Die beschämende Geschichte der Zwangssterilisation von Roma-Frauen in Europa

Kristina Kotlarova, eine von 87 Roma-Frauen, die in den letzten 40 Jahren Beschwerde gegen ihre mutmaßlich Zwangssterilisation in Krankenhäusern eingelegt haben.
Kristina Kotlarova, eine von 87 Roma-Frauen, die in den letzten 40 Jahren Beschwerde gegen ihre mutmaßlich Zwangssterilisation in Krankenhäusern eingelegt haben. Copyright AFP
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Von David Hutt
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Zwischen 1966 und 2012 wurden in Tschechien zahlreiche Roma-Frauen zwangssterilisiert. Ein Gesetz ebnet nun den Weg für mögliche Entschädigungen.

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In einer richtungsweisenden Abstimmung haben die Abgeordneten in der Tschechischen Republik ein Gesetz gebilligt, mit dem möglicherweise Tausende von Roma-Frauen entschädigt werden, die zwischen 1966 und 2012 unrechtmäßig vom Staat sterilisiert wurden.

Seit den 1960er Jahren verfolgte die kommunistische Regierung der damaligen Tschechoslowakei eine offizielle Politik der Sterilisation von Roma-Frauen. Sie wurden von den Behörden als "kulturell minderwertig" eingestuft.

Aus Dokumenten des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma, einer gemeinnützigen Organisation, geht hervor, dass Roma-Frauen bei Kaiserschnitten oder anderen chirurgischen Eingriffen oft Genehmigungsformulare ausgehändigt wurden, die sie unterschreiben mussten, wobei viele von ihnen unwissentlich ihre Zustimmung zur Sterilisation gaben.

In anderen Fällen wurde den Roma-Frauen gesagt, dass man ihnen ihre Kinder wegnehmen würde, wenn sie dem Eingriff nicht zustimmten.

"Dies war eine grobe Verletzung ihrer Rechte, einschließlich des Rechts, nicht gefoltert oder misshandelt zu werden, und ein beschämendes Kapitel in der Geschichte des Landes", sagte Barbora Cernusakova, Forschungsbeauftragte bei Amnesty International für die Tschechische Republik, in einer Erklärung.

Die Entscheidung des tschechischen Parlaments Ende Juli, ebne endlich "einen Weg zur Gerechtigkeit für Überlebende rechtswidriger Sterilisationen", so Cernusakova.

"Diese tapferen Frauen mussten jahrzehntelang mit dem Trauma leben, dem sie durch die Behörden ausgesetzt waren, und haben dennoch nie aufgegeben, für ihre Rechte zu kämpfen", sagte sie.

Sobald das Entschädigungsgesetz in Kraft getreten ist, haben die Opfer drei Wochen Zeit, Beweise für ihren Anspruch auf Entschädigung in Höhe von rund 11.700 Euro vorzulegen. Die Entschädigung gilt für Fälle von unrechtmäßiger Sterilisation zwischen 1966 und 2012.

Wie kam es zu der Sterilisierungs-Kampagne?

Laut Helena Sadilkova, Assistenzprofessorin an der Abteilung für Roma-Studien der Karls-Universität in Prag, begann die Sterilisationskampagne auf etwas paradoxe Weise.

In den späten 1960er Jahren waren die kommunistischen Behörden der Tschechoslowakei zunehmend besorgt über die sinkenden Bevölkerungszahlen im Land, genauso wie viele andere Länder im Ostblock.

Die Geburtenrate in der Tschechoslowakei, die sich aus der heutigen Tschechischen Republik und der Slowakei zusammensetzte, fiel nach UN-Angaben von 2,20 zwischen 1960 und 1965 auf 2,07 im Jahr 1968.

Aufgrund staatlicher Anreize - vor allem Bargeldzahlungen und bessere Leistungen des sozialistisch geführten Staates - erreichte die Geburtenrate 1977 mit 2,51 ihren Höhepunkt.

Gleichzeitig glaubten die Behörden jedoch, dass die Geburtenrate unter der tschechoslowakischen Roma-Bevölkerung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung alarmierend hoch sei, so Sadilkova.

"Jahrzehntelang, wenn nicht sogar jahrhundertelang, wurde die Roma-Bevölkerung in den tschechischen und slowakischen Ländern als rückständig und problematisch dargestellt", fügte sie hinzu.

Während der Ersten Tschechoslowakischen Republik, die 1918 gegründet wurde, wurden Gesetze erlassen, um die Bewegungen und Aktivitäten der Roma zu reglementieren.

Schätzungsweise 90 Prozent der tschechischen Roma starben während der "Endlösung der Zigeunerfrage", die von Nazi-Deutschland und seinen Verbündeten durchgeführt wurde. Man geht davon aus, dass zwischen 220.000 und 500.000 Roma - oder zwischen 25 und 50 Prozent der Roma in Europa - während dieses Roma-Holocausts oder "Porajmos" starben.

