Nordmazedonien fordert mehr EU-Präsenz auf dem Westlichen Balkan

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Von Jack ParrockSabine Sans
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Präsident Stevo Pendarovski warnt im Gespräch mit euronews zudem vor Grenzveränderungen auf dem Balkan.

Die Staats- und Regierungschefs des Westlichen Balkans sind oft in Brüssel. Einer von ihnen ist der Präsident Nordmazedoniens, Stevo Pendarovski. Bei seinem zweitägigen Besuch hatte er gehofft, die EU-Führung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Beitrittsverhandlungen mit seinem Land endlich zu beginnen. Derzeit blockiert das Bulgarien, wegen eines Streits über das Kulturerbe und ob das Mazedonische vom Bulgarischen abstammt. Stevo Pendarovski ist zu Gast in The Global Conversation.

Euronews-Reporter Jack Parrock:

Nach Ihren Treffen, besonders nach dem Gespräch mit dem Chef der EU-Außenpolitik, sagten Sie, dass die Stagnation der europäischen Integration negative Signale an den Westlichen Balkan sendet und sich nachteilig auf die Stabilität in der Region auswirkt. Was passiert, wenn der Beitrittsprozess in Ländern wie Ihrem nicht in Gang kommt?

Stevo Pendarovski, Präsident Nordmazedoniens:

Das hat bereits einen Anstieg des Populismus, des Nationalismus sowie einen wirtschaftlichen Rückgang verursacht. Darüber hinaus schafft es eine Atmosphäre, in der es möglich ist, Non-Papers zu verfassen - Pläne, die eine Veränderung der Grenzen vorschlagen. Eine derart anachronistische Idee im 21. Jahrhundert zu hören, im Jahr 2021 über eine Veränderung der Grenzen zu sprechen, nach 30 Jahren großen Engagements seitens der Europäer in der westlichen Balkanregion und nach all den wirtschaftlichen und anderen Härten, die die Menschen durchgemacht haben! Das ist also das Endergebnis dieser Erweiterungs-Politik.

Grenzveränderungen würden ein Blutbad provozieren

Euronews:

Die in Umlauf gebrachten Non-Papers schlagen Grenzveränderungen auf dem Westlichen Balkan vor. Was wissen Sie darüber?

Stevo Pendarovski:

Nicht mehr, als die Spitzenbeamten der Europäischen Union darüber wissen - zumindest haben sie mir gesagt, dass sie nichts darüber wissen. Ich frage mich, warum sie sich nicht entschiedener dagegen aussprechen, unabhängig davon, wer der Verfasser, wer der Überbringer dieser Ideen ist. Der Chef der Außenpolitik, Herr Borrell, war in dieser Hinsicht sehr aktiv und hat diese Ideen in einer eindeutigen Erklärung verurteilt. Aber ich bitte alle, sich - von Zeit zu Zeit bzw. auf allen Ebenen der Europäischen Union - gegen diese Ideen auszusprechen. Denn sie sind sehr gefährlich, gerade in einer Region, die die blutige Serie der Balkankriege hinter sich hat. In den 1990er-Jahren wurden in der gesamten Region mehr als 100.000 Menschen getötet, Millionen wurden umgesiedelt, ihre Häuser wurden zerstört. Die Besten und Klügsten haben die Region und ihre Heimat verlassen. Und wenn jetzt jemand versucht, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man eine Änderung der Grenzen vorschlägt... als jemand, der das Ganze miterlebt hat, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie die Menschen in Bosnien-Herzegowina, aber die Situation im damaligen Mazedonien und heutigem Nordmazedonien, kann ich Ihnen versichern, dass am gleichen Tag, an dem sich die Grenzen auf dem Balkan ändern, noch am selben Nachmittag, ein Blutbad ausbricht. So einfach ist das.

Euronews:

Gibt es Umstände, unter denen Sie eine Grenzveränderung auf dem Westlichen Balkan akzeptieren würden?

Stevo Pendarovski:

Nein. Das würde ein schreckliches Leid der einfachen Menschen verursachen. Diejenigen, die die Grenzen am Tisch neu bestimmen, diese Menschen leiden niemals, das einfache Volk leidet. Das haben wir oft genug in der Geschichte des Balkans erlebt.

Ist Nordmazedonien bereit für die EU?

Euronews:

Ist Nordmazedonien wirklich bereit für die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union?

