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Götter der Unterwelt in der Sowjetunion: Das Geheimnis hinter den Tätowierungen der Verbrecher

Vor V Zakonie Von Nicolas WIeers - Herausgegeben von David Vannucci
Vor V Zakonie Von Nicolas WIeers - Herausgegeben von David Vannucci Copyright  Credit: Nicolas WIeers/David Vannucci
Copyright Credit: Nicolas WIeers/David Vannucci
Von Theo Farrant
Zuerst veröffentlicht am
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Der belgische Künstler und Filmemacher Nicolas Wieërs zeigt in Schwarz-Weiß-Porträts die Gesichter und Tätowierungen von Männern, deren Körper zu verschlüsselten Landkarten wurden. Er erklärt damit eine verborgene Sprache in sowjetischen Gefängnissen.

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Schwarz-weiße Gesichter. Augen, die von jahrzehntelangem Gefängnisleben zeugen. Körper, in die Sterne, Spinnen, Katzen und Kathedralen geritzt sind - Symbole für einen Rang, für Loyalität und für Trotz.

Eine Ausstellung in Brüssel, Surrounded by Criminals, lädt Besucher und Besucherinnen ein in die verborgene Unterwelt der Vory v Zakone, der sowjetischen und postsowjetischen Gruppe der "Diebe im Gesetz". Die organisierte Kriminalitäte kontrolliert wohl schon seit der Stalinzeit die Gulags.

Der belgische Fotograf und Filmemacher Nicolas Wieërs - Gründer des Festivals Balkan Trafik - hat mehrere Jahre in Moldau und Transnistrien verbracht, um die ehemaligen Häftlinge in Bildern festzuhalten. Nachdem er ihr Vertrauen gewonnen hatte, dokumentierte er eine wenig bekannte Subkultur, die von Tätowierungen, Hierarchie und Überleben geprägt ist. Einst als "Götter" der sowjetischen Unterwelt verehrt, leben viele von ihnen heute am Rande der Gesellschaft, gefangen in einem Kreislauf aus Armut, Sucht und Kriminalität.

Foto der Ausstellung "Surrounded by Criminals"
Foto der Ausstellung "Surrounded by Criminals" Nicolas Wieërs

"Ich begann mich zu fragen, ob es in der Gesellschaft eine Art Heuchelei gibt. Durch ihre Tätowierungen konnte ich unseren kollektiven Standpunkt zu Verbrechen und Strafe erforschen", sagte Nicolas Wieërs Euronews Culture.

Anhand von Porträts, Zeugenaussagen und einer Kombination aus Musik, Film und Zeichnungen untersucht Wieërs ihr tragisches und doch faszinierendes Leben. Und er setzt sich dabei mit Ideen von Gerechtigkeit, Moral und Heuchelei auseinander. Seine Arbeit stellt die sichtbaren, tätowierten Ex-Häftlinge mit den unsichtbaren Verbrechen der Mächtigen - von Politikern bis zur Wirtschaftselite -, die durch Reichtum und Einfluss geschützt sind.

Die Ausstellung findet an sechs Orten in Brüssel statt, von Tattoo-Studios bis hin zu einem renovierten ehemaligen Börsengebäude, und ist bis zum 9. November 2025 zu sehen.

Euronews Culture hat den Fotografen getroffen, um über seine Begegnungen mit diesen Männern und die Ziele des Projekts zu sprechen.

Euronews Kultur: Wie würden Sie dieses Projekt in Ihren eigenen Worten beschreiben?

Nicolas Wieërs: Ich begann das Projekt aus Neugier über die Bedeutung der Tätowierungen der Vory v Zakone - einer kriminellen Vereinigung, die während der Sowjetära, vor dem Zusammenbruch der UdSSR in den frühen 1990er Jahren, existierte.

Zu dieser Zeit lebte ich in Moldau, was mir die perfekte Gelegenheit bot, diese Männer täglich zu treffen. Ich begann, in ihre Welt einzudringen, ein Netzwerk aufzubauen und das Vertrauen von einigen von ihnen zu gewinnen. Zunächst galt mein Interesse vor allem den Tätowierungen selbst - den Bedeutungen hinter jedem Symbol.

