Prinzipien oder Impfstoffe? Die Geschichte der COVID-Impfdiplomatie in Osteuropa

Eine Krankenschwester impft einen Mann im Zala County Szent Rafael Krankenhaus in Zalaegerszeg, Ungarn, mit Sputnik V.
Eine Krankenschwester impft einen Mann im Zala County Szent Rafael Krankenhaus in Zalaegerszeg, Ungarn, mit Sputnik V. Copyright AP Photo
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Von Emma Beswick
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Für Länder in Osteuropa geht es beim Kauf von Impfstoffen nicht nur um 'Soft Power' oder geopolitisches Wohlwollen - es geht um die Werte, die den Impfprogrammen zugrunde liegen.

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Für viele Länder in Osteuropa und auf dem westlichen Balkan wurden die Herausforderungen bei der Beschaffung von COVID-Impfstoffen mit den Schwierigkeiten während des Kalten Krieges verglichen.

Die Regierungen aus Ländern der Region sahen sich mit zahlreichen Fragen konfrontiert: Welcher Impfstoff ist der beste? Welcher ist am schnellsten verfügbar? Gehen Sie das Risiko ein, ihre Beziehungen zum Westen zu beschädigen, wenn sie fehlende Impfdosen in Russland bestellen?

"Was mir an dem Vergleich mit dem Kalten Krieg gefällt, sind die tieferen ideologischen Zusammenhänge, denn aus meiner Sicht geht es bei der Impfdiplomatie mehr um Werte als um Impfstoffe", meint Allison Carragher, eine Gastwissenschaftlerin bei Carnegie Europe gegenüber Euronews.

Die Expertin für den westlichen Balkan und die Länder des ehemaligen Jugoslawiens sieht die Entscheidung, woher die osteuropäischen Länder ihre Impfdosen bekommen, als ein "Aufeinanderprallen zweier Wertesysteme", mit den chinesischen und russischen Impfstoffen auf der einen Seite und den westlichen Impfstoffen auf der anderen.

"Es geht nicht nur um 'Soft Power' oder geopolitisches Wohlwollen, sondern darum, welche Werte hinter diesen Impfprogrammen stecken", fügte sie hinzu.

Allgemeinere Fragen, die durch diese Kluft aufgeworfen werden und die die östlichen Länder berücksichtigen müssen, sind laut Carragher beispielsweise, die Frage, ob sie Transparenz brauchen, Daten teilen, den privaten Sektor einbeziehen und einer Regulierungsbehörde vertrauen sollen.

Inzwischen gibt es allerdings ein breiteres Spektrum an Hauptakteuren als zu den Zeiten des Kalten Krieges, wobei sich einige Länder an China wenden, betont Joanna Hosa, stellvertretende Direktorin des Wider Europe Programme beim European Council on Foreign Relations (ECFR).

Auch sie findet, dass Länder in der Region nachvollziehbarerweise Impfstoffe von ihren politischen Verbündeten bevorzugen, dennoch sei auch die Effizienz der Impfstoffe wichtig gewesen.

Das russische Dilemma: "Wissenschaftliche Beweise sind wichtig"

Russland war im Rennen um den COVID-Impfstoff ganz vorne mit dabei. Im August 2020 gab das Land bekannt, dass es seinen ersten Impfstoff zugelassen hatte. Zahlreiche Wissenschaftler im In- und Ausland kritisierten die Entscheidung, den Impfstoff vor dem Abschluss der Phase-3-Studien, die normalerweise Monate dauern und Tausende von Menschen betreffen, zuzulassen.

"Anfangs ging das für Russland irgendwie nach hinten los", erklärt Hosa und fügt hinzu, dass deshalb viele Länder "zu Beginn die westlichen Impfstoffe bevorzugten [...] weil wissenschaftliche Beweise hier eine Rolle spielen".

Als aber offensichtlich wurde, dass russische und chinesische Impfstoffe einfacher zu beschaffen waren, änderten einige Länder in Osteuropa und auf dem westlichen Balkan ihre Meinung. Einige EU-Länder wie Ungarn und Slowakei sprangen auf den Zug auf, noch bevor Sputnik V von der EU-Arzneimittelbehörde eine Zulassung erhalten hat.

"Auch Deutschland hat die Produktion von Sputnik-Impfstoffen in Erwägung gezogen und das Mantra wiederholt, dass es im Interesse aller ist, so viele Menschen wie möglich in Europa zu impfen", sagte Hosa, und am 9. März gab die italienisch-russische Handelskammer bekannt, dass sie ab Juli Sputnik V produzieren wird.

Egal wie hoch der Bedarf an Impfstoffen ist, einige der ehemaligen Sowjetstaaten konnten ihre Differenzen mit Moskau nicht überwinden, wie die Ukraine:

"Die Ukraine möchte nicht von ihrem Erzfeind abhängig sein - die beiden Länder befinden sich im Krieg und die Situation ist einfach so emotional aufgeladen und das Vertrauen minimal, zumindest von ukrainischer Seite", erklärte Hosa und führt aus, dass Kiew so weit gegangen ist, Gesetze gegen den russischen Impfstoff zu erlassen, die den Kauf der russischen Impfung illegal machen.

So gebe es eine Petition gegen den russischen Impfstoff, "weil er als Bedrohung der nationalen Sicherheit gesehen wird", fügte sie hinzu.

Der russisch-georgische Krieg ist auch noch frisch in den Köpfen der Georgier, so die Expertin, "also kochen die Emotionen ziemlich hoch". Das macht es wahrscheinlicher, dass sich Georgien eher für chinesische Impfstoffe entscheidet, oder zumindest nur einen kleinen Prozentsatz von Sputnik V.

"Moldawien ist unentschlossen. Während die derzeitige Präsidentin sehr pro-europäisch ist, möchte sie auch keine Probleme mit Russland haben", sagte Hosa, also "könnten sie einige Dosen erwerben, aber nicht den Großteil."

Belarus hingegen hat die Sputnik-V-Impfstoffe mit offenen Armen entgegengenommen, denn "sie haben nicht wirklich etwas zu verlieren, da das Land nicht wirklich die EU oder andere Länder umwirbt und Lukaschenko auf Russland setzt".

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In der Zwischenzeit hat die im Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja verhandelt, um westliche Impfstoffe für die Menschen aus Belarus zu bekommen, aber ihre Aktionen sind eher symbolisch, denn selbst wenn sie einige Zusagen erhält, ist es unwahrscheinlich, dass die Regierung in Belarus sie akzeptiert, so Hosa.

Spenden untereinander - es "muss" politisch sein

Die geopolitischen Beziehungen zwischen Ländern sind auch im Spiel, wenn es darum geht, dass einige Nationen Impfdosen an Nachbarländer spenden.

Serbien wurde als einer der besten Impfstoffspender der Welt bezeichnet, wobei die Regierung betonte, dass die Beschaffung von Impfstoffen keine politische Angelegenheit sei.

Präsident Aleksandar Vučić sagte kürzlich zu Euronews, dass "einige Impfstoffe, die aus dem Osten kamen, sogar sicherer waren als die, die wir aus dem Westen bekamen," und fügte hinzu: "Aber alle waren großartig."

Expertin Carragher geht soweit zu sagen, dass die Impfstoffentscheidung politisch sein muss.

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"Rettet er (Vučić) Leben mit Impfstoffen? Ja, höchstwahrscheinlich und niemand bestreitet das, aber es gibt politische Implikationen. Wir leben in einer realen politischen Welt, also müssen wir alle Auswirkungen untersuchen," sagte sie.

Die Westbalkan-Expertin findet, dass der serbische Präsident eine "Vorzeigestunde" in der Impfstoff-Diplomatie gegeben hat, indem er mit Europa, den USA, China und Russland zusammengearbeitet und dies zu seinem Vorteil sowohl im eigenen Land als auch in der Politik genutzt hat.

In der Region hat er Impfstoffe gespendet, insbesondere an Nordmazedonien, Montenegro und Bosnien - zunächst an die serbische Mehrheit, dann aber an beide Staaten - und außerdem Impfstoffe an die serbische Bevölkerung im Kosovo.

"Es gibt eine ethnische Komponente, es gibt eine politische Komponente", erklärt Carragher, "und der serbische Ministerpräsident hat diese Impfstoffspenden mit einer weiteren, regionalen Integration verknüpft. Auf den ersten Blick ist das eine sehr allgemeine Aussage, aber Aleksandar Vučić hält auch die Fäden an der Spitze dieses Mini-Schengen-Projekts für regionale Zusammenarbeit in der Hand und steht hinter diesem Vorhaben, dem einige der anderen westlichen Balkanländer sehr skeptisch gegenüberstehen."

