Die Republik Estland reformiert das Schulsystem. Russisch wird als Unterrichtssprache bis 2030 schrittweise abgeschafft. Bald werden alle Kinder nur noch auf Estnisch unterrichtet – auch in den mehrheitlich russischsprachigen Gebieten im Nordosten.
Russisch gibt es dann nur noch als Fremdsprache. Russische Muttersprachler in Estland befürworten die Reform: Ihre Kinder haben dadurch bessere Chancen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
In den baltischen Staaten leben viele Menschen, die Russisch als Muttersprache haben - vor allem in Lettland (38%) und Estland (28%). In der estnischen Hauptstadt Tallinn wächst fast jedes zweite Kind mit Russisch auf. Im Nordosten des Landes ist Russisch noch weiter verbreitet. Narva, Estlands drittgrößte Stadt, liegt direkt an der Grenze zu Russland. Über 90 Prozent der Menschen sprechen Russisch.
Kurze Zeitreise: Der sowjetische Diktator Stalin ließ Zehntausende Litauer, Letten und Esten nach Sibirien deportieren. Im Gegenzug wurden Russen im Baltikum angesiedelt. Ethnische Deportationen und Russifizierung gingen Hand in Hand. Die Russifizierung ging auch nach dem Tod Stalins weiter: Es kamen Industriearbeiter und Besatzungssoldaten, die sich vor allem in den großen Städten ansiedelten. Die Amtssprache in den sowjetisch besetzten Gebieten des Baltikums war Russisch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 erlangten Litauen, Lettland und Estland ihre staatliche Unabhängigkeit zurück und Litauisch, Lettisch und Estnisch lösten das Russische als Amtssprache ab.
Heute fürchten die baltischen EU-Staaten, dass Putin versucht, die russischen Minderheiten zu manipulieren. Moskau-kontrollierten Sendern wurde nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Rahmen von EU-Sanktionen deshalb die Lizenz entzogen. Und Lettland und Estland führen flächendeckend Lettisch und Estnisch als alleinige Unterrichtssprache an allen Schulen ein.
Neun von zehn Menschen in Narva haben Russisch als Muttersprache. Die Stadt im Nordosten gehört zu Estland. Auch hier wird bis 2030 alles auf Estnisch umgestellt. Was halten die russischsprachigen Eltern davon, dass ihre Kinder auf Estnisch unterrichtet werden? Irina holt ihre Erstklässler-Tochter Ella von der Schule ab: “Es ist schwer! Ella braucht Nachhilfe, denn sie war zuvor im russischsprachigen Kindergarten.” – Maria schiebt einen Kinderwagen vor sich her und meint: “Ich finde die Reform richtig. Wir leben in Estland. Man muss die Landessprache beherrschen.”
Ein beim Europarat angesiedeltes Gremium für Minderheitenrechte monitorte das Schulsystem. Die Vereinten Nationen schickten ebenfalls Experten. Auch im estnischen Erziehungsministerium bereitet es Sorgen, dass die “russischen Schulen” in Estland bei Wissenstests ein ganzes Jahr hinterherhinken.
Warum kommt die Schulreform erst jetzt? Im Euronewsinterview sagt Ministerin Kristina Kallas: “Es fehlte lange Zeit an politischem Durchsetzungsvermögen, denn es gab heftige russische Einmischungsversuche. - In einer gewissermaßen sehr traurigen Art und Weise war die russische Aggression gegen die Ukraine das entscheidende Element, den Widerstand gegen diese Schulreform zu brechen. Meine große Sorge ist, dass die Existenz eines getrennten russischsprachigen Erziehungssystems für die russischsprachigen Kinder negative Auswirkungen hat. Dieses völlig getrennte Parallel-Erziehungssystem hat dazu geführt, dass die russischsprachigen Kinder nach dem Abschluss dieser (russischen) Schulen von weiterführenden estnischen Bildungswegen völlig ausgeschlossen sind, das gilt auch für den Arbeitsmarkt. Wir müssen also dieses Schulsystem reformieren und gleichen Zugang zu Unterricht auf Estnisch ermöglichen.”
Was ist das Ziel der estnischen Integrationsstrategie? Kallas: “Für die Generation, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands geboren wurde ist es notwendig, dass sie sich selber als Esten sehen und mit der estnischen Nationalität identifizieren - ohne deshalb ihr Gefühl des Russisch-Seins aufgeben zu müssen. Das sind keine sich wechselseitig ausschließenden Identitäten.”