Die tschechoslowakische Regierung, die 1948 an die Macht kamen, verfolgten eine Politik der Zwangsintegration und siedelte die Roma häufig in schlecht gebaute Siedlungen am Rande der Städte um.

Die in den 1970er Jahren von der Regierung errichtete Siedlung Chanov in der Nähe der nördlich gelegenen Stadt Most ist heute ein Symbol für die soziale Segregation der Roma-Gemeinschaften.

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"Gift allein ist nicht stark genug für diese Schädlinge" war der Slogan, mit dem eine lokale rechtsextreme Partei in Most bei den letzten Kommunalwahlen 2018 Wahlkampf machte.

Im selben Jahr lobte der derzeitige tschechische Präsident Milos Zeman, der für seine kontroversen Äußerungen bekannt ist, in einer öffentlichen Rede das alte System, das Roma zwang, einfache Arbeiten zu verrichten.

"Die meisten von ihnen arbeiteten als Straßenarbeiter, und wenn sie sich weigerten zu arbeiten, wurden sie als arbeitsscheu bezeichnet und kamen ins Gefängnis", sagte Zeman. Und wenn die Roma sich weigerten zu arbeiten, "schlugen sie sie. Das ist eine sehr menschliche Methode, die meistens funktioniert hat".

"Kulturell minderwertig"

1969 wurden die Tschechische und die Slowakische Sozialistische Republiken aus rechtlicher Sicht unabhängig, und führten ihre eigenen Gesetze ein. Zwei Jahre später, am 17. Dezember 1971, verabschiedete die Tschechische Sozialistische Republik die Richtlinie Nr. 01/1972.

Sie trat einen Monat später in Kraft und erlaubte lokalen Behörden und Krankenhäusern, Roma-Frauen und Patientinnen mit Behinderungen zu sterilisieren, obwohl davon ausgegangen wird, dass die rechtswidrige Sterilisierung von Roma schon ab 1966 begann.

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Eine 2008 veröffentlichte Studie von Vera Sokolova, einer tschechischen Wissenschaftlerin, die sich auf Geschlechterforschung spezialisiert hat, ergab, dass 36 Prozent aller zwischen 1972 und den 1990er Jahren durchgeführten Sterilisationen bei Roma-Frauen vorgenommen wurde, obwohl die Roma-Bevölkerung nie mehr als 2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.

Ebenfalls im Jahr 1972 veröffentlichte das tschechoslowakische Ministerium für Arbeit und Soziales einen Bericht mit dem Titel "Fürsorge für sozial unangepasste Bürger". Da die "materiellen Ungleichheiten" durch den Sozialismus beseitigt worden seien und die Bevölkerung des Landes "homogen" sei, werde jede "soziale Pathologie", die vom alten kapitalistischen Regime übrig geblieben sei, von den "kulturell Minderwertigen" verbreitet.

"Was nie explizit gemacht wurde, weil es implizit verstanden wurde, war, dass diese Analyse die Roma pathologisierte", schrieben die Wissenschaftler:in Gwendolyn Albert und Marek Szilvasi, die jahrzehntelang die tschechoslowakische Sterilisationskampagne dokumentiert haben, in einem Artikel von 2018 über die Gesetzgebung der Regierung.

Aufgrund ihres ideologischen Ansatzes konnten die Behörden die chronische Benachteiligung, unter der die Roma-Community bis in die 1970er Jahre hinein litt, nicht mit Wohlstand oder sozialer Ungleichheit erklären, da der Sozialismus diese scheinbar ausgerottet hatte.

Dem Regierungsbericht von 1972 zufolge war die einzige Antwort für die Behörden, dass die Kultur der Roma für ihre Notlage verantwortlich war. Für die Regierung waren sie "kulturell minderwertig".

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1975 schrieb ein führender Gynäkologe in einem bedeutenden Artikel, dass die Sterilisation von Roma-Frauen aus "sozioökonomischen Gründen" wichtig sei, da die Entschädigung, die der Staat diesen Frauen zahlte, geringer war als die Kosten, die er durch "genetisch geschädigte" Kinder hätte.

Vier Jahre später kündigte die Regierung ein neues Programm mit finanziellen Anreizen für Roma-Frauen an, die einer Sterilisation zustimmten, um "die sehr ungesunde Roma-Bevölkerung durch Familienplanung und Verhütung zu kontrollieren".

"Die gesamte Kampagne stützte sich stark auf antiziganistische Stereotypen, die während des Kommunismus entstanden sind, aber auch aus früheren Zeiten fortbestehen", sagte Sadilkova und fügte hinzu, dass es daher problematisch sei, nur die kommunistischen Behörden als die "Hauptschuldigen" zu betrachten.