Auf der anderen Seite sagt Hosa, dass es nicht unbemerkt geblieben ist, dass Serbien "einige geopolitische Spiele innerhalb des eigenen Landes gespielt hat", indem es mit China und Russland zusammengearbeitet hat, und gleichzeitig ein Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft ist. Das warf Bedenken auf, wohin dieses Land geopolitisch steuert - in die Arme von Brüssel, Moskau oder Peking.

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PR-Desaster der EU

Das Impfprogramm der Europäischen Kommission ist vor allem wegen seines langsamen Anlaufens stark in die Kritik geraten.

Aus diesem Grund glaubt Hosa nicht, dass die Entscheidung einiger osteuropäischer Regierungen, einen Alleingang außerhalb der EMA-Vorgaben zu wagen, negative Auswirkungen auf ihr Ansehen in der EU oder ihren Beitritt zur Union haben wird.

Auf dem Westbalkan haben sich viele Länder nicht für COVAX qualifiziert - ein Versuch, den Kauf von Impfstoffen weltweit zu koordinieren, um sicherzustellen, dass ärmere Länder nicht aus dem Rennen um Impfstoffe ausgeschlossen werden - und waren daher auf die Lieferungen von der EU angewiesen.

Als die EU-Impfstoffe nur sehr zögerlich eintrudelten, fiel die Entscheidung der Länder, wohin sie sich wenden sollten, so Carragher, und diese spiegelte auch die politischen Tendenzen wider.

"Albanien und Montenegro waren standhaft darin, beim Westen zu bleiben, auf die EU zu achten, auf die Institutionen zu schauen und sich dafür einzusetzen, als NATO, EU, oder westliche Länder wahrgenommen zu werden", sagte sie.

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"Während ein Land wie Serbien völlig bereit war, mit demjenigen zusammenzuarbeiten, der seiner innenpolitischen Agenda am besten dienen kann."

Sie glaubt, dass der westliche Balkan auf seinem Weg in die EU immer wieder ins Abseits gedrängt wurde und die Pandemie nur dazu diente, "das Gefühl zu verstärken, dass sie vergessen wurden", nicht nur in Bezug auf die Impfdiplomatie, sondern auch auf die großen fiskalischen Ausgaben, um die Volkswirtschaften über Wasser zu halten.

"Es war nicht die EU, die als allererstes Impfstoffe in die meisten dieser Länder gebracht hat, und auch wenn es nur sehr kleine Zahlen sind, über die wir hier reden, die von anderen Orten kommen, ist die Symbolik wichtig", erklärte Carragher.

"Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas"

Während die Impfstoffdiplomatie im Zusammenhang mit der Pandemie wie ein heißes Thema erscheinen mag, glaubt Hosa, dass mit der Zeit vergessen wird, wer von wem gekauft hat.

"Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas", sagte sie. "Vieles wird verziehen werden", weil die Staaten auf eine globale Krise reagierten.

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Hosa sagt, sie sei "vorsichtig optimistisch" für das EU-Programm in Osteuropa und auf dem Westbalkan, da die EU so viele Dosen gekauft habe. Ihr fehlen allerdings konkrete Versprechungen, besonders wenn es um die östliche Nachbarschaft geht, der "noch nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde".

Carragher fügt hinzu, dass die Wahl, von wem man Impfstoffe kauft, nicht die einzige Entscheidung ist, die die Länder langfristig beeinflussen könnte.

"Es geht nicht nur darum, wer den Impfstoff in diesem Jahr liefert", sagte sie. "Wenn Sie ein Hersteller eines chinesischen oder russischen Impfstoffs werden, ist das eine langfristige Partnerschaft - gibt es noch andere implizite oder explizite Bedingungen, die mit dieser Impfstoffdiplomatie verbunden sind, die noch nicht bekannt wurden?"

Während beide Expertinnen der Meinung sind, dass geopolitische Erwägungen eine Rolle bei der Beschaffung von Impfstoffen im Osten gespielt haben, fügt Carragher hinzu, dass das nicht die einzige Überlegung für Länder war, die mit einer tödlichen Krankheit zu kämpfen hatten.

"Zum Teil sind diese (Entscheidungen) einfach Teil des demokratischen Drucks und des Drucks, Leben zu retten, viel bedeutender als die Überlegung, Russland den Vorzug zu geben.'"

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