Die neuen Leitlinien aus Brüssel stellen eine neue Architektur dar, die den nationalen Behörden einen größeren Handlungsspielraum einräumt.
Die Europäische Kommission hat Polens umstrittenen Plan zur Einführung einer zeitlich und räumlich begrenzten Aussetzung des sowohl im europäischen als auch im internationalen Recht verankerten Asylrechts politisch gebilligt. Es ist eine Reaktion auf die Migrationsströme, die Russland und Weißrussland gegen die Ostgrenze des Blocks richten.
Die Billigung gilt auch für alle anderen Mitgliedstaaten, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, einschließlich Finnland, das ein Notstandsgesetz eingeführt hatte, das Migranten daran hindert, Asylanträge zu stellen, und die Grenzbeamten ermächtigt, sie zurückzudrängen.
Die Aussetzung von Grundrechten kann erlaubt werden, sofern sie verhältnismäßig und vorübergehend ist und sich auf das beschränkt, was "unbedingt notwendig" ist, um der von Russland und Weißrussland ausgehenden Sicherheitsbedrohung zu begegnen, so die Exekutive am Mittwoch in neuen Leitlinien.
"Die Kommission klärt die Ausnahmesituationen, in denen die Mitgliedstaaten auch außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen können", so Henna Virkkunen, Vizepräsidentin der Kommission und zuständig für technische Souveränität, Sicherheit und Demokratie.
"Zum Beispiel können sie die Ausübung des Asylrechts einschränken, aber das muss unter sehr strengen Bedingungen und innerhalb der gesetzlichen Grenzen geschehen."
Kehrtwende in der Migrationspolitik?
Die Einschätzung stellt eine Kehrtwende der Kommission dar: Als Premierminister Donald Trusk die polnische Initiative Mitte Oktober erstmals vorstellte, reagierte Brüssel umgehend mit einer ausdrücklichen Warnung und erinnerte Warschau an seine "Verpflichtung, den Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten".
Humanitäre Organisationen kritisierten den noch nicht umgesetzten Vorschlag scharf, Amnesty International nannte ihn "eklatant rechtswidrig".
Tage später nahm Tusk an einem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs teil und argumentierte, sein Plan stelle eine existenzielle Angelegenheit für die nationale Sicherheit dar. Tusks Argumentation war erfolgreich und beeinflusste den endgültigen Wortlaut der Schlussfolgerungen des Treffens, die sich wie eine Bestätigung lesen.
"Ausnahmesituationen erfordern angemessene Maßnahmen", schrieben die EU-Chefs.
Die Leitlinien vom Mittwoch bekräftigen diesen Grundsatz und stellen eine neue Architektur dar, die den nationalen Behörden einen größeren Handlungsspielraum einräumt, um Migrationsströme einzudämmen, die von Russland und Belarus manipuliert werden, um Chaos zu stiften und die Innenpolitik zu destabilisieren.
Dieses Phänomen, das als hybride Kriegsführung bezeichnet wird, begann im Sommer 2021, als Minsk nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus, die die EU nicht anerkennen wollte, einen Zustrom von Migranten an die Ostgrenze der EU schickte.
'Nächste Stufe der Bedrohung'
Seitdem sind die Migrationsströme zwar zurückgegangen. Mit Hilfe Russlands, das zahlreiche Methoden wie Infrastruktursabotage und Energieerpressung probierte, um sich für die EU-Sanktionen zu revanchieren (die wegen des Ukraine-Krieges verhängt wurden), gehen sie aber grundsätzlich weiter.
"Wir haben eine anhaltende und ernste Situation an der Ostgrenze mit einem erheblichen Anstieg der illegalen Einreisen, insbesondere an der polnisch-weißrussischen Grenze", so Virkkunen. Er beschuldigt den Kreml, Studenten- und Touristenvisa an Migranten mit geringem Einkommen zu verteilen und sie mit "Vorrichtungen" auszustatten, um europäische Grenzbeamte anzugreifen.