Doch schon bald merkte ich, dass hinter jeder Tätowierung viel mehr steckte. Die Tätowierungen der Vory v Zakone erzählten die Geschichte ihres Lebens. Als sie anfingen, über ihre Tätowierungen zu sprechen, wurde das Projekt zu etwas viel Größerem als nur Tätowierungen - es ging um Menschlichkeit, Moral und die Art und Weise, wie wir Kriminalität an sich betrachten.

Viele der Männer, die ich traf, hatten rund 30 Jahre im Gefängnis verbracht - manchmal für fast nichts. Sie haben ihre Zeit abgesessen, aber auch nach ihrer Freilassung waren sie Ausgestoßene. Viele sprachen die Landessprache nicht mehr - sie sprachen den Gefängnis-Slang. Sie hatten keinen wirklichen Platz mehr in der Gesellschaft.

So begann ich mich zu fragen, ob es eine Art Heuchelei in der Gesellschaft gibt. Durch ihre Tätowierungen konnte ich unseren kollektiven Standpunkt zu Verbrechen und Strafe erkunden. Denn wenn man sich den Zustand der Welt anschaut, ist es seltsam, dass wir weiterhin Menschen verurteilen, die in gewisser Weise schon fast tot sind - sie leben auf der Straße und sind mit Tattoos übersät, die ihre kriminelle Vergangenheit kennzeichnen -, während wir gleichzeitig Regeln und Systeme befolgen, die von anderen Arten von Kriminellen geschaffen wurden. Deshalb habe ich dem Projekt den Titel 'Surrounded by Criminals' gegeben - denn die wirklichen Kriminellen sind nicht immer die, für die wir sie halten, und sie sind nicht immer diejenigen, die wir sehen können.

Wie reflektieren die Männer, die Sie fotografiert haben - die im Gefängnis einst als "Götter" mit einem gewissen Status galten - ihre Erfahrungen mit dem Wechsel von Macht zu Armut und sozialer Ausgrenzung in der heutigen Gesellschaft?

Zunächst einmal waren die Männer, die ich getroffen habe, nicht die großen Bosse der Gruppe. Sie waren die kleineren Mitglieder, jeder mit seinem eigenen Spezialgebiet. Einige von ihnen waren zum Beispiel wirklich die Tätowierer im Gefängnis. Einige von ihnen waren Bankräuber und Diebe. Ich interessierte mich nicht für die großen Bosse, die immer noch ihr Geschäft betreiben.

Aus ihren Berichten über die Vergangenheit geht hervor, dass sie wirklich in einer Parallelwelt lebten, mit ihrem eigenen Kodex, ihren eigenen Regeln und ihrer eigenen Art zu sprechen. Sie hatten einen sehr spezifischen Slang. Die Rückkehr in die Gesellschaft war daher unglaublich schwierig für sie - sie verstanden die soziale Welt außerhalb ihrer Blase nicht. Als ich sie auf der Straße in ihren besetzten Häusern traf, wurde mir klar, wie schwer es für sie war, ihr Leben normal weiterzuführen.

Ein Mann zeigt seine Rückentätowierungen
Ein Mann zeigt seine Rückentätowierungen Nicolas Wieërs
Ein Mann zeigt Tätowierungen an seinen Füßen
Ein Mann zeigt Tätowierungen an seinen Füßen Nicolas Wieërs

Wie sprechen sie heute über ihre Tätowierungen? Sehen sie sie immer noch als Symbol des Stolzes oder sind sie eher eine Last?

Sie sind immer noch stolz auf ihre Tätowierungen, denn sie sind ein Teil ihres Lebens. Allerdings zeigen sie sie nicht öffentlich. In Gesellschaften wie Moldau, der Ukraine und Kasachstan - also in dieser geografischen Region - werden Tätowierungen immer noch mit einer kriminellen Subkultur in Verbindung gebracht, anders als in den USA, wo eine Art Punk-Ästhetik Einzug gehalten hat. Aus diesem Grund ziehen sie es vor, sie zu verstecken.

Die Tätowierungen stammen ursprünglich aus dem Gefängnis und stehen für Rang, Status, Identität und Loyalität? Könnten Sie über die Symbole sprechen, die Sie am häufigsten gesehen haben, und über die Tätowierungen, die immer wieder auftauchen?

