Die Einrichtung "unterstützt die Verschreibung von Progesteron zur Beendigung eines medizinischen Abbruchs nicht". Die Erklärung wurde herausgegeben, als einige US-Bundesstaaten verlangten, dass Frauen Informationen über diese Form der "Abtreibungsumkehr" angeboten werden müssten.

Eine Studie zur "Abtreibungsumkehr" wurde 2019 in den USA schließlich gestoppt, nachdem ein Viertel der Patientinnen schwere Blutungen erlitten hatte.

Im Gespräch mit Euronews sagte Elsa Viora, Präsidentin der italienischen Vereinigung der Krankenhaus-Gynäkologen und Geburtshelfer, dass die Behauptung, Progesteron könne einen Schwangerschaftsabbruch rückgängig machen, nicht auf wissenschaftlichen Beweisen beruhe.

"Wenn wir uns an wissenschaftliche Beweise halten, gibt es keine Daten, die die Behauptung stützen, dass eine Progesterontherapie den klinischen Verlauf nach der Einnahme von RU-486 [einer Abtreibungspille] verändern kann", sagte Viora.

"Die jüngste Studie, eine randomisierte Studie, die nach strengen technischen Kriterien durchgeführt wurde, kommt zu dem Schluss, dass Progesteron als Antagonist von Mifepriston nicht wirksam ist", meint die Expertin.

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Professor Lesley Regan, Leiterin der Abteilung für Geburtshilfe und Gynäkologie am Imperial College in Großbritannien, fasst es so zusammen:

"Also erstens: Es funktioniert nicht. Und zweitens ist sie nicht nur nicht wirksam, sondern birgt auch ein hohes Risiko, dass Frauen abnormale Blutungen bekommen, was natürlich seine eigenen Gefahren in sich birgt."

"Der Abbruch einer Schwangerschaft ist immer eine schmerzhafte Entscheidung für Frauen. Es ist eine Entscheidung, die im Vorfeld besprochen werden muss", so Viora und weiter: "Aber wenn sie einmal getroffen wurde, ist es schwierig, diese Entscheidung plötzlich umzukehren."

Was sagen die Befürworter der "Abtreibungsumkehr"?

Anti-Abtreibungs-Aktivisten behaupten, dass wissenschaftliche Studien über die Wirksamkeit und Sicherheit des Verfahrens einseitig sind.

"Wenn man über Abtreibung spricht, ist die Wissenschaft sehr ideologisch und voreingenommen. Die Wissenschaft ist durch Voreingenommenheit geblendet. Man müsste sich auch andere Studien ansehen, die von Abtreibungsgegnern durchgeführt wurden", sagte Francesca Romana Poleggi, Redaktionsleiterin von Pro Vita & Famiglia gegenüber Euronews.

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Heartbeat International erklärt beispielsweise, dass Progesteron seit Jahrzehnten verwendet wird, um Fehl- und Frühgeburten zu verhindern. Die Gruppe behauptet auch, dass mehr als 2.000 Frauen erfolgreich eine Abtreibung durch diese Methode verhindert haben.

Wie sprechen Anti-Abtreibungsgruppen Frauen an?

openDemocracy berichtete Euronews, dass in einer Reihe von Ländern, darunter Großbritannien, die Hotline "Umkehrbehandlung der Abtreibungspille" von Anti-Abtreibungsgruppen vor Ort in den sozialen Medien beworben wurde.

In Ländern wie Kanada wurde die Hotline an Bushaltestellen beworben, so openDemocracy.

Heartbeat International stützt sich zudem auf ein weltweites Netzwerk von so genannten "Krisenschwangerschaftszentren", die Frauen auf die Behandlung aufmerksam machen können.

Frauen, die die Hotline anrufen, werden von einer Krankenschwester betreut. Sie werden gebeten, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, während die Krankenschwester nach einem vor Ort ansässigen Arzt oder Ärztin sucht, an den/die die Frau vermittelt werden kann.