"Wir haben wirklich die nächste Stufe der Bedrohung erreicht", betonte sie.
Nach Angaben von Frontex, der EU-Agentur für Grenz- und Küstenwache, wurden zwischen Januar und November dieses Jahres an der Ostgrenze 2.683 irreguläre Grenzübertritte von nicht-ukrainischen Staatsangehörigen registriert. Die meisten Staatsangehörigen kamen aus Äthiopien (426), Somalia (415), Eritrea (405) und Syrien (365), also aus Ländern, in denen Krieg herrscht und die Abschiebungen schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen.
Dennoch waren Ukrainer, die vor dem Krieg flohen, mit 13.847 Grenzübertritten die größte Gruppe. Ukrainer erhalten nach einem speziellen EU-Gesetz sofortigen Schutz.
Zweifel an der Praxis der Zurückweisung
Während einer Pressekonferenz wurde Virkkunen wiederholt gefragt, ob die neuen Richtlinien den Mitgliedstaaten erlauben, Migranten zurückzudrängen, eine Praxis, die nach EU- und internationalem Recht verboten ist. Am Dienstag veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht, in dem Polen beschuldigt wird, Asylbewerber gewaltsam abzuschieben, wenn sie polnisches Hoheitsgebiet betreten haben.
Virkkunen sprach sich nicht kategorisch gegen Pushbacks aus, wie es die Kommission in der Vergangenheit immer getan hatte. Beobachter werten die Haltung als Spiegelung eines politischen Rechtsrucks, der die Migrations- und Asylpolitik der EU rapide umgestaltet.
"Die Mitgliedstaaten können in solchen Fällen außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen, aber sie müssen immer mit dem internationalen Recht und auch mit unserem Unionsrecht in Einklang stehen", sagte die Vizepräsidentin, als sie gebeten wurde, eine Ja/Nein-Antwort auf die Frage der Pushbacks zu geben.
Sicherheitsfrage stehe im Mittelpunkt
"Wir sprechen hier nicht über Migrationspolitik. Hier geht es um Sicherheit. Es ist eine Sicherheitsfrage", antwortete sie, als sie um eine Klarstellung gebeten wurde.
Eine Fußnote in den Leitlinien besagt, dass die Mitgliedstaaten selbst unter außergewöhnlichen Umständen den seit langem geltenden Grundsatz des Non-Refoulment (Nichtzurückweisung) beachten müssen,* der es den Behörden verbietet, Migranten an einen Ort zu schicken, an dem sie ernsthaft Gefahr laufen, verfolgt, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden.
Die Kommission hat nicht präzisiert, ob die Rückführung von Migranten nach Weißrussland einen Verstoß gegen diesen Grundsatz darstellen würde. In dem Bericht von Human Rights Watch wurde beschrieben, wie Asylbewerber nach ihrer Ausweisung durch polnische Wachen harten Bedingungen im Freien oder körperlicher Misshandlung durch belarussische Beamte ausgesetzt waren, die sie häufig zur Rückkehr nach Polen zwangen.
Offene Fragen
Die Kommission klärte auch nicht, was mit Migranten geschieht, denen das Asyl verweigert und die Einreise in das EU-Gebiet untersagt wird.
Euronews hat bei der Sprecherstelle um weitere Erklärungen gebeten.
Olivia Sundberg, Anwältin für Migration und Asyl bei Amnesty International, warnt davor, dass Maßnahmen, die unter dem Deckmantel von "außergewöhnlichen Umständen" eingeführt werden, leicht auf unbestimmte Zeit verlängert werden könnten. Das könnte eine neue Normalität schaffen.
"Die Kommission war nicht bereit, diese Praktiken zu hinterfragen, um sicherzustellen, dass sie mit EU- und internationalem Recht übereinstimmen", so Sundberg gegenüber Radio Schuman, dem werktäglichen Euronews-Podcast. "Wir haben viele Reden und eine Reihe von Gesetzesvorlagen gesehen, die eine Art Ausnahmezustand an den europäischen Grenzen normalisieren."