Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderung soll europaweit verboten werden

Rosario Ruiz und ihr Freund.
Rosario Ruiz und ihr Freund. Copyright Lucía Riera/Laura Llach
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Von Laura Llach & Lucía Riera
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Die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen ist in weiten Teilen der Europäischen Union weiterhin legal, obwohl sie gegen die Istanbul-Konvention verstößt. Nur 9 Länder stellen sie unter Strafe.

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"Wenn du nicht für dich selbst sorgen kannst, wie willst du dann für jemand anderen sorgen", das hat die heute 53-jährige Rosario Ruiz zu Hause immer wieder gehört.

Wegen ihrer geistigen Behinderung hielten ihre Eltern sie nicht für fähig, unabhängig zu leben, geschweige denn eine Familie zu gründen.

Sie warnten außerdem: "Du könntest deine Behinderung in deinen Genen an dein Kind weitergeben."

Mit 20 Jahren verliebte sich Rosario in Antonio in der Tagesstätte, die sie in Sevilla (Südspanien) besuchte. Sie beschlossen, dass sie Kinder haben wollten und trafen sich mit Rosarios Eltern, um ihnen die frohe Botschaft mit ihnen zu teilen.

Doch die weigerten sich, ihren Wunsch zu akzeptieren und sprachen mit dem Hausarzt, der eine Sterilisation vorschlug.

Als Rosario volljährig war, wurden ihr im Krankenhaus beide Eileiter gekappt

Die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung war in Spanien bis vor zwei Jahren legal. Das Gesetz, das die Sterilisation ohne die Zustimmung der Person mit einer Behinderung "in Ausnahmefällen" erlaubte, wurde Ende 2020 aufgehoben.

In Portugal, Finnland, Bulgarien, Kroatien, Malta, der Tschechischen Republik, Zypern, Dänemark, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen und der Slowakei ist die Sterilisation von Menschen mit Behinderungen immer noch legal.

"Ich fragte mich: 'Was haben sie mit meinem Leben gemacht? Bin ich nutzlos? Sind alle gut darin, Eltern zu sein, nur ich nicht? Seitdem fühle ich mich jeden Tag in meinem Leben leer."
Rosario Ruiz
Mit 20 zwangsterilisiert

In Portugal, Ungarn und die Tschechische Republik dürfen sogar Minderjährige zwangssterilisiert werden. Nur neun EU-Länder stellen sie unter Strafe, weil sie gegen die Istanbul-Konvention und das Internationale Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verstößt.

Als Rosario volljährig war, wurden ihr im Krankenhaus Vírgen del Rocío in Sevilla beide Eileiter gekappt. Man nahm sie einfach mit, ohne ihr zu sagen, welche Operation an ihr durchgeführt werden sollten. "Sie sagten mir, dass sie mich von Antonio trennen und in ein Krankenhaus stecken würden, bis ich sterbe, wenn ich nicht mitkäme."

Am nächsten Tag sah sie die Narbe auf ihrem Bauch. "Ich fragte mich: 'Was haben sie mit meinem Leben gemacht? Bin ich nutzlos? Sind alle gut darin, Eltern zu sein, nur ich nicht? Seitdem fühle ich mich jeden Tag in meinem Leben leer."

Sie sagt, dass alle Zuneigung, die sie zu ihren Eltern hatte, starb, als diese sie operieren ließen. "Ich führe kein Gespräch wie eine Tochter mit ihren Eltern. Ich vertraue ihnen nicht mehr, und ich will auch nicht mehr vertrauen", fügt sie hinzu.

Vor drei Jahren gelang es ihr, sich aus der Entmündigung zu befreien, die es ihren Eltern erlaubte, über absolut jeden Aspekt ihres Lebens zu entscheiden. Ganz frei ist sie aber immer noch nicht.