Die kommunistische Regierung habe zwar die Gesetzgebung für die Sterilisationskampagne eingeführt, aber die Expert:innen, die an der Ausarbeitung der Idee beteiligt waren, sowie die lokalen Verwaltungsbeamten und das Gesundheitspersonal "waren die Motoren der Kampagne". Sie "zielten auf die Roma-Frauen ab, die sich in ihrem Verantwortungsbereich befanden."

Hat der Umsturz 1989 daran etwas geändert?

Die Praxis endete nicht mit dem Umbruch 1989. Vier Jahre später, kurz vor der Auflösung der Tschechoslowakei, wurden die in den 1970er-Jahren erlassenen spezifischen Sterilisationsdekrete formell abgeschafft.

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In einer Studie aus dem Jahr 2015, die das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma einem UN-Ausschuss vorgelegt hat, heißt es jedoch, dass der letzte gemeldete Fall einer rechtswidrigen Sterilisation einer Roma-Frau in der Tschechischen Republik aus dem Jahr 2007 stammt.

2005 kam es zu einem der ersten Prozess, als eine Roma-Klägerin behauptete, sie sei nur vier Jahre zuvor unwissentlich sterilisiert worden. Das örtliche Gericht stimmte ihr zu, entschied aber, dass das Krankenhaus sich nur entschuldigen, nicht aber entschädigen müsse. Sie legte 2010 Berufung ein, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihr Recht. Monate später einigten sich die tschechischen Behörden außergerichtlich und sprachen ihr rund 10.000 EUR Schadenersatz zu.

Die angebliche Fortsetzung der rechtswidrigen Sterilisierung von Roma-Frauen in den 1990er und 2000er Jahren spiegelt die anhaltende Diskriminierung wider, der sich die Gemeinschaften bis heute ausgesetzt sehen.

Roma-Communitys sind in ganz Mitteleuropa mit unverhältnismäßig hohen Arbeitslosenquoten, schlechten Wohnverhältnissen und separaten Schulen konfrontiert. In einigen Städten in der Slowakei wurden physische Mauern errichtet, um Roma und Nicht-Roma-Gemeinschaften voneinander zu trennen.

Eine Pew-Research-Umfrage aus dem Jahr 2017 ergab, dass 78 Prozent der Tschechen nicht bereit wären, eine Roma-Person als Familienmitglied zu akzeptieren, und 53 Prozent gaben an, sie würden sie nicht als Bürger:in des Landes akzeptieren.

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Der Tod eines Roma in der Tschechischen Republik im vergangenen Monat, nachdem die Polizei ihm mehrere Minuten lang in den Nacken gekniet hatte, veranlasste Roma-Aktivisten dazu, Parallelen zum Polizeimord an George Floyd in den Vereinigten Staaten im Jahr zuvor zu ziehen.

Erst 2009 hat sich der tschechische Staat offiziell für die Zwangssterilisation entschuldigt. Doch nur wenige Jahre zuvor hatte er diese Anschuldigungen in einer UN-Debatte zurückgewiesen.

Die Untersuchungen des staatlichen Ombudsmanns Otakar Motejl im Jahr 2005 hatten ergeben, dass in den vergangenen Jahrzehnten mindestens 50 Frauen illegal sterilisiert worden waren. Einige Schätzungen von Roma-Rechtsgruppen gehen in die Tausende.

2006 soll der stellvertretende tschechische Minister für Arbeit und Soziales, Cestmir Sajda, vor der Versammlung gesagt haben: "Das ist eine Täuschung. Sie übertreiben in allen Fällen". In dem der UNO vorgelegten Regierungsbericht hieß es, dass "in keinem der Fälle eine unfreiwillige Sterilisation bestätigt wurde".

All das war bereits in den 1970er Jahren öffentlich bekannt. Im Jahr 1977 unterzeichneten Dutzende von Regierungsgegnern die Charta 77, die umfassende politische Reformen forderte. Einer der Hauptunterzeichner war die Demokratie-Ikone Vaclav Havel, der später der erste Präsident nach dem Umsturz in der Tschechei wurde.

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Am 14. Dezember 1978 brachten die Unterzeichner ihr 23. Kampagnendokument in Umlauf: "Zur Stellung der Roma-Mitbürger". Darin wurde behauptet, dass die Zustimmung der Roma-Frauen zur Sterilisation auf "dubiose" Weise eingeholt worden sei.

"Die tschechoslowakischen Institutionen werden sich bald dem Vorwurf stellen müssen, dass sie Völkermord begehen", hieß es darin.

43 Jahre später hat man den Opfern der Zwangssterilisation gerade erst mitgeteilt, dass sie entschädigt werden können.

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