Es beginnt mit einer Art Jugendring - das ist der erste Schritt zur Integration in die Bruderschaft. Jugendringe zeigen an, dass jemand sehr jung im Gefängnis angefangen hat, oft mit 14 oder 15. Die ersten Tätowierungen finden sich in der Regel in Form dieser Ringe an den Fingern, die den frühen Status im Gefängnis markieren.

Eine weitere sehr häufige Tätowierung ist der Stern, meist auf den Schultern oder darunter. Dieser symbolisierte den Widerstand gegen die kommunistische Obrigkeit - sie würden niemals vor Regierungsbeamten niederknien. Heute gibt es diese Bedeutung nicht mehr, aber damals war sie Teil des "Gesetzes" in ihrer Parallelgesellschaft. Selbst die Ausübung eines normalen Jobs außerhalb des Gefängnisses konnte inakzeptabel sein - sie lebten in ihrer eigenen sozialen Blase.

Nach den Ringen und Sternen gibt es die Spinne im Netz, die mit Punkten versehen ist. Die Richtung der Spinne hat eine Bedeutung: Wenn sie aufsteigt, bedeutet das, dass sie immer noch kriminell sind; wenn sie absteigt, bedeutet das, dass sie beschlossen haben, aufzuhören. Dann gab es Tätowierungen, die den Rang und den Status im Gefängnis anzeigten - wie militärische Ränge auf den Schultern.

Es gab auch Tätowierungen, die sich auf die orthodoxe Kirche bezogen, oft auf dem Rücken. Die Anzahl der Kreuze zeigte an, wie viele Jahre sie im Gefängnis verbracht hatten - je mehr Kreuze, desto angesehener waren sie.

Die Tätowierungen gaben ihnen auch eine Art von Freiheit im Gefängnis. Freiheit konnte etwas Einfaches sein, wie z. B. die Erlaubnis, Schach zu spielen, aber sie war auch bedeutsam. Teil der Gruppe oder Bruderschaft Vory v Zakone zu sein, war überlebenswichtig.

Fotograf Nicolas Wieërs u.a. mit einem Mann, den er für 'Surrounded by Criminals' portraitiert hat
Fotograf Nicolas Wieërs u.a. mit einem Mann, den er für 'Surrounded by Criminals' portraitiert hat Nicolas Wieërs

Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, diese Subkultur zu dokumentieren, bevor sie verschwindet?

Weil sie ein Teil der Geschichte ist. Jedes Land ist anders, mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Regeln. Es ist wichtig, seine Wurzeln zu kennen - ob man nun stolz auf sie ist oder nicht, zumindest muss man sein eigenes Erbe verstehen. Als Europäer, der in Moldaun lebt, war ich erstaunt über diese Subkultur.

So etwas finde ich in Belgien nicht. Diese Art von Subkultur gibt es dort nicht. In ganz Europa ist es für die Menschen, auch für die Moldauer, schwer, sie zu verstehen oder zu schätzen, weil sie nicht täglich mit ihr leben.

Haben Sie sich jemals eingeschüchtert oder verängstigt gefühlt, als Sie eines Ihrer Motive fotografierten?

Ja, ein paar Mal. Aber das lag nicht nur an mir - denn um sie zu treffen und ihre Gespräche zu verstehen, die meist in russischem Slang geführt wurden, musste ich mit einem Dolmetscher arbeiten. Ich musste mich auf fließend russische Muttersprachler verlassen.

Wenn man ihre Welt betritt, ist man sofort Diskussionen über Drogen, Messer und Gewalt ausgesetzt. Es ist eine Welt voller Armut und Gefahr, die völlig außerhalb meiner eigenen Welt liegt. Als junger europäischer Fotograf konnte das durchaus einschüchternd wirken. Aber letztendlich ist mir nie etwas passiert. Man muss es akzeptieren und sich darauf konzentrieren, die bestmöglichen Fotos zu machen.

Ein Mann zeigt seine Tattoos
Ein Mann zeigt seine Tattoos Nicolas Wieërs

Hat die Arbeit an diesem Projekt Ihre Sichtweise auf Verbrechen, Gerechtigkeit und Vergebung in der Gesellschaft verändert?

