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"Ihr alten Knacker müsst ja nicht kämpfen": Schüler demonstrieren gegen Wehrpflicht

In Berlin Streiken Schüler gegen die Wehrpflicht
In Berlin Streiken Schüler gegen die Wehrpflicht Copyright  Euronews
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Von Sonja Issel
Zuerst veröffentlicht am
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Mit der Modernisierung der Wehrpflicht verschärft sich der Konflikt zwischen Politik und junger Generation: Während die Politik auf Musterung und Personalaufstockung setzt, warnen Jugendliche vor Eingriffen in ihre Freiheitsrechte.

Während im Bundestag am Freitag das neue Wehrpflichtmodernisierungsgesetz auf den Weg gebracht wurde, demonstrierten bundesweit Schüler gegen eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht.

So auch in Berlin. Am Halleschen Tor, nur wenige Kilometer vom Regierungsviertel entfernt, wurde dafür eine kleine Bühne aufgebaut. In der Menge waren zahlreiche Flaggen zu sehen - darunter die der Antifa, der Linksjugend und der Gewerkschaft GEW .

Vor allem aber prägte eines das Bild: Kinder, die selbstgemalte Plakate in die Höhe hielten. Darauf zu lesen waren Slogans wie "Kinder gegen Wehrpflicht", "Sagt Nein zur Wehrpflicht" – aber auch Sprüche wie "Ihr alten Knacker müsst ja nicht kämpfen". Neben der Ablehnung der Wehrpflicht richtet sich hier also ein deutlicher Appell an die ältere Generation, die politischen Entscheidungen trifft.

An eben jene, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige Kilometer entfernt im Bundestag saßen – und nahezu zeitgleich über das neue Gesetz abstimmten.

"Kein Bock auf Wehrpflicht"

Unter den Demonstrierenden ist auch ein 13-Jähriger, der gemeinsam mit einem Freund zur Kundgebung gekommen ist. Er erzählt Euronews, dass vor allem seine eigene familiäre Geschichte seine Haltung zur Debatte um die Wehrpflicht prägt.

Sein Vater kommt aus Marokko, ist dann jedoch nach Israel geflohen – vor dem Bürgerkrieg und vor der Gefahr, an die Front geschickt zu werden.

Mit selbstgemalten Schildern haben sich am Freitag zahlreiche Schüler für eine Demo gegen die Wehrpflicht versammelt
Mit selbstgemalten Schildern haben sich am Freitag zahlreiche Schüler für eine Demo gegen die Wehrpflicht versammelt Euronews

"Er hat mir erzählt, wie das ist. Deswegen habe ich auch keinen Bock auf Wehrpflicht."

Grundsätzlich sei eine Armee für ihn nicht automatisch problematisch: "Ich finde, dass ein Land eine Armee hat per se nicht schlimm, vor allem in diesen Zeiten. Aber ich finde es nicht gut, Leute zu zwingen, der Armee beizutreten – gegen ihren Willen."

Darauf angesprochen, dass es derzeit noch freiweillig ist, dass das recht zu verweigern im grundgesetz steht zeigt er sich skeptisch. Er vertraut nicht darauf, dass es bei der Freiwilligkeit bleiben wird.

"Es gibt ja bereits Politiker, die die Wehrpflicht zurückhaben wollen."

Wehrpflicht als Thema im Unterricht

Auf der Demonstration haben sich jedoch nicht nur einzelne Schüler versammelt. Auch zahlreiche Lehrkräfte mischten sich unter die Menge. Ein Berliner Lehrer kam gemeinsam mit seiner Klasse, die sich im Unterricht derzeit intensiv mit den Themen Krieg und Aufrüstung beschäftigt.

"Wir haben das thematisiert, wir haben darüber geredet und uns dazu entschlossen, an dieser Demo beziehungsweise an dem Streik teilzunehmen", erzählt er Euronews. Die aktuelle Politik der Aufrüstung und die Debatte um die Wehrpflicht sehen er und seine Schüler demnach kritisch.

"Wir denken, das ist nicht so einfach, nur mit Krieg und Waffen alles zu lösen", sagt er.

Ihm sei jedoch vor allem wichtig, dass seine Schüler lernen, ihr demokratisches Recht auf politische Teilhabe wahrzunehmen. Die Entscheidungen, die im Bundestag getroffen werden, betreffen sie unmittelbar – das möchte er ihnen vermitteln.

Junge Menschen wollen gehört werden

Die Organisatoren der Demonstration setzen sogar noch einen Schritt früher an. Ihnen geht es vor allem darum, junge Menschen überhaupt erst hörbar zu machen.

Ronja ist 23 und Mitorganisatorin im Streikkomitee, das den Schulstreik gegen die mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht in Berlin organisiert hat. Für sie steht im Zentrum, den Jugendlichen eine Stimme zu geben.

"In fast keinen Umfragen kommen Leute unter achtzehn vor. Und es wird immer gesagt, zwei Drittel aller Deutschen seien für die Wiedereinführung der Wehrpflicht – aber die, die es betrifft, werden nicht gefragt", sagt sie im Interview mit Euronews.

