Verfassungsreform beherrscht Parlamentswahl in der Türkei

Verfassungsreform beherrscht Parlamentswahl in der Türkei
Von Euronews
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Unmittelbar vor der als historisch geltenden Parlamentswahl am Sonntag in der Türkei sprach euronews mit Vertretern der beiden wichtigsten Parteien. Ein hoher Wahlsieg ist entscheidend für die von Ministerpräsident Erdogan angestrebte Verfassungsreform, betont Bülent Arinç von der AKP.

Bora Bayraktar, euronews:

Die Türkei plant nach Jahrzehnten die Einführung einer zivilen Verfassung. Das macht diese Wahl so bedeutend. Was ist für Sie das Kernstück der Verfassungsreform?

Bülent Arınç, stellvertretender Ministerpräsident und AKP-Führungsmitglied:

Wir wollten die neue Verfassung bereits nach der Wahl 2007 einführen, hatten jedoch nicht die Möglichkeit, das zu tun. Dennoch wurden im Parlament mehrere Verfassungsänderungen verabschiedet, welche bei dem Referendum 2010 auf eine deutliche Mehrheit stießen.

Danach war uns klar, dass wir die alte Verfassung durch eine neue ersetzen mussten. Wir haben die Lage sondiert und alle Parteien dazu aufgefordert, sich zusammen zu setzen, um gemeinsam eine demokratische Verfassung auszuarbeiten.

Kernpunkt dieser künftigen Verfassung ist ihre größere Transparenz, sie wird kürzer sein mit weniger Artikeln. Derzeit gilt in der Türkei eine von der Elite beschlossene autokratische Verfassung. Wir wollen eine neue Fassung schreiben, frei von jeglicher Ideologie, die sich an die Menschen richtet, unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit.

euronews:

Sie sprechen von einer pluralistischen Verfassung. Was wären die Konsequenzen, wenn die Regierung bei ihrem Vorhaben scheitert?

Bülent Arınç:

Das ist nicht nur unser Problem. Wir glauben, angesichts der fortschreitenden Entwicklung der Demokratie, dass wir uns der alten Verfassung, die nach dem Militärputsch verfasst wurde, entledigen müssen. Aber dafür wollen wir nicht allein die Verantwortung tragen.

Wir werden unser Bestes geben, um in dieser Frage einen breiten Konsens zu erzielen. Dieser Vorgang wird vielleicht ein bis zwei Jahre in Anspruch nehmen, aber am Ende brauchen wir 330 Stimmen, um den Entwurf einem Referendum zu unterstellen. Als Staat, der mit der EU über eine volle Mitgliedschaft verhandelt, sollten wir keine Verfassung befürworten, die vom Militär geschaffen wurde.

euronews:

Der Verhandlungsprozess mit der EU ist wegen der skeptischen Haltung Frankreichs und Deutschlands ins Stocken gekommen. Welche Schritte wollen Sie ergreifen, um den Beitritt zu beschleunigen?

Bülent Arınç:

Was die Verhandlungen mit der EU betrifft, haben wir alle Auflagen erfüllt. Es stimmt nicht, dass wir zu langsam waren. Von den 27 EU-Staaten sind nur Frankreich und Deutschland gegen unseren Beitritt, damit müssen wir uns auseinander setzen. Mit den anderen 25 Staaten hat die Türkei kein Problem. Sie unterstützen unsere Beitrittsbestrebungen.

Verantwortlich für den Widerstand Frankreichs und Deutschlands sind innenpolitische Fragen. Sie beharren auf ihrer Haltung, weil sie befürchten, dass die Türkei als volles Mitglied mehr Einfluss geltend machen könnte. Wir müssen die politische Entwicklung in beiden Ländern abwarten.

Der Hauptgegner der AKP, die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei CHP, rechnet mit einem guten Abschneiden am Sonntag. Parteichef

Kemal Kılıçdaroğlu kritisiert vor allem Erdogans Außenpolitik.

euronews:

An welche Verfassungsänderungen denken Sie nach der Wahl?

Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der Oppositionspartei CHP:

Wir haben eine Reihe von Veränderungsvorschlägen für die Verfassungsreform. Wir wollen den Universitäten volle Autonomie gewähren und die Immunität der Abgeordneten aufheben. EU-Normen sollen eingeführt werden. Die Privilegien der Sondergerichte werden abgeschafft. Wir unterstützen die Pressefreiheit. Medien müssen frei und unabhängig sein. Der Druck auf die Medien muss weichen. Weitere Gesetzesentwürfe betreffen gerichtliche Verfahren gegen Staatsminister. Sie sollen dem EU-Recht entsprechen. Die aktuelle, nach dem Militärputsch verabschiedete Verfassung enthält viele Artikel, die entfernt und durch neue, liberalere ersetzt werden müssen.

euronews:

In den vergangenen zwei Jahren hat sich der EU-Beitrittsprozess verlangsamt. Was ist Ihre Haltung dazu?

Kemal Kılıçdaroğlu:

Wir sehen den Beitrittsprozess als eine Chance zur Modernisierung. Der zweite Vorsitzende unserer Partei begann den Prozess 1963 mit dem Assoziierungsvertrag mit der EEG. Wir wollen, dass die Verhandlungen angekurbelt werden und zu einer vollen Mitgliedschaft führen. Das kann noch eine Weile dauern, aber es ist klar, dass wir die EU-Reformen übernehmen wollen.

euronews:

Was die Außenpolitik betrifft, scheint sich Türkei auf der internationalen Bühne stärker profilieren zu wollen. Sind Sie damit einverstanden?

Kemal Kılıçdaroğlu:

Das in Ägypten unterzeichnete Versöhnungsabkommen zwischen den beiden rivalisierenden Palästinensergruppen Hamas und Fatah zeigt, dass sich der Einfluss der Türkei sowohl in der Region, als auch in der Welt nicht erweitert, sondern im Gegenteil, verkleinert hat.

Die Beziehungen zu Israel haben sich verschlechtert. Die türkische Regierung wollte versuchen, die Beziehungen zu Armenien zu normalisieren, machte dann jedoch einen Rückzieher und hat sich damit vom Westen isoliert. Die türkische Außenpolitik hat weltweit Besorgnis erregt.

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