Leute vor der Wahl 2021: "Wir schließen nach 101 Jahren"

Joachim Stoll
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Von Verena Schad
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In der Portraitreihe Leute vor der Wahl 2021 erzählen Wähler:innen im Vorfeld der Bundestagswahl am 26. September was ihnen wichtig ist und was sie von der neuen Regierung erwarten.

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In der Portraitreihe Leute vor der Wahl 2021 erzählen Wähler:innen im Vorfeld der Bundestagswahl am 26. September was ihnen wichtig ist und was sie von der neuen Regierung erwarten.

Der gebürtige Frankfurter Joachim Stoll ist Kaufmann und quasi im Geschäft aufgewachsen, in dem traditionellen Lederwarengeschäft - Leder Stoll - das sein Ur-Großvater 1920 in der Frankfurter Innenstadt gegründet hat. Das hat Krieg, Krisen und Flauten überlebt, aber dann kam Corona und Stoll muss sein Geschäft nach 101 Jahren in diesem September schließen.

Aber die Corona-Krise war nicht der einzige Grund, der Markt hat sich schon lange zuvor verändert. Deshalb ist Stoll schon sehr früh 1998 in den damals noch digitalen Markt eingestiegen und war als E-Commercer im Bereich Lederwaren einer der Pioniere. Dort war er stark gewachsen, mit deutschen und europäischen Premiummarken - und ganz stark im Bereich Geschäftsreisen. Veränderungen bei den Herstellern kamen hinzu und so hat der Händler sein Onlinegeschäft schon im Frühjahr geschlossen.

Warum haben wir in Frankfurt nicht die ersten Passagiere in Drohnen vom Flughafen in die Innenstadt oder zur Messe fliegen, warum muss das in Dubai sein?
Joachim Stoll, Unternehmer und Vizepräsident des Handelsverbands Hessen

"Es musste einfach einen Reset geben", sagt der 59-Jährige. Joachim Stoll hat viele Standbeine und schon die nächsten Ideen am Start. Er hat zwei eigene Taschenmarken aus recyceltem Material entwickelt (Aporti und Stollbag) - Laptop-Rucksäcke und Kuriertaschen aus 75 Prozent PET-Rezyklat und 25 Prozent Plastik aus dem Ozean.

In Zukunft will Stoll, der sich in der Branche einen Namen gemacht hat, als Berater für die Industrie tätig werden. Außerdem setzt er sich schon lange für die Interessen kleiner und mittelständischer Unternehmen im Handelsverband in Berlin und in Brüssel ein. Er will noch mehr an den politischen Stellschrauben drehen. Für ihn ist Europa die einzige Antwort auf viele Fragen unserer Zeit, „Ich hätte gerne, dass wir da noch sehr viel mehr zusammenarbeiten“, so Stoll.

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Dr. Joachim Stoll

Unternehmer und Vizepräsident des Handelsverbands Hessen
59 Jahre alt, Frankfurt am Main

Was ist für Sie das wichtigste Thema bei der Bundestagswahl?

„Es gibt eigentlich zwei wichtige Themen bei der Bundestagswahl, und das ist einmal das Thema Europa, das meines Erachtens nicht genug im Vordergrund steht. Es gