Věra Jourová: Demokratie und Grundrechte dürfen keine Opfer der Coronakrise werden

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Von Sandor Zsiros
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Die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission sowie Kommissarin für Werte und Transparenz über die Coronakrise in "The Global Conversation".

Die Coronavirus-Pandemie hat Europa erneut in eine Krise gestürzt - wie die EU auf den Notfall reagiert, wird genau beobachtet. Von grassierenden Falschinformationen im Internet bis zur Verabschiedung von Notfallmaßnahmen, die den Regierungen weitgehende Befugnisse verleihen: Die Europäische Union steht vor beispiellosen Herausforderungen. Über all das spricht euronews-Reporter Sándor Zsíros in "The Global Conversation" mit Věra Jourová, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission sowie Kommissarin für Werte und Transparenz.

Euronews-Reporter Sándor Zsíros:
Viele von uns geben Freiheiten auf, um das Virus zu bekämpfen. Wie weit können die Länder mit der polizeilichen Überwachung gehen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen?

Věra Jourová, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission sowie Kommissarin für Werte und Transparenz:

Aktuell gelten in 20 Ländern besondere Notstandsregelungen. Ihre Frage ist, wie weit sie gehen dürfen. Es gibt den Grundsatz, dass selbst in einer Notsituation die Maßnahmen der Regierungen mit dann verstärkten Befugnissen nur unbedingt notwendig, verhältnismäßig und durch einen konkreten Termin begrenzt sein sollten. Und sie stehen unter sehr strenger parlamentarischer Kontrolle, d.h sie werden von den Bürgern über die Parlamentarier überwacht. Und natürlich müssen auch die Medien ihre Arbeit tun. Das sind also die Parameter, und das beobachten wir jetzt. Wir verfolgen die Maßnahmen in allen Mitgliedstaaten.

Euronews:
Es wird wahrscheinlich neue Maßnahmen geben. Einige Regierungen würden gern den Mobilfunk der Bevölkerung nachverfolgen, um die Ausbreitung des Virus nachvollziehen zu können. Gibt es da Datenschutz-Bedenken von Ihrer Seite?

**
Věra Jourová:**
Derzeit nicht, das gilt auch für den Einsatz dieser Instrumente: Die Menschen müssen ihre ausdrückliche Zustimmung zum Handy-Tracking geben. Dafür und für andere digitale Hilfsmittel, die in fast allen Mitgliedstaaten derzeit diskutiert werden, gilt dasselbe wie für die Notstandsregelungen: Sie dürfen uns nicht ewig begleiten, denn es handelt sich um spezifische Maßnahmen für den Notfall.

Das Virus wird unser Leben in vielerlei Hinsicht verändern

Euronews:_
Wird das Coronavirus die europäischen Demokratien verändern?_

Věra Jourová:
Das Virus wird unser Leben in vielerlei Hinsicht verändern. Und die Optimisten sagen, dass wir nach der Krise damit beginnen müssen, etwas Neues zu schaffen. Vor allem die digitale Welt, die jetzt so sehr hilft, diese Krise zu überwinden, sollte eine neue Dynamik gewinnen. Aber in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte würde ich wirklich dafür plädieren, wieder zur alten Normalität zurückzukehren. Denn wir hatten und haben immer noch das beste Gesellschaftssystem, das je erfunden wurde. Die Geschichte hat gezeigt, dass Diktaturen sich gegen das Volk wenden, es gab zu viele Opfer. Deshalb müssen wir wirklich sehr darauf achten, die Demokratie zu erhalten, die Machtbeschränkung in den Mitgliedstaaten durch ihre eigenen Entscheidungen darüber zu erhalten. Es ist sehr wichtig, dass wir in dieser Hinsicht zur Normalität zurückkehren. Und noch ein letzter Satz: Außerordentliche Maßnahmen bedeuten nicht, dass wir irgendwie außerhalb des demokratischen Rahmens stehen.

Euronews:
Es gibt ein Land, Ungarn, in dem es nicht wirklich klar ist, wann das Notstandsgesetz zurückgezogen, wann die Notstandsmaßnahmen aufgehoben werden und wie das geschehen wird. Ist Ungarn Ihrer Meinung nach noch eine funktionierende Demokratie?

**
Věra Jourová:**
Das ist eine heikle Frage, auf die ich Ihnen keine direkte Antwort geben werde. Nur soweit: Das Notstandsgesetz ist nicht befristet. Wenn wir das mit den ungarischen Partnern diskutieren, sagen sie uns, dass das Parlament die Notstandsmaßnahmen jederzeit stoppen kann. Wir werden also abwarten und beobachten müssen, wie die erweiterten Notstandsbefugnisse der Regierung in dies er Notstandsperiode in der Praxis angewandt werden. Und wenn Sie das Gesetz lesen, ist es durchaus vergleichbar mit anderen Gesetzen, die die Notstandsmaßnahmen in anderen Staaten regeln. Aber der Kontext ist schwierig, denn das Vertrauen in die ungarische Regierung und den Ministerpräsidenten war bereits vorher gering. Sie wissen, dass Ungarn bereits unter dem Sonderverfahren nach Artikel 7 (des EU-Vertrags) steht. Wenn Sie also das Gesetz in diesem Zusammenhang lesen, dann bedeutet das natürlich, dass wir wachsam bleiben und die Umsetzug verfolgen sollten.

Euronews:
Warum war die erste Reaktion der Kommission nach der Verabschiedung dieses Gesetzes so milde? In der ersten Erklärung wurde Ungarn nicht einmal namentlich erwähnt.

Věra Jourová:
Meiner Meinung nach verdeutlicht die abgegebene Erklärung sehr gut die Prinzipien, nämlich die Grundsätze der Notwendigkeit, der Verhältnismäßigkeit und der zeitlichen Begrenzung. Ich scheue mich nicht, über Mängel und Probleme zu sprechen, die ich in Ungarn sehe. Ich bemühe mich, meine Arbeit verantwortungsvoll zu erledigen. Aber ich will in keinen Aktivismus verfallen, der über meine Kompetenzen hinausgeht.

Demokratie darf kein Opfer der Coronakrise werden

Euronews:
Wie kann die Europäische Union sicherstellen, dass der Rechtsstaat nicht ein weiteres Opfer dieser Epidemie wird?

Věra Jourová:
_Bei der Bekämpfung des Coronavirus sollten wir darauf achten, nicht auch die Demokratie und die Grundrechte in Europa zu zerstören. Wir dürfen uns nicht einfach darauf verlassen, dass Demokratie und alle Grundrechte automatisch wieder gelten. Wir müssen wachsam und proaktiv sein. Es ist an der Zeit, auch ein neues Instrument einzusetzen, das noch nicht von den EU-Ländern angenommen wurde. Ich meine die Konditionalität der EU-Mittel (die Verknüpfung von EU-Mitteln mit der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit sowie der gemeinsamen Migrations- und Klimapolitik) sowie den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Wir haben also diese Konditionalität vorgeschlagen, und wenn jemand nicht versteht, warum wir unsere Werte schützen müssen, versteht er vielleicht die Sprache des Geldes. Meiner Meinung nach ist die Kombination der Instrumente nützlich für die Zukunft.
_

Euronews:
Fake News können dieser Tage tödliche Folgen haben, insbesondere für schutzbedürftige Menschen. Tun Social-Media-Webseiten und die Europäische Union genug, um diese Menschen zu schützen?

Věra Jourová:
Gestresste Menschen können leichter manipuliert und bedroht werden. Sie sind anfälliger für unmoralische und manchmal sogar illegale Produktangebote. Jetzt ist es an der Zeit, gegen all diese unlauteren Praktiken vorzugehen. Daran arbeiten wir, um vertrauenswürdigen Informationen den Vorrang zu geben und das Aufkommen und die Auswirkungen von Falschinformationen zu minimieren.

Euronews:
Und welche Länder sind Ihrer Meinung nach am aktivsten bei der Verbreitung von Falschinformationen? Und wie bekämpft die EU sie?

**
Věra Jourová:**
Unser Auswärtiger Dienst hat in seinem aktuellen und auch in früheren Berichten eine sehr intensive Produktion von Falschinformationen aus kremlfreundlichen Quellen festgestellt. Das ist auch jetzt in der aktuellen Coronakrise der Fall. Wir sehen, dass die Propaganda gegen die EU jetzt verstärkt wird. Wir werden niemals mit den gleichen Waffen kämpfen. Wir werden keine schmutzige Propaganda gegen diejenigen einsetzen, die diese Nachrichten produzieren. Wir schlagen zurück, indem wir den Menschen vertrauenswürdige Informationen wie Fakten und Zahlen zur Verfügung stellen, die leicht zu überprüfen sind. Meiner Meinung nach ist das die beste Antwort.

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