Kein normaler Staatsbesuch: Deutschland soll den Nachbarn vor russischen Angriffen schützen - und gleichzeitig 1,3 Billionen Euro für die Gräueltaten der Nazis bezahlen. Das droht zur Belastungsprobe der wichtigen Freundschaft zu werden. Ist eine "moderne Übersetzung von Wiedergutmachung" möglich?
Zerrissen zwischen Angst vor der russischen Bedrohung und der Forderung nach Reparationszahlungen als Wiedergutmachung für Deutschlands Gräuletaten im Zweiten Weltkrieg: Das ist die Stimmung, mit welcher der polnische Präsident Karol Nawrocki am Dienstag zum Antrittsbesuch nach Berlin kommt.
Vor dem Schloss Bellvue, dem Amtssitz des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter-Steinmeyer, wird Nawrocki mit militärischen Ehren empfangen. Danach folgt ein Termin im Bundeskanzleramt. Dort führt Nawrocki ein vier-Augen-Gespräch mit dem deutschen Bundeskanzler Friedrich. Mit dem Thema Reparationszahlungen hat der Kandidat der rechtskonservativen PiS die Wahlen in Polen geführt. Doch beim direktem Gespräch mit Merz unter vier Augen bekommt diese Forderung neue Brisanz.
Polen braucht Deutschland. Gerade jetzt. Erst vergangene Woche verletzten russische Drohnen den polnischen Luftraum. Das Land braucht seinen Nachbarn so dringend wie vielleicht noch nie zuvor. Wird die Forderung nach Reparationen die deutsch-polnischen Beziehungen strapazieren?
„Was wir jetzt wirklich nicht brauchen, wäre eine Schwächung des deutsch-polnischen Verhältnisses durch eine Reparations-Debatte von der bekannt ist, dass Deutschland das Kapitel für wirklich abgeschlossen hält“, sagt der Polenbeauftragte der Bundesregierung Knut Abraham (CDU) zu Euronews.
„Die Besatzungszeit, ist letztlich mit Geld nicht wiedergutzumachen.“ „Wir müssen sehen, wie wir gemeinsam etwas erreichen können, um das Dunkel der Geschichte gemeinsam zu überwinden“, so Abraham.
Aus Sicht der Bundesregierung besteht keine Völkerrechtliche Verpflichtung zur Leistung von Reparationen gegenüber Polen. Das Land hat 1953 auf weitere Reparationsleistungen verzichtet. Viele in Polen sagen jedoch, das sei unter dem Druck der Sowjetunion geschehen.
Polen ist zweigeteilt in jene, die die Vergangenheit hinter sich lassen wollen und jene, die aufgrund der enormen Zerstörung und der Verluste im Zweiten Weltkrieg Reparationen von Deutschland verlangen, teils mit antideutschen Tönen.
Euronews hat den Historiker Professor Peter Oliver Loew von der Technischen Universität Darmstadt dazu befragt. Er ist Direktor des Deutschen Polen Instituts.
“Es ist immer eine Gefahr für den Frieden in der Welt, wenn einzelne Nationen oder ethnische Gruppen zum Gegenstand von Feindbildern werden”, sagt Loew. Das Thema sei vor allem ein politisches. Es diene dazu, „Deutschland immer wieder in die Defensive zu bringen und zu versuchen, von Deutschland etwas zu kriegen“, erklärt der Historiker.
“Dieser Deutschland-skeptische oder antideutsche Diskurs hat natürlich seine historische Begründung durch all die Brutalitäten und Grausamkeiten, die Deutschland im Krieg in Polen begangen hat und über die in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit bis heute wenig bekannt ist. Aber wir müssen über die Geschichte hinwegkommen und immer wieder pragmatische Wege der Zusammenarbeit finden", sagt Loew.
Militärische Kooperation statt Reparation?
Der Polenbeauftragte Abraham schlägt eine „moderne Übersetzung des Gedankens der Wiedergutmachung“ vor. Doch wie könnte diese „moderne Übersetzung“ aussehen? Abraham denkt da vor allem an eine sicherheitspolitische Kooperation – „personell, militärisch und finanziell“.
Ein konkretes Beispiel sei etwa eine gemeinsame, deutsch-polnische Initiative zum Schutz der kritischen Infrastruktur in der Ostsee. „Wir haben gesehen, wie anfällig die kritische Infrastruktur in der Ostsee ist: Stromkabel, Kommunikationskabel, Gasleitungen“. Ein Projekt, „bei dem man gemeinsam etwas schafft“, so Abraham.
Auch im Bereich der Verteidigung und Sicherheit des polnischen Luftraums könnte Deutschland Polen sehr gut unterstützen. Erst letzte Woche sind 19 russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen. „Völlig unerträglich“, wie Abraham bekräftigt. Es bestehe zweifelsohne der Bedarf an der Abwehr russischer Drohnen. NATO-Planungen müssten einbezogen werden und es müsse geklärt werden, welche Partner welche Aufgaben übernehmen.