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Euronews hat die Einverständniserklärung gesehen, in der die Patientin formell der Behandlung zustimmt und Heartbeat International nicht für den Ausgang der Behandlung haftbar macht.

Das Formular fordert die Patientin auch auf, im Falle von "starken Blutungen, Ohnmacht, starken Bauchschmerzen" sofort einen "Notarzt" aufzusuchen.

Was waren die Ergebnisse der Untersuchung von openDemocracy in Europa?

Undercover-Mitarbeiterinnen von openDemocracy erklärten, dass die oben genannte Hotline sie mit Ärzt:innen vor Ort in Kontakt brachte, die bereit waren, das Medikament zu verschreiben.

Eine in den USA ansässige Krankenschwester hatte zunächst Mühe, einen Undercover-Reporter von openDemocracy an eine Ärztin oder einen Arzt zu vermitteln, konnte aber letztendlich den Kontakt zu einem Arzt herstellen, der per E-Mail Informationen über die Behandlung zusandte mit dem Hinweis, dass sie von einem Hausarzt verschrieben werden könne.

In Spanien wurde einer Ermittlerin ein Rezept von einem Arzt zugestellt, der mitteilte, dass es keine Risiken gebe und es ihr "sehr gut tun" würde. Die in den USA ansässige Organisation hat laut ihrer Website Verbindungen zu Abtreibungsgegnern in beiden Ländern.

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openDemocracy wurde auch mit Ärzten in Rumänien und Portugal in Kontakt gebracht, die die Behandlung verschreiben würden, sagte die Organisation.

In Kroatien, Belgien und Deutschland schickten die in den USA ansässigen Krankenschwestern den Ermittlerinnen von openDemocracy per E-Mail Anweisungen, mit denen sie in Krankenhäusern entsprechende Rezepte erhalten sollten.

In Großbritannien sagte der von openDemocracy kontaktierte Arzt, dass mindestens 100 Frauen die Behandlung ausprobiert hätten.

Eine Abtreibung ist für Frauen in den meisten EU-Ländern verfügbar. Malta ist das einzige EU-Land, in dem sie illegal ist. In Polen wurden Schwangerschaftsabbrüche stark eingeschränkt, insbesondere nach einem Gerichtsurteil, das selbst im Falle einer schweren Behinderung des Fötus eine Abtreibung untersagt. In der Praxis kommt die Entscheidung einem fast vollständigen Verbot gleich.

Kann die Behandlungsmethode reguliert werden?

Frauenrechtlerinnen haben die Regierungen aufgefordert, mehr zu tun, um diese nicht ausreichend erprobte Praxis zu untersuchen und zu regulieren.

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"Es ist entscheidend, dass Regierungen mehr tun, um die Verbreitung solcher Initiativen zu regulieren und einzuschränken", sagte Mina Barling, Direktorin für externe Angelegenheiten bei der Organisation International Planned Parenthood Federation (IPPF).

Ein US-Experte wies darauf hin, dass die Behandlungsmethode in vielen europäischen Ländern noch neu sei, was bedeute, dass Regierungen und medizinische Gesellschaften noch keine angemessenen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätten.

Die britische Abgeordnete Munira Wilson und gesundheitspolitische Sprecherin der britischen Liberaldemokraten sagte gegenüber openDemocracy, die Praxis sei "völlig inakzeptabel". "Die Regulierungsbehörden müssen dies dringend untersuchen und dieser schädlichen Behandlungsmethode Einhalt gebieten", sagte sie.

In Wahrheit könnte sich eine gesetzliche Regelung jedoch als schwierig erweisen.

"Das Medikament Progesteron ist auf Rezept erhältlich. Wenn man es von einem Arzt verschrieben bekommt, kann man das nicht verhindern, weil es an sich kein gefährliches Medikament ist", räumt Regan gegenüber Euronews ein.

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