Die Bundestagswahl wird für die Ukraine weniger kritisch als die US-Wahl, so der ukrainische Journalist Denis Trubetskoy. Dennoch müsse die deutsche Unterstützung für die Ukraine langfristig gesichert werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz war Anfang der Woche überraschend in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw. Mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj besuchte er verwundete Soldaten und verkündete ein Rüstungspaket im Wert von 650 Millionen Euro, das noch im Dezember geliefert werden soll. In darauffolgenden Reden und Beiträgen auf den sozialen Medien bekräftigte er mehrmals, dass Deutschland an der Seite der Ukraine stehe.
In Deutschland stand Scholz Überraschungsbesuch hingegen im Schatten des Wahlkampfes für die kommende Bundestagswahl im Februar. Vom SPD-Vorstand wurde Scholz zwar einstimmig zum Kanzlerkandidaten nominiert, doch lag die Zufriedenheit mit dem Kanzler, laut dem ZDF-Politbarometer vom November, bei 35 Prozent, hinter Friedrich Merz und SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf seine Kandidatur verzichtet hatte.
In einer Rede über Sicherheitspolitik am Mittwoch hat CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz zudem eine Reise in die Ukraine "in den nächsten Tagen" angekündigt und wird somit noch vor Ende des Jahres in die Ukraine reisen. Vor seiner Reise forderte er die Schaffung einer Kontaktgruppe zwischen Deutschland, Frankreich, Polen und Großbritannien, um eine gemeinsame europäische Strategie zur Unterstützung der Ukraine zu entwickeln. Die Ukraine muss mit allen Mitteln unterstützt werden, so Merz, um den Krieg zu gewinnen.
Das 24-Stunden Ultimatum
Wie es mit der Unterstützung der Ukraine weitergehen soll, spielt für alle kandidierenden Parteien eine große Rolle. Vor wenigen Wochen schlug Merz in einem Spiegel-Interview vor, dass die Reichweitenbegrenzungen der vorhandenen Waffen gemeinschaftlich aufgehoben werden sollten, falls Russland innerhalb von 24 Stunden das Bombardement auf Zivilisten und zivile Infrastruktur nicht stoppen würde. Sollte dies nicht ausreichen, könne die Lieferung des Taurus eine Woche später erfolgen.
Scholz hat bislang auf "Besonnenheit" gesetzt und seinen CDU-Konkurrenten Friedrich Merz in einem Beitrag auf X unterstellt, dass dieser mit seinem Ultimatum an Russland einen Atomkrieg riskiert. "Ich kann da nur sagen: In Fragen von Krieg und Frieden braucht es keinen unberechenbaren Oppositionsführer, sondern einen kühlen Kopf", heißt es in seinem Beitrag. Merz beschuldigte Scholz daraufhin, Kriegsangst zu schüren. Mittlerweile widerspricht Merz jedoch seiner eigenen Aussage, dass er Putin ein Ultimatum gestellt hätte.
Laut dem ukrainischen Journalisten Denis Trubetskoy war seine Aussage trotzdem völlig legitim. "Im Prinzip hat er gesagt, dass Russland den Beschuss der ukrainischen zivilen Infrastruktur einstellen sollte, sonst liefert Deutschland mit Taurus weitreichende Waffen. Das ist ehrlicherweise keine radikale Position, da die Ukraine bereits Storm Shadow und ATACMS auf russischem Gebiet einsetzen darf", erklärt er im Gespräch mit Euronews aus einem Café in Kyjiw. Zu Hause konnte er das Gespräch nicht führen, da aufgrund intensivierter russischer Angriffe auf die Energieinfrastruktur ukrainischen Haushalten stundenlang kein Strom zur Verfügung steht.
Trubetskoy kritisiert daraufhin weder Scholz Reaktion auf die Aussage von Merz, noch lobt er dessen Ultimatum, da er dieses als Populismus einordnet und die Reaktionen in der Gesellschaft als weitaus größere Gefahr sieht. "Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Krieg, oder zumindest die Phase der aktiven Kampfhandlungen womöglich noch Jahre andauern können. Letztlich wird von der Stimmung in Deutschland vieles abhängen", erklärt er.
