30 Prozent der Wähler sind noch unentschlossen. Ein KI-Chatbot soll helfen, die Wahlprogramme zu verstehen – ohne hunderte Seiten zu lesen. Wie das geht, erklärt einer der Entwickler im Interview mit Euronews.
An diesem Wochenende sind rund 60 Millionen Deutsche dazu aufgerufen zu wählen. Doch laut Umfragen sind noch rund 30 Prozent unentschlossen, wem sie am Sonntag ihre Stimme geben sollen.
Gerade für sie sind Tools wie der Wahl-O-Mat besonders hilfreich. Sie helfen, Parteien und Programme zu finden, die den eigenen Werten am ehesten entsprechen. Neben dem Wahl-O-Mat gibt es nun eine weitere Möglichkeit, sich über die Regierungsprogramme zu informieren – ohne hunderte Seiten zu lesen.
Der Wahl.Chat ist ein KI-gestützter Chatbot, entwickelt von einer Gruppe deutscher Doktoranden der renommierten britischen Universität Cambridge. Ihr Ziel: Politik zugänglicher machen und Wählern eine einfache Orientierung bieten.
Euronews hat mit Michel Schimpf, einem der Entwickler, gesprochen – über die Frage, wie man einen politischen Chatbot unpolitisch macht und wie er die Wähler für Politik begeistern soll.
Euronews: Wie kam es zur Entwicklung des Chatbots?
Michel Schimpf: Wir sind ein fünfköpfiges deutsches Team, das nach Cambridge an die Uni gekommen ist, um zusammen zu forschen. Wir haben beim Mittagessen, wie viele andere momentan wahrscheinlich auch, viel über Politik geredet. Wir haben uns überlegt, was unser kleiner Beitrag dazu sein könnte.
Dann sind wir auf die Wahl gekommen und haben einfach mal angefangen zu programmieren. Den Bot haben wir vor knapp einem Monat gelauncht. Seitdem ging alles ziemlich schnell.
Euronews: Wie funktioniert der Chatbot?
Michel Schimpf: Wenn Nutzer Fragen zu einer bestimmten Partei haben und wissen wollen: "Okay, was sagt die Partei X jetzt zum Beispiel zur Bildungspolitik?" Dann kann man bei uns zum Chatbot gehen und die Partei auswählen und danach fragen.
Zum Beispiel: Was wollt ihr für bessere Bildung tun? Oder: Wie wollt ihr die Wirtschaft ankurbeln? Und dann gibt unser Chatbot basierend auf dem Wahlprogramm der Parteien eine Antwort.
Man kann zusätzlich auch noch mehrere Parteien anklicken und sie vergleichen.
Sonst, wenn man zum Beispiel versuchen würde, fünf Wahlprogramme gleichzeitig zu öffnen, würde das ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Mit unserem Chatbot kann man zu den Themen, die einen persönlich interessieren, einfach fragen.
Euronews: Das Ziel war also, die Entscheidungsfindung für potenzielle Wählerinnen und Wähler zu erleichtern?
Michel Schimpf: Genau. Wir versuchen im allgemeinen Politik ein Stückchen transparenter machen.
Euronews: Wie wurde der Chatbot generell angenommen?
Michel Schimpf: Sehr gut. Man kriegt natürlich auch Feedback und manche Sachen funktionieren auch noch nicht so gut und es gibt dann logischerweise Probleme, dass man Parteien ausgewählt hat und dann fliegen die wieder raus aus dem Chat - und so weiter.
Grundsätzlich können wir sagen, dass die Resonanz wirklich extrem gut ist.
Wir hören zum Beispiel auch von Lehrern, dass sie das Tool für ihren Unterricht nutzen und sich damit jetzt auf die Wahl mit ihren Schülern vorbereiten. Oder wir hören von Politikern, dass sie das benutzen, um selber die Wahlprogramme der anderen Parteien besser zu verstehen und zu gucken, was da wirklich drinsteht.
Oder sogar, um die eigenen Wahlprogramme besser zu verstehen. Bei 100 oder mehr Seiten ist das ja auch nicht so einfach.
Euronews: Was ist das langfristige Ziel?
Michel Schimpf: Wir bauen immer mehr Quellen ein. Wir werden auch die Reden der Politiker, die in letzter Zeit gehalten wurden, in den Chatbot mit reinnehmen. Es gibt einfach so viele politische Informationsquellen und das kann ja quasi niemand durchschauen, selbst Leute, die das hauptberuflich machen.