Ich würde nicht sagen, dass es meine Meinung geändert hat, aber es hat meine Sichtweise verstärkt. Was mir auffiel, war, wie bescheiden und gebildet diese Menschen waren. Es ist paradox - im Gefängnis hatten sie viel Zeit zum Lesen. Und sie waren sehr gut über ihre Subkultur informiert. Sie konnten die Bedeutung hinter den Tätowierungen erklären, warum bestimmte Tätowierungen gemacht oder nicht gemacht wurden. Es war, als würde man ein lebendes Wörterbuch öffnen.

Mein Standpunkt zur Kriminalität hat sich nicht geändert - sie waren Kriminelle, aber sie haben den Preis dafür bezahlt. Viele verbrachten Jahrzehnte hinter Gittern. Ich lernte Menschen kennen, die mit 14 Jahren ins Gefängnis kamen und dort jahrzehntelang ein- und ausgingen. Dennoch gab es in ihrer Welt Regeln: So war es beispielsweise verboten, Vergewaltigungen zu begehen oder eine ältere Frau zu bestehlen, und von den Mitgliedern wurde erwartet, dass sie sich gegenseitig helfen. Es war eine andere Art von Kriminalität als die, die wir heute auf den Straßen sehen.

Ich war wirklich beeindruckt von ihrer Mentalität. Viele waren ältere Männer, aber sie waren gute Menschen - sie lebten nicht wie chaotische Straßenkriminelle. Sie hatten in diesem System eine Menge gelernt. Deshalb bin ich stolz darauf, diesen Teil ihrer Kultur mit meinem Publikum in Brüssel teilen zu können.

Können Sie uns sagen, warum Sie sich für Schwarz-Weiß-Aufnahmen entschieden haben und was Sie mit Ihren Fotos einfangen wollten?

Für mich geht es beim Fotografieren um den Rahmen, die Begegnung mit Menschen, das Knüpfen von Kontakten und das Teilen von Emotionen. Mein Ansatz ist im Grunde eine Straßendokumentation. Ich bin kein großer Fan von Technik. Ich ziehe es vor, mit einem Minimum an Ausrüstung zu einem Motiv zu gehen. Ich wollte das Leben so einfangen, wie es passiert.

Deshalb sind alle Fotos in dieser Ausstellung wirklich dokumentarisch. Ich würde ein Foto machen, dann weitergehen, vielleicht einen weiteren Kontakt suchen und weitermachen. Für mich muss die Fotografie einfach bleiben - sie muss im Moment selbst gemacht werden.

Die Fotos wurden alle in Farbe aufgenommen, aber ich habe mich für Schwarz-Weiß entschieden, weil in diesen sozialen Blasen Farbe keine Rolle spielt - die Menschen sind am Ende ihres eigenen Weges, und Farbe ist für ihre Welt irrelevant. Ich möchte, dass sich der Betrachter auf das Gesicht, die Augen und die Tätowierungen konzentriert, ohne von der Farbe abgelenkt zu werden.

Um noch einmal auf das Thema der Ausstellung zurückzukommen: Was erhoffen Sie sich, dass die Menschen von diesem Projekt mitnehmen?

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist sehr kompliziert, sehr schwarz-weiß - oder manichäisch (in gut und böse vereinfachend, Anmerkung der Red.), wie wir im Französischen sagen - was bedeutet, dass man die Dinge strikt als gut oder böse betrachtet. Mit dieser Fotoausstellung wollte ich ein paar Nuancen hinzufügen. Wenn Menschen jemanden als Kriminellen bezeichnen, steckt oft eine tiefere Geschichte dahinter.

Einige dieser Menschen haben bereits ihre Schuldigkeit getan. Sie verdienen Respekt oder zumindest die Einbeziehung in die Gesellschaft. Das Ziel dieses Projekts ist es, unser Denken über Kriminalität zu nuancieren und zu zeigen, dass es nicht immer so einfach ist, wie es scheint.

"Surrounded by Criminals" ist bis zum 9. November 2025 an folgenden Orten zu sehen: AGORA Room in der Börse,

Studio NATHALIE AUZEPY L'Impératrice,

die Tattoo-Salons MUE Tattoo Shop und Inksane Tattoo & Piercing,

Le Poste - ein kreatives Zentrum in der ehemaligen Kaserne am Place du Jeu de Balle -

und in der Brussels Tattoo Convention im Tour & Taxis.

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