Unter der Woche lebt sie bei ihrem 80-jährigen Vater, damit sie sich um ihn kümmern kann. Genau der Mensch, der sie nicht für fähig hielt, Verantwortung zu übernehmen.

Zwangssterilisation bald europaweit verboten

Da es in Europa keine gemeinsamen Rechtsvorschriften gibt, liegt die Entscheidung über ein Verbot dieser Praxis im Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten. Grundsätzlich verboten ist Zwangssterilisation bislang nur in Schweden, Irland, Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Slowenien, Polen und Spanien.

Malta steht kurz davor, sich dieser Liste anzuschließen. Die Regierung hat angekündigt, das geltende Gesetz, das Zwangssterilisationen erlaubt, zu ändern.

"Es ist eine sehr grausame Form der Bevormunung, sowohl der Sexualität als auch der Fortpflanzung", sagt die Europaabgeordnete María Eugenia Rodríguez Palop gegenüber Euronews.

Der Schlüssel zur Beendigung dieser Praxis liegt in den Händen der europäischen Institutionen. Im Juli wird das Europäische Parlament über ein für alle Mitgliedstaaten verbindliches Verbot debattieren, eine Entscheidung, die dann vom Europäischen Rat weiter geführt werden muss.

Zwangssterilisation, ein "ganz klarer Fall von Eugenik"

Das gesamte politische Spektrum ist sich einig, aber die Rechtsgrundlage der neuen europäischen Richtlinie zur "Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" führt zu Konflikten. 

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Rodríguez Palop weist darauf hin, dass sie sehr eng gefasst ist, weil sie auf dem europäischen Straftatbestand der sexuellen Ausbeutung beruht. "Wir versuchen, die Straftatbestände zu erweitern, den Begriff der Aggression auszudehnen und eine Verbindung zwischen sexueller Ausbeutung und reproduktiver Ausbeutung herzustellen."

Darüber hinaus gebe es Widerstand aus einigen Mitgliedstaaten wie der Tschechischen Republik, der Slowakei oder Ungarn, erklärt María Eugenia Rodríguez Palop. Aber auch aus Frankreich, Belgien und Portugal.

Sie sieht in der Zwangssterilisation einen "ganz klaren Fall von Eugenik" und schlussfolgert, dass es diese auch im 21. Jahrhundert immer noch gebe.

Carmen bettelte um eigene Kinder

Der Traum von Carmen (Name von der Redaktion geändert) war es schon immer, Mutter zu werden. Doch ihre Mutter hatte bereits für sie entschieden: Sie wollte ihre Eileiter abklemmen lassen, um zu verhindern, dass sie "zu viele Kinder" bekommt.

Wie Rosario ist Carmen geistig behindert. Auch ihre Mutter brachte sie mit 20 ins Krankenhaus, ohne ihr zu sagen, was mit ihr geschehen würde. Sie begiff erst, als der Arzt es ihr erklärte, aber da war es schon zu spät, sie lag auf dem Operationstisch.

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"Jedes Mal, wenn ich die Narbe sehe, habe ich das Gefühl zu sterben"
Carmen
Opfer einer Zwangssterilisation

"Ich weinte und sagte ihnen, dass ich nicht einschlafen wolle. Bitte lasst mich ein Kind bekommen! Ich habe versucht, mich zu wehren, um nicht einzuschlafen, aber ich spürte, wie die Narkose immer stärker wurde", berichtet die heute 31-Jährige.

"Als ich die Papiere unterschrieb, war meine Sicht verschwommen, weil ich schon unter Narkose stand. Ich habe unterschrieben, ohne zuzustimmen, denn als ich fragte, was ich da tue, sagte er nur, ich solle unterschreiben."

Ihre Weigerung hatte kein Gewicht. Da sie entmündigt war, hatte ihre Mutter als ihr gesetzlicher Vormund das letzte Wort. Von diesem Moment an änderte sich ihr Verhältnis völlig.