Viele der Schüler mit denen sie gesprochen hat, seien vor allem wütend und enttäuscht darüber, nicht gehört zu werden.

Ronja ist Mitorganisatorin der Demonstration - und findet, dass man Jugendlichen und Kindern mehr gehör schenken müsse.
Ronja ist Mitorganisatorin der Demonstration - und findet, dass man Jugendlichen und Kindern mehr gehör schenken müsse. Euronews

Auf die Frage, was sich die jungen Leute von der Politik wünschen, sagt Ronja: "Erstmal, dass uns zugehört wird. Dass wir nicht einfach fallen gelassen werden, wie das schon bei den Klimaprotesten zum Großteil war."

Neben der möglichen Reaktivierung der Wehrpflicht richtet sich die Kritik der Organisatoren auch gegen das am Freitag beschlossene Gesetz. Vor allem die geplante Musterung wird als problematisch gesehen. Sie argumentieren, der medizinische Check sei ein Eingriff in die Privatsphäre.

"Es führt ja schon dazu, dass sich Leute da hinstellen und sich ausziehen müssen und einem Check unterlaufen müssen, den sie nicht wollen. Das ist ein Eingriff in die Selbstbestimmung von Jugendlichen und in die Freiheitsrechte."

Verpflichtende Musterung ab 2027

Das im Bundestag beschlossene Gesetz sieht eine verpflichtende Musterung für junge Männer ab dem Geburtsjahrgang 2008 vor. Die Verfahren sollen ab dem 1. Juli 2027 beginnen. Der Wehrdienst selbst bleibt jedoch zunächst freiwillig.

Diese Freiwilligkeit gilt allerdings nur, solange die angestrebten Personalziele erreicht werden. Sollte das nicht gelingen, könnte eine teilweise Wehrpflicht eingeführt werden – dafür wäre jedoch ein erneuter Beschluss des Bundestags notwendig. In diesem Fall könnten Betroffene auch per Los- oder einem anderen Zufallsverfahren ausgewählt werden.

Eine Pflicht zum Wehrdienst liegt also auch nach dem aktuellen Bundestagsbeschluss nicht unmittelbar auf dem Tisch. Dennoch bleibt das Thema hoch emotional. Viele junge Menschen beschäftigt vor allem die Sorge, im Ernstfall für einen militärischen Einsatz herangezogen zu werden.

Bedrohungslage im Kern der politischen Entscheidungsfindung

Genau dieser mögliche Ernstfall bildet für viele politische Entscheidungsträger derzeit die Grundlage ihrer Argumentation. Die Bundeswehr müsse personell gestärkt werden, um Deutschland angesichts der sicherheitspolitischen Lage besser verteidigungsfähig zu machen. Der CDU-Verteidigungspolitiker Norbert Röttgen sagte, die Erhöhung der Personalstärke sei angesichts der Bedrohung durch Russland notwendig. "Wir müssen uns wieder verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen", sagte er.

Dem widersprechen die Organisatoren der Demonstration. Sie verweisen auf Studien, die aus ihrer Sicht die aktuelle Bedrohungslage differenzierter darstellen.

"Es gibt Studien zu dem Thema, zum Beispiel die Greenpeace-Studie, die einen Kräftevergleich zwischen NATO und Russland macht, wo man deutlich sieht: Die Bedrohungslage ist nicht so, wie sie oft prophezeit und dargestellt wird."

Die Greenpeace-Studie, auf sie sich bezieht, ist allerdings nicht unumstritten. Kritik kommt unter anderem im Podcast "Sicherheitshalber", die sich zur sicherheitspolitischen Lage mit der Analyse auseinandergesetzt haben.

Die Studie basiere demnach auf unvollständigen Datensätzen. Bestimmte Waffensysteme und Fähigkeiten seien darin nicht enthalten, wodurch die Bewertung der militärischen Stärke von NATO und Russland nur eingeschränkt belastbar sei.

Für Ronja ist jedoch klar: "Wir sehen nicht die Notwendigkeit, dass wir zur Bundeswehr gehen müssen, um Deutschland zu verteidigen."

Freiheit als gemeinsamer Wert

Was sie stattdessen verteidigen wollen, sind die Freiheitsrechte der jungen Menschen, so die 23-jährige Organisatorin.

"Wir stehen für Frieden und Freiheit und wollen Jugendlichen eine Stimme geben, damit sie nicht zur Wehrpflicht gezwungen werden. Dafür stehen wir ein - und dagegen demonstrieren wir."

Den hohen Wert von Freiheit betonte auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) der sich am Vortag der Demonstration in einem Instagram-Video an die teilnehmenden Schüler richtete. Er erklärte darin, dass er Protest und Meinungsäußerung begrüße - und wies zugleich darauf hin, dass diese Freiheit geschützt und im Ernstfall auch verteidigt werden müsse.

Zumindest beim Thema Freiheitsrechte scheinen beide Seiten also ähnliche Werte zu betonen. In der Frage wie diese geschützt werden sollen, liegen ihre Positionen jedoch weit auseinander.

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