Die Entlarvung der Lüge - "Forensic Architecture" auf der re:publica

 Die Entlarvung der Lüge -  "Forensic Architecture" auf der re:publica
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Fake News sind real - und sie sind mehr als ein Angriff auf diesen oder jenen Fakt. Fake News verändern Wahrnehmungen, verstärken Filterblasen, sind politisches Kampfmittel. Staaten manipulieren, verfälschen, machen Propaganda – mit Fake News. "Forensic Architecture" deckt solche Lügen auf.

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Die re:publica ist eine der weltweit wichtigsten Konferenzen zur digitalen Gesellschaft. Medien – ob digital oder analog – sind manipulierbar. Falsche, verfälschende oder erfundene Nachrichten haben eine lange Geschichte, heute aber entfalten sie eine ganz andere, massenwirksame Kraft.

Auf der re:publica befragte euronews-Journalistin Sigrid Ulrich den Direktor am Center for Research Architecture, Eyal Weizman. Man könnte ihn „Wahrheitsforscher“ nennen, er selbst sieht sich als "Forensiker". Sein Projekt: Eine Gegenöffentlichkeit zu frisierten Nachrichten von Staaten und Institutionen.

Fake News sind real - und sie sind mehr als ein Angriff auf diesen oder jenen Fakt. Fake News verändern Wahrnehmungen, verstärken Filterblasen, sind politisches Kampfmittel. Manchmal folgt die verfälschende Nachricht einem Ereignis, manchmal sind die Fake News selbst Mittel zu Zweck, um Stimmungen, Meinungen oder auch politische Prozesse zu manipulieren.

Der Staat hat Institutionen, die die Wahrheit für ihn herausfinden soll. Staaten selbst aber manipulieren, verfälschen, machen Propaganda – mit Fake News.

In London hat sich eine multidisziplinäre Gruppe von Architekten, Künstlern, Anwälten, Filmemacher und Journalisten zusammengeschlossen, um eine „counter-forensic agency“ zu bilden, wie sie sich selbst nennt. Ihre Ermittlungsergebnisse werden in politischen und juristischen Foren, bei Wahrheitskommissionen, Gerichten und Menschenrechtsberichten präsentiert.

Eyal Weizman leitet die Forschungsagentur. Er ist Architekt, Autor und Direktor des Center for Research Architecture am Goldsmiths College der Universität London.

„Wir kombinieren viele Bilder und Daten, die wir auf Open Source oder Social Media finden, um Ereignisse wie Bombenanschläge in Syrien oder Palästina, wie z.B. Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und an anderen Orten, zu überprüfen. Menschen produzieren heute eine Menge Informationen, die aber sehr sorgfältig geprüft, mit Querverweisen versehen und noch mal überprüft werden müssen.“

Weizman sieht in den Händen von Architekten besondere Fähigkeiten, die sie für solche Aufgaben qualifizieren.

„Als Architekt hat man sehr nützliche Techniken, um Modelle zu bauen und diese Bilder in Zeit und Raum zu lokalisieren. Also, jede umstrittene Sache, die viele Bilder und viele Daten um sich herum hat - wir würden ein Modell bauen, wir würden alle Spuren finden, wir würden Querverweise machen und wir könnten eine Geschichte erzählen.“

Üblicherweise nutzen Staaten und seine Institutionen solche Fähigkeiten. Weizman und sein Team drehen den Spieß um:

„Wir drehen die Forensik um, wir wenden sie anders an. Forensisch ist das, was der Staat für die Polizei tut. Und Gegenforensik ist, ein Verbrechen des Staates oder des Militärs mit den gleichen Mitteln zu untersuchen."

Ihr Material – Informationsschnipsel. Nachrichten, Videos, Chats in den sozialen Medien, Fotos, Töne, geografische Daten – zig Tausende Daten werden einander räumlich und zeitlich zugeordnet. Bei der Analyse israelischer Bombenangriffe in Rafah im Gazastreifen habe die Rekonstruktion eines einzigen Tages ein Jahr gedauert, so Weizman.

"In Menschenrechtsfällen sind Siege sehr selten. Und es geht nicht immer um den Fall, der gerade passiert ist. Es geht normalerweise um den nächsten Fall, es geht um Prävention. Wenn Staaten wissen, dass ihr Informations-Monopol auf dem Schlachtfeld gebrochen ist, werden sie vielleicht zweimal darüber nachdenken, ob sie eine Lüge riskieren und falsche Informationen verbreiten.“

Die multidisziplinäre Forensik ist anwendbar auf alle Arten von Ereignissen, zu den kommuniziert wurde, die mediale Aufmerksamkeit gefunden haben.

„Wir beginnen jetzt einen tragischen Fall, das Feuer im Londoner Grenfell Tower. Wir verwenden die gleichen Techniken wie auf Schlachtfeldern in Syrien oder in Palästina. Wir sammeln die sozialen Medien vieler Londoner, die Teile des Feuers auf ihrem Smartphone aufgezeichnet haben, synchronisieren sie und können die Geschichte erzählen, was damals rund um das Gebäude geschah.“

26 kontroverse Fälle weltweit hat Weizmans Team aus 13 Mitarbeitern in den vergangenen sieben Jahren dokumentiert und oft sahen Staaten oder Institutionen dabei alt aus. Beispiele:

Im Nahen Osten wurde unter anderem ein von israelischen Sicherheitsbehörden verlautbarter "Terrorangriff" in einem Beduinendorf in der Negev-Wüste widerlegt, bei dem der angebliche "Terrorist" erschossen wurde.

In Mexiko konnten die Architektur-Forensiker nach eigener Überzeugung die These belegen, dass im Fall der 43 seit September 2014 "verschwundenen" Studenten (Iguala) staatliche Stellen und das organisierte Verbrechen "zusammengearbeitet" haben.

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In Deutschland stellten die Forscher den Schauplatz eines tödlichen NSU-Angriffes nach und bewiesen, dass der "zufällig" anwesende Verfassungsschützer falsch ausgesagt hatte.

In Italien wird demnach das Migranten-Rettungsschiff "Iuventa" seit August 2017 von den Behörden zu Unrecht in Beschlag gehalten. Eine - behauptete - Zusammenarbeit mit Schleppern habe nicht stattgefunden.

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