Die Lage der Streitkräfte in ganz Europa ist angespannt. Die Verteidigungshaushalte sind in vielen Ländern knapp. Die NATO-Verbündeten erwägen jetzt die Einführung einer Wehrpflicht.
Nach dem Kalten Krieg haben die europäischen Länder ihre Armeen systematisch verkleinert. Wichtige Akteure wie Frankreich setzten die Wehrpflicht aus und verzeichneten einen entsprechenden Rückgang ihrer Streitkräfte - von den 1990er Jahren bis heute um ganze 38 Prozent.
Nur Österreich, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Norwegen, die Schweiz und die Türkei haben die Wehrpflicht nie ausgesetzt.
"Jetzt geht es vor allem darum, genügend Truppen zu haben, um die Position zu halten. Nicht unbedingt, um die Russen zu bekämpfen, sondern, um eine starke Botschaft der Abschreckung zu senden", sagte Dr. Alexandr Burilkov, Forscher an der Leuphana Universität Lüneburg, gegenüber Euronews.
"Diese Botschaft soll lauten: Solltet ihr bei uns versuchen, was ihr im Februar 2022 in der Ukraine getan habt, wird es nicht gelingen", so Burilkov unter Verweis auf das Startdatum der russischen Invasion in der Ukraine.
Burilkov ist einer der Co-Autoren einer gemeinsamen Analyse der Denkfabrik Bruegel und des Kieler Instituts, in der geschätzt wird, dass Europa zusätzlich zu den derzeit 1,47 Millionen aktiven Militärs, einschließlich der britischen, 300.000 zusätzliche Soldaten benötigt, um sich zu verteidigen.
"In den letzten zwei Jahren haben die Russen ihre Wirtschaft und Gesellschaft weitgehend auf den Krieg eingestellt", sagte Burilkow und fügte hinzu, "dass eine Steigerung der Verteidigungsausgaben, wenn man sie gemeinsam durchführt, keine untragbaren Kosten verursacht". Insbesondere dann, wenn man die möglichen Konsequenzen eines Angriffs durch unzureichende Abschreckung bedenke.
Die NATO-Verbündeten diskutieren derzeit, wie sie dies tun können, sowohl in Bezug auf die Ausrüstung als auch auf das militärische Personal. Die Einführung der Wehrpflicht ist Teil der Debatte, sagte ein NATO-Beamter gegenüber Euronews und fügte hinzu, dass zur Gewährleistung einer kollektiv wirksamen Verteidigung im derzeitigen Umfeld mehr Kapazitäten benötigt werden.
"Wie diese Kapazitäten aufgebaut werden sollen, ob durch Wehrpflicht, Reservekräfte oder ein anderes Modell, ist eine nationale Entscheidung, die von den Verbündeten getroffen werden muss", so derselbe Vertreter.
Das transatlantische Militärbündnis schreibt keine nationale Militärpolitik vor, kann aber eine Rolle bei der Festlegung des Bedarfs spielen und den Austausch zwischen den Verbündeten erleichtern. Der Vertreter fügte hinzu, dass Debatten über die potenzielle Rolle der NATO bei der Bewältigung von Problemen in der Rekrutierung und Bindung von Soldaten in den kommenden Monaten ganz oben auf der Tagesordnung des Bündnisses stehen werden.
Als Folge der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine haben baltische Staaten wie Lettland und Litauen verschiedene Wehrpflichtmodelle eingeführt, um ihre Streitkräfte zu vergrößern.
Auch Kroatien plant die Wiedereinführung der Wehrpflicht in diesem Jahr. Weitere Länder könnten folgen. Die Geheimdienste warnen vor einem möglichen russischen Angriff auf einen NATO-Mitgliedstaat innerhalb von fünf Jahren, die Unsicherheit über Donald Trumps Interesse an der NATO und der europäischen Sicherheit wächst.
"Um widerstandsfähige Streitkräfte zu haben, die nicht nur in der Anfangsphase eines Konflikts bestehen, sondern notfalls auch weiterkämpfen können, müssen wir in der Lage sein, ein System einzuführen, das sowohl die Zahl der verfügbaren Soldaten als auch die Widerstandsfähigkeit erhöht", argumentierte Burilkov und verwies auf die Wehrpflicht sowie auf gut ausgebildete und effiziente Reservisten.
Lehren aus dem baltischen Modell
Finnland und Estland haben eine generelle Wehrpflicht. Dänemark, Litauen und Lettland verwenden hingegen ein lotteriegestütztes Einberufungssystem, während in Norwegen und Schweden eine selektive Wehrpflicht besteht.
Eine Einheitslösung ist nicht vorhanden. Forscher von Carnegie Europe haben in einem Strategiepapier von 2024 argumentiert, dass man vor allem von den nordischen und baltischen Staaten lernen kann. Diese Länder haben verschiedene Anreize eingeführt, um den Militärdienst attraktiver zu machen, darunter finanzielle Vorteile und Beschäftigungsmöglichkeiten.
Litauen beispielsweise bietet denjenigen, die sich freiwillig zum Militärdienst melden, finanzielle Unterstützung sowie Beschäftigungs- und Bildungshilfen während und nach dem Militärdienst. Die estnischen Streitkräfte hingegen kooperieren mit privaten Arbeitgebern im Rahmen von Programmen wie der "Cyber Conscription", bei der die Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zum Cyberdienst schicken, um Fähigkeiten zu entwickeln, die sie dann in ihrem Beruf anwenden können.
"Viele Vertreter der nationalen Streitkräfte überdenken derzeit, welche Aufgaben militärisch und welche zivil gelöst werden müssen, weil sich die Art der Kriegsführung und die nationale Sicherheitlage ändern", so Linda Slapakova, Forscherin bei RAND Europe.
Dennoch sind sich nicht alle einig über die Notwendigkeit, die Wehrpflicht wieder einzuführen. In einigen Ländern ist eine derartige Maßnahme rechtlich unmöglich, in anderen politisch nicht plausibel oder in der Praxis unwahrscheinlich.
"Wenn man sich nur das Militär anschaut, ist ausreichend Ausbildungsinfrastruktur erforderlich, um die Leute medizinisch zu untersuchen und sie dazu zu bringen, sich für ihre Ausbildung und den Dienst zu verpflichten", sagte Slapakova gegenüber Euronews und betont, dass diese Art von Infrastruktur in vielen Ländern nicht existieren würde.
"Wenn das Ziel darin besteht, die Fähigkeiten der Streitkräfte zu verbessern, denke ich, dass es eine Menge anderer Probleme gibt, mit denen sich die Länder befassen müssen, bevor sie etwas wie die Verpflichtung junger Menschen zum Militär- oder Zivildienst in Betracht ziehen", fügte sie hinzu.
Eine im letzten Jahr durchgeführte Gallup-Umfrage ergab, dass nur 32 Prozent der EU-Bürger bereit wären, ihr Land im Kriegsfall zu verteidigen.
In den großen EU-Volkswirtschaften wie Italien, Deutschland und Spanien waren die Zahlen sogar noch niedriger: Nur 14 Prozent der Italiener, 23 Prozent der Deutschen und 29 Prozent der Spanier gaben an, dass sie bereit wären, im Kriegsfall für ihr Land zu kämpfen.