Stevo Pendarovski:

Wir sind der am besten vorbereitete Kandidat in der Geschichte der Union. Wir bereiten uns seit 2005 vor, als wir zum EU-Beitritts-Kandidaten wurden. Bei uns gibt es viele Leute, die sich mit Europa auskennen. Wir können sofort mit den Verhandlungen in den verschiedenen Bereichen beginnen. Ich sage nicht, dass allein die europäischen Staatschefs für den derzeitigen Zustand verantwortlich zu machen sind. Ich sage - und dabei schließe ich mich selbst mit ein, dass die lokalen Regierungen der Westbalkanländer zwischenzeitlich nicht genug getan haben. Bei all diesen Treffen, die ich mit EU-Spitzenbeamten hatte, war klar, dass wenn man die strategische Lücke nicht ausfüllt, dann wird sie von jemand anderem besetzt. Das ist ein Euphemismus . Jeder weiß, über wen wir sprechen. Drittländer haben das ausgenutzt, einschließlich im Bereich der Impfdiplomatie. Sie haben diese schlimme Situation missbraucht, in der wir uns alle befinden, mit der beispiellosen Pandemie, die es so in der Geschichte noch nie gab. Sie haben begonnen, diese Lücke, diesen leeren Raum zu füllen. Ich fordere also mehr europäische Präsenz auf dem Westlichen Balkan. Ich fordere nicht die sofortige EU-Mitgliedschaft, aber eine echte Chance, den Beitrittsprozess zu beginnen.

Euronews:

Was muss sich ändern, damit Bulgarien seine Blockade der Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien aufgibt?

Stevo Pendarovski:

Sie sollten sich mit der Realität abfinden. Nicht mehr und nicht weniger als das. Sie fordern, dass ich oder andere Politiker des Landes Dokumente unterschreiben, dass wir in den Jahren vor 1944 Bulgaren waren, keine Mazedonier. Und dass wir die bulgarische Sprache gesprochen haben, nicht die mazedonische. Das ist für jeden anderen im heutigen Europa unvorstellbar. Einige Äußerungen vonseiten Nordmazedoniens, vonseiten der Regierung in Skopje sind von unseren bulgarischen Freunden absichtlich oder unabsichtlich falsch interpretiert worden, - dass wir angeblich auf einen Regierungswechsel in Sofia warten. Wir warten auf keinen Wechsel. Wir warten auf die legitime, neu gewählte bulgarische Regierung. Wir warten darauf, dass die Bulgaren selbst ihre Regierung bestimmen.

Euronews:

Wie verändert sich die EU mit Nordmazedonien als Mitglied?

Stevo Pendarovski:

Ich bin nicht sehr optimistisch und ich sage das nicht gern: Aber die Trends deuten darauf hin, dass sich die Meinung der Bevölkerung über die derzeitige Europäische Union gedreht hat. Nicht aufgrund der Blockaden von bulgarischer und davor von griechischer Seite, sondern wegen der nicht ausreichenden Präsenz Europas und der nicht ausreichenden Bemühungen, Initiativen der Europäischen Union in der Balkanregion. Ich kann eine oder zwei der Umfragen zitieren, die in meinem Land in der jüngsten Vergangenheit in den vergangenen drei oder vier Monaten durchgeführt wurden. Auf die Frage: Würden Sie andere eurasische Regionalorganisationen der Europäischen Union vorziehen, sagten erstaunliche 39 Prozent aller Befragten 'ja'. Und auf die Frage, wer ihrer Meinung nach der beste Freund ihres Landes ist, sagten 23 Prozent Russland. Die Menschen suchen Alternativen, wenn die EU als erste Wahl nicht mehr präsent ist.

Nordmazedonien wenig erfolgreich bei der Impfstoff-Beschaffung

Euronews:

Thema Impfstoffe: Wie weit ist die Impfkampagne in Nordmazedonien derzeit?

Stevo Pendarovski:

Die chinesischen Impfstoffe werden in den nächsten zwei oder drei Tagen ankommen, das Maximum. Wir haben bereits Pfizer erhalten, wir haben bereits über Serbien Sputnik V erhalten. Wir haben etwa 40 bis 50.000 Menschen geimpft. Das ist sicherlich nicht ausreichend. Ich kann die Wut und die Frustration in der Bevölkerung verstehen. Ich war persönlich an einigen Versuchen beteiligt, Impfstoffe zu beschaffen und dem Gesundheitsministerium zu helfen, der Regierung in Skopje zu helfen, so schnell wie möglich große Mengen zu erhalten. Wir waren, ich war in dieser Hinsicht erfolglos. Man kann nicht über ein zu geringes Engagement der europäischen Staatschefs, der Europäische Union als Ganzes oder unserer westlichen Freunde klagen. Man kann von einem Verrat der armen Länder durch die großen Pharmakonzerne sprechen. Wenn Deutschland, wenn Frankreich oder andere mächtige europäische Länder mit dem Stand der Immunisierung nicht zufrieden sind, weil die großen Pharmakonzerne andere Prioritäten hatten, was sollen denn die kleinen und armen Balkanländer sagen, die niemandem irgendetwas vorschreiben können.

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