Polen-Experte Loew glaubt, dass es bei der deutsch-polnischen Zusammenarbeit in der Sicherheit Aufholbedarf gibt. “Die Sicherheitskulturen und Verteidigungs- und Militärkulturen Deutschlands und Polens müssten stärker miteinander vernetzt werden”, sagt Loew. “Polen denkt, wenn es um Sicherheit geht, in erster Linie an die Vereinigten Staaten. Deutschland denkt in erster Linie an die NATO und die europäischen Partner”, so Loew.
Doch man müsse Wege der Zusammenarbeit finden: „Durch gemeinsame Rüstungsbeschaffungen, durch die Beteiligung Polens an einem gemeinsamen Raketen- oder Drohnenabwehrsystem, durch gemeinsame Investitionen”. Loew ist überzeugt: “Nichts stärkt so sehr als wenn man etwas gemeinsam tut, und sei es im Bereich der Verteidigung.”
Bedrohung aus Russland bringt Polen und Deutschland näher zusammen
So schrecklich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Bedrohung Polens durch russische Drohnen auch sein mag, es bringt Deutschland und Polen auch zusammen. „Wir sind Teil einer Schicksalsgemeinschaft“, betont der Polenbeauftragte der Bundesregierung, Abraham. „Die äußere Bedrohung bringt uns im Inneren stärker zusammen, in der Tat.“
“Es sollte beide Länder zusammenbringen“, findet auch Professor Loew. „Polen grenzt ja auch unmittelbar an Russland, im Königsberger Gebiet“, so der Historiker. “Das ist hochgerüstet mit Mittelstreckenraketen und Flugzeugen und Panzern und Soldaten.”
Schließlich sei Russland auch nicht weit von der deutschen Ostgrenze entfernt. “Deutschland muss zusammen mit Polen für die Sicherheit Europas sorgen und muss sich zusammen mit Polen gegen russische Aggressionen wappnen“, so der Historiker. Deutschland müsse aber auch bereit sein, Rat und Expertise aus Polen entgegenzunehmen, findet Professor Loew. „Denn dort beobachtet man Russland schon seit Jahrzehnten sehr intensiv.”
Polendenkmal und Entschädigung für Kriegsopfer
Doch neben Sicherheitsfragen gibt es auch andere Möglichkeiten der Kooperation mit Polen, findet der Polenbeauftragte Abraham. Der Politiker meint dabei die deutsch-polnische Erfolgsgeschichte, etwa in der Wirtschaft. „Die deutsch-polnische Nachbarschaft und Freundschaft in den letzten 35 Jahren ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte, wenn Sie gerade den wirtschaftlichen Erfolg unseres Nachbarlandes sehen“. Polen sei Deutschlands viertgrößter Handelspartner. Deutschland exportiere mehr nach Polen als nach China, so Abraham „Es ist eine Win-Win-Situation und daran sollten wir weiter arbeiten“, „ohne zu vergessen, was geschehen ist“.
Doch trotz der wiederholter Versuche, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, hält Polen an den Forderung nach Reparationen fest. Abraham glaubt nicht, dass sich bei Nawrockis Staatsbesuch irgendeine „geartete“ Verhandlungssituation ergibt.
Auch der Polen-Experte Professor Loew glaubt nicht, dass die Frage nach den Reparationen auf einmal verschwinden wird. Doch wie kann Deutschland mit den immer wiederkehrenden Forderungen nach Reparationszahlungen umgehen?
Professor Loew gibt eine realistische Einschätzung: “Es wird vermutlich nicht so sein, dass Polen bereit ist, auf Reparationsforderungen zu verzichten. Das würde gerade auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Polen höchste Empörung auslösen”, erklärt Professor Loew. „Es braucht eine Reihe von Schritten aufeinander zu“, so der Historiker. Nicht nur Sicherheitstechnisch sondern auch symbolisch. “Wir denken an das Leid, das Polen im Zweiten Weltkrieg von Deutschland erfahren hat“, erinnert Professor Loew.
Sein Vorschlag: „Wir errichten endlich ein Polendenkmal in Berlin. Ein richtiges Denkmal. Ein provisorisches gibt es seit wenigen Monaten. Und wir errichten ein Haus, in dem wir Deutsche und Polen zusammenbringen, ihnen erklären, wie die deutsch-polnische Geschichte ausgesehen hat“.
Auch eine Entschädigung an die letzten überlebenden Kriegsopfer in Polen wäre denkbar, sagt der Polen-Experte. “Am Ende ist es gut, dass wir über all diese nicht ganz aufgearbeiteten Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte reden“. Nun käme es auf eine gute Kommunikation von beiden Seiten an und darauf, „dass man unterstreicht, dass man vorankommen würde in den Beziehungen“, so Loew.
Was es jetzt braucht? "Eine Politik auf Augenhöhe, ein Ernstnehmen der polnischen Regierung und auch des polnischen Staatspräsidenten”, sagt der Historiker. Er bekräftigt, dass häufige Abstimmungen und Konsultationen ebenfalls ein guter Weg seien, um diese „Reparationsfalle“ irgendwann hinter sich zu lassen.