"Ich empfinde Groll gegenüber meiner Mutter, weil sie mir einen Teil von mir weggenommen hat. Es ist sehr schmerzhaft, wenn man das Gefühl hat, dass einem das, was man am meisten wollte, weggenommen wurde, ohne dass man selbst entscheiden konnte", sagt sie.

Zehn Jahre später rechtfertigt ihre Mutter die Operation immer noch damit, dass sie es zu ihrem Besten getan habe. "Aber jedes Mal, wenn ich die Narbe sehe, habe ich das Gefühl zu sterben", sagt Carmen.

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Regierungen verschließen die Augen

Die Gesamtzahl der in Europa durchgeführten Zwangssterilisationen ist unbekannt, das Thema seit jeher tabuisiert. Es gibt keine offiziellen Statistiken, die Aufschluss über das Thema geben könnten.

Portugal ist das erste Land, das nach einem parlamentarischen Verfahren beschlossen hat, eine Studie über Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen zu erstellen, die auch Zahlen zur Zwangssterilisation enthalten wird.

Trotz des Mangels an Daten ist für die Betroffenenvertreter klar, dass es sich um einen Missbrauch handelt, unter dem vor allem Frauen leiden.

"In meiner zwanzigjährigen Laufbahn ist mir nur ein einziger Fall von Zwangssterilisation eines Mannes mit geistiger Behinderung bekannt, wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie tatsächlich durchgeführt wurde. Aber ich habe nicht genug Finger an meiner Hand, um die Anzahl der sterilisierten Frauen zu zählen", sagt Rubén Parrillo, Leiter des Tageszentrums für Menschen mit Behinderungen ATUREM.

Für Frauen mit Behinderungen ist es sehr schwierig, Anzeige zu erstatten"

Die wenigen verfügbaren Daten spiegeln nach Ansicht der Organisationen nicht die Realität wider, da man all jene Maßnahmen zusammenzählen muss, die außerhalb des Gesetzes durchgeführt wurden und die sehr schwer zu quantifizieren sind.

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"Für Frauen mit Behinderungen ist es sehr schwierig, Anzeige zu erstatten", sagt Isabel Caballero, Koordinatorin von CERMI Women, einer Vereinigung, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzt.

"Viele sind sich dessen nicht bewusst oder wurden von ihrem familiären Umfeld überzeugt. Wenn die eigene Mutter oder der eigene Vater den Sterilisationsprozess einleitet, ist es sehr schwierig, sich dagegen zu wehren."

Die spanische Organisation kennt Fälle von Frauen, die zu Abtreibungen gezwungen wurden und denen während der gleichen Operation ohne ihr Einverständnis die Eileiter durchtrennt wurden.

"Warum wollen wir nicht mehr Menschen mit Behinderungen? Warum wollen wir eine perfekte Welt und warum vertreten wir Perfektion?"
María Eugenia Rodríguez Palop
Europaabgeordnete

In einem anderen Fall erfuhr eine gehörlose junge Frau, die schwanger werden wollte, beim Gynäkologen, dass sie eine Eileiter gekappt worden waren. "Sie wusste es nicht. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie, als sie jünger war, von ihrer Familie ins Krankenhaus gebracht worden war, um sich operieren zu lassen", sagt Caballero.

Das Europäische Behindertenforum berichtet ebenfalls von Zwangssterilisationen gehört, die durch Täuschung durchgeführt wurden.

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"Das ist etwas Historisches, erinnert an Eugenik, und das Europäische Parlament sollte jetzt die Gelegenheit ergreifen, dies zu verbieten", sagt Catherine Naughton, die Direktorin der Organisation.

"Warum wollen wir nicht mehr Menschen mit Behinderungen?" fragt die Europaabgeordnete María Eugenia Rodríguez Palop. "Warum wollen wir eine perfekte Welt und warum vertreten wir Perfektion?"

Dieser Bericht wurde mit Unterstützung der Organisation Journalismfund Europe erstellt.

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