Denn, die Wichtigkeit Deutschlands für die Ukraine ist nicht zu unterschätzen, meint der Journalist. Wenn die Finanzhilfe aus den USA verringert, oder gar gestrichen wird, liegt die Last der finanziellen Unterstützung auf den Schultern der EU und auch Deutschlands. USAID hat der Ukraine dieses Jahr erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, darunter 1,75 Milliarden USD für die Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft, 32 Millionen USD für die Korruptionsbekämpfung und zusätzliche humanitäre und Haushaltshilfe. Berichten zufolge umfasst die gesamte USAID-Hilfe seit Ausbruch der Vollinvasion über 3 Milliarden USD für humanitäre Hilfe sowie langfristige Entwicklungs- und Governance-Projekte.
Laut einem Bericht der Bundesregierung hat Deutschland der Ukraine im Jahr 2024 etwa 1,2 Milliarden Euro für humanitäre und wirtschaftliche Unterstützung zugesagt. Diese fließen in verschiedene Bereiche, darunter Energieversorgung, Infrastruktur, Gesundheitswesen und die Unterstützung der Regierung bei der Stabilisierung ihrer Wirtschaft.
Trotz dieser Wichtigkeit seien die Bundestagswahlen für die ukrainische Bevölkerung seiner Meinung nach nicht so besorgniserregend wie die vergangenen Wahlen in den USA. "Die US-Wahl wurde hier teilweise zu einem Thema für Küchengespräche, auf die zum Teil fatalistisch geschaut wurde." Ukrainer wussten, dass sie mit dem Ergebnis der Wahl leben müssen und ihr Leben direkt davon beeinträchtigt werden könnte. Doch, "dass der Bruch der Ampel gerade ziemlich auf den Punkt genau an dem Tag kam, als Trump gewonnen hat, war natürlich schon ein Faktor der Beunruhigung", erklärt Trubetskoy.
"Allerdings muss ich sagen, dass der Termin für die vorgezogene Bundestagswahl relativ schnell gefunden wurde und nicht mehr so weit in der Zukunft liegt. Wenn wir auf das mögliche Wahlergebnis schauen, dürften sich die Ukrainer halbwegs entspannen." Seiner Meinung nach wären eine Koalition aus der CDU und den Grünen oder eine Große Koalition, Ergebnisse, mit denen die Ukraine zufrieden sein kann. "Das würde im Kern bedeuten, dass zumindest nach dem 23. Februar die Unterstützung der Ukraine bestehen bleibt." Ob ein möglicher Bundeskanzler Merz einen komplett anderen Kurs fährt als Scholz, bezweifelt Trubetskoy.
Wahlkampf auf Kosten der Ukraine?
Bis es zu dem Punkt kommt, wird in Deutschland allerdings erstmal Wahlkampf geführt. Es besteht die Gefahr, dass der Wahlkampf zum Teil auf den Schultern der Ukraine betrieben wird. "Das ist natürlich perspektivisch auch für die Stimmung in Deutschland ein potenzielles Problem", erklärt Trubetskoy und spielt auf die regelmäßig immer wieder neu entflammte Taurus-Debatte an. "Es muss so schnell wie möglich ein Umdenken stattfinden, was die allgemeine Unterstützung für die Ukraine anbetrifft. Die Ukraine bräuchte jetzt grob gesagt, ohne konkrete Daten zu zitieren, 300 Marder, 500 Leos, erhöhte Munitionsproduktion, und so weiter. Es ist natürlich deutlich leichter über ein einziges Waffensystem zu diskutieren, als all diese Fragen, die wirklich schwierig umzusetzen sind, anzusprechen, wo man eine Debatte in der Bevölkerung anstoßen könnte, die möglicherweise komplizierter ausfallen würde."
Eine aktuelle Umfrage der Körber-Stiftung ergab, dass 57 Prozent der Deutschen militärische Hilfe für die Ukraine befürworten. 40 Prozent der Bevölkerung sind dagegen. Am stärksten ist die Ablehnung bei den Anhängern des Bündnisses Sahra Wagenknecht mit 91 Prozent und 78 Prozent der AfD-Wähler. Aber auch 35 Prozent der CDU-Wähler sind gegen die Militärhilfe für die Ukraine.
Scholz beteuert regelmäßig, dass Deutschland an der Seite der Ukraine stehe "so lange wie nötig" und präsentiert sich als sogenannter "Friedenskanzler". Was Trubetskoy kritisiert, sind die, seiner Meinung nach, völlig unrealistischen Friedensvorschläge. "Einfach weil es keine Menschen gibt, die den Frieden mehr wollen als die Ukrainer. Nur gibt es da diesen Mann im Kreml mit seinen Vorstellungen. Und dieser Mann sieht sich auch aktuell auf der Gewinnerseite", fügt Trubetskoy hinzu und ist derselben Meinung wie andere Experten, dass Putin keine Verhandlungen sucht, sondern den Krieg weiterführen will.
So schreibt Forschungsgruppenleiterin für Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, Claudia Major, diesbezüglich in einem Beitrag auf X: "Frieden ist das Ziel. Russland kann Frieden einfach erreichen, in dem es aufhört, die Ukraine anzugreifen. Es entscheidet sich aber, weiter das Land zu zerstören und die Bevölkerung zu vernichten."
Das Telefonat
Vor wenigen Wochen war der deutsche Bundeskanzler der erste westliche Regierungschef, der den russischen Präsidenten angerufen hat und diesen somit aus seiner Isolation vom Westen befreit hat. Das Telefonat hat einige NATO-Staaten und die Ukraine verärgert. Scholz habe Putin gesagt, dass er seine Truppen aus der Ukraine abziehen soll. Putin ist auf diese Forderung nicht eingegangen und wenige Tage nach dem Telefonat hat Russland die ukrainische Stadt Dnipro zum ersten Mal mit der ballistischen Mittelstreckenrakete "Oreschnik" angegriffen.
"Ich glaube, es herrschte ziemlich großes Unverständnis wegen des Telefonates. Dieses Unverständnis war gut begründet, einfach weil man nicht verstehen konnte, was ein de facto scheidender Bundeskanzler ohne Mehrheitsregierung Wladimir Putin, der sich ganz klar auf der Gewinnerseite in diesem langen Krieg sieht, überhaupt anbieten kann", sagt Trubetskoy und fügt hinzu, dass er denkt, dass dieses Gespräch ein Teil des SPD-Wahlkampfes war.
Objekt einer möglichen Wahlkampfstrategie zu sein ist ein Gefühl, dass Trubetskoy als "extrem unangenehm" beschreibt. "Das war schon im US-Wahlkampf so", ergänzt er. "Man fühlt sich natürlich auch ein bisschen ausgenutzt. Das ist klar. Aber wir müssen mit dieser Situation klarkommen. Wir sind von der westlichen Hilfe abhängig und ohne Hilfe aus den USA und Deutschland würde es dieses Land eventuell gar nicht mehr geben, zumindest in der derzeitigen Form. Deswegen gilt im Endeffekt einfach das zynische und pragmatische 'Augen zu und durch'!"
Nach über 1.000 Tagen hat Trubetskoy das Gefühl, dass viele Menschen außerhalb der Ukraine immer noch kein Verständnis dafür haben, dass Putin nicht nur die Besatzung und Einnahme ukrainischer Regionen anstrebt, sondern die Vernichtung des Staates. Bereits vor der Vollinvasion hat Putin in Reden und Aufsätzen die Existenz des Landes geleugnet.
Für Trubetskoy ist Russlands Angriffskrieg ein Krieg der Vergangenheit gegen die Zukunft. "Es ist immer klar, dass die Zukunft solche Kriege gewinnt. Allerdings ist es dabei leider nicht bei weitem sicher, ob wir hier konkret in der Ukraine diesen Krieg überleben werden."