Nach Terrorserie: "Diese Gewalt kommt mitten aus der Gesellschaft"

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Von Euronews
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Man ist sich international auf höchster politischer Ebene einig: Die Geheimdienste sollen im Kampf gegen Terror eine noch wichtigere Rolle spielen. Doch was haben die französischen Dienste im Vorfeld der Pariser Anschläge geleistet? Die Regierung sagt, die hätten nicht versagt, denn, es habe einfach immer ein Risiko bestanden.

Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve erklärte: “Diese Attacke wurde vorbereitet und organisiert von Zellen, außerhalb unseres Territoriums, von Personen, die unseren Diensten nicht bekannt waren.”

Doch einige waren bekannt. Der 28-Jährige Samy Amimour aus Paris etwa. Ihm wurdevor drei Jahren vorgeworfen, in Kontakt mit Terroristen gestanden zu haben. Kurz danach ging er nach Syrien. Er wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht und gelangte trotzdem nach Frankreich zurück.

Oder Omar Ismaïl Mostefaï, ebenfalls aus Paris. Er geriet vor fünf Jahren ins Fadenkreuz des französischen Auslandsgeheimdiensts und stand unter besonderer Überwachung. Ebenso die Charlie Hebdo Attentäter Amedi Coulibaly und Cherif Kouachi. Überwacht auch Mohamed Merah. Er tötete in Toulouse und Montauban sieben Menschen, darunter vier jüdische Schulkinder.

Und die Türkei teilte am Montag mit, Ankara habe Paris zwei Mal wegen Mostefaï gewarnt. Im Oktober letzten und im Juni dieses Jahres. Paris habe die Informationen aber nicht weiter verfolgt.

Als Reaktion auf die Anschläge will Frankreich nun u.a. spezielle Kontrollen im Schengen-Raum. Gegner der Reisefreiheit sehen sich dagegen bestätigt und verlangen, dass das Abkommen ganz abgeschafft wird. Also: Mehr Geheimdienste? Neue Kontrollen? Es scheint, die bisherigen Mittel hätten eigentlich ausgereicht.

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“Bertrand Badie ist Experte für internationale Beziehungen und Professor am Pariser Institut für politische Studien. Herzlich willkommen. Haben die Anschläge von Paris die Prioritäten verschoben? Ist im Kampf gegen die IS-Miliz der Rücktritt Baschar al-Assads zweitrangig geworden?”

Bertrand Badie

“Die französische Regierung sitzt so ein bisschen zwischen den Stühlen, und da ist es recht ungemütlich. Sie muss nun unter dem Eindruck der Attentate ihren diplomatischen Kurs ändern. Das ist praktisch unmöglich. Oder sie verfolgt weiter einen Kurs, der sie eher in eine Sackgasse manövriert. Nehmen wir einmal an, es gebe einen Mittelweg. Die Regierung hält an ihrem Kurs fest, der das praktische Eingreifen favorisiert, mit all den Gefahren, die das beinhaltet. Aber auch mit einigen Anpassungen. Wir können sehen, dass man sich auf Russland zubewegt. Das impliziert auch einen halben Schritt auf Baschar al-Assad zu. Das sind diese Veränderungen am Rande, um eine diplomatische Annäherung zu erreichen.”

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“Ist die internationale Gemeinschaft nach den Anschläge enger zusammengerückt?”

Bertrand Badie

“Es gibt ein großes Problem: Was ist die IS-Miliz und was kann man gegen sie unternehmen? Wie stellt man fest, dass die Miliz wirklich hinter einem Anschlag steckt? Es ist ein bisschen einfach, auf all diese Fragen zu antworten: ‘Das bedeutet Krieg’. In unserem europäischen Gedächtnis bedeutet der Begriff Krieg etwas ganz anderes. Er steht für die Konfrontation von Mächten, von Ländern. Er steht für den Kampf von Armeen, es geht um Territorien und Grenzen. Und er steht auch für eine diplomatische Praxis, nämlich bereit zu sein, in Verhandlungen zu treten. All das gibt es im Zusammenhang mit der IS-Miliz nicht. Deren Wesen einfach als ein Staat-im-Entstehen zu umschreiben halte ich für abwegig. Das gilt auch für die Annahme, man könnte diese einfach durch einen Krieg beseitigen.”

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“In Zeiten der Globalisierung entsteht die terroristische Bedrohung vor allem durch die Schläfer. Was kann Europa da unternehmen?”

Bertrand Badie

“Der Begriff Schläfer zeigt, dass sich heute nicht Staaten oder Armeen gegenüberstehen, sondern Gesellschaften. Diese Gewalt kommt tief aus der Gesellschaft und wird von gewalttätigen Unternehmern organisiert. Die IS-Miliz und al-Kaida sind solche gewalttätigen Unternehmen. Im Ergebnis denken wir weiterhin, der Krieg sei ein Kampf von Mächten, von staatsähnlichen Mächten. In Wirklichkeit geht es aber um den Zerfall und die Veränderung von Gesellschaften. Von daher müssen wir überdenken, wie wir unser Wohlergehen und unsere Sicherheit künftig schützen können. Auch der Zustand und das Funktionieren der französischen Gesellschaft muss neu überdacht werden. Die französische Gesellschaft beherbergt nicht nur Schläfer. Es gibt Auswüchse, die gestoppt werden müssen. Es muss etwas gegen die Frustration getan werden, gegen die Demütigungen, die Spannungen, die Gewalt, die Zurückweisungen und die Intoleranz jedweder Art. Das alles ist der Nährboden für so eine Katastrophe. Und wir müssen auch an die irakische und syrische Gesellschaft denken. Diese Gesellschaften sind im Krieg, denn sie haben keine gemeinsamen Grundlagen mehr,diese wurden zerstört. Der beste Weg, den Frieden wiederherzustellen ist der, vor Ort Akteure, regionale Akteure, zu mobilisieren um wieder diese Grundlagen zu schaffen. Ich bin nicht sicher, ob das Eingreifen anderer Staaten, oft von weit weg, die beste Lösung für solch einen Konflikt ist.”

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