Wir wollen eine Möglichkeit schaffen, mit der man sich personalisierter und einfacher über Politik informieren kann.
Euronews: Wie ist euer Verhältnis zur KI generell?
Michel Schimpf: Genau. Also ich mache einen PHD zum Thema KI im Psychologiebereich und auch alle Leute, die mit mir im Team sind, forschen mit mir zusammen. Und wir haben vorher KI auch schon angewandt, auch in sehr kritischen Bereichen wie zum Beispiel bei psychologischen Interventionen. Wir bringen deswegen schon einiges an Erfahrung mit.
Euronews: Welche Einsatzmöglichkeiten gibt es bei der KI in Richtung der politischen Entscheidungsfindung?
Michel Schimpf: Da gibt es viele Möglichkeiten.
Das Wichtigste ist, Transparenz zu schaffen. Auch die Bundestagsreden werden ja zum Beispiel alle transkribiert und da gibt es extrem viele Informationen und sicher auch ganz viele wertvolle Sachen, die drin sind.
Wer hat die Zeit, sich das alles durchzulesen? Mit unserem Chatbot wird das irgendwann viel einfacher sein.
Euronews: Ist es nicht ein schwieriges Ziel, einen Chatbot wirklich hundertprozentig objektiv zu halten?
Michel Schimpf: Das stimmt. Aber man muss auch sagen: was sind die Alternativen? Nachrichten sind ja auch nicht immer komplett objektiv – also, wenn man jetzt auf Facebook, X und Co. geht, ist das nicht objektiv.
Insgesamt braucht man immer seinen eigenen gesunden Menschenverstand. Man muss schauen, wie die Quellen aussehen. Das ermöglichen wir auch.
Man kann bei uns mit einem Klick direkt auf die Quellen klicken und sehen, was wirklich in den Wahlprogrammen drinsteht.
Das ist ein Problem von KI, was wir sicher auch haben, aber ich denke, dass es ein viel geringeres Problem sein wird als bei anderen Quellen.
Euronews: Wenn der Bot voreingenommen wäre, wäre das durchaus problematisch. Wie geht man bei der Programmierung damit um?
Michel Schimpf: Unsere KI ist grundsätzlich dazu angewiesen, keine wertenden Adjektive zu benutzen und quellenbasiert zu arbeiten. Und dann ist man mit einem Klick bei der Quelle. Dazu gibt es auch Forschung.
Die Modelle übernehmen teils die Charakteristiken der unterliegenden Daten, aber es ist sehr schwierig, da aktuell zu sagen: Okay, ist das jetzt mehr links oder ist es mehr rechts?
Das Modell ist angewiesen, möglichst objektiv zu sein. Ich finde, das klappt auch sehr gut.
Wenn man es ausprobiert, ist es sehr nüchtern. Meiner Meinung nach könnte man das schon sehr viel reißerischer gestalten. Ich denke, so wie es jetzt ist, funktioniert es gut.
Euronews: Wie sieht die Zukunft für den Chatbot aus?
Michel Schimpf: Die KI-Modelle, die es bereits gibt, sind schon gut genug, um fast alles damit zu machen. Da fühlen wir uns wenig limitiert.
Das Problem ist nur, dass es extrem teuer ist. Ich glaube, auf unserer Webseite sieht man, dass der Betrieb uns rund 250 € am Tag kostet. Das ist aber schon ein bisschen veraltet. Mittlerweile liegen die Kosten eher bei 500 €. An manchen Tagen ist es sogar noch teurer. Das ist gerade unser größtes Problem.
Euronews: Deutschland ist eine Sache, soll das Modell ausgeweitet werden?
Michel Schimpf: Wir überlegen da viel. Mir haben auch schon Leute geschrieben, die gesagt haben: "Ich bin aus Land XY eingewandert nach Deutschland und denke, dass es in meinem Land auch ziemlich relevant wäre."
Es gibt auch Leute, die uns nach der Übersetzung in andere Sprachen gefragt haben. Wir finden, dass es so ein Tool wie den Chatbot auf jeden Fall braucht in der Demokratie. Man kann damit sehr viel Gutes tun.
Wir uns deswegen auch sehr gut vorstellen, das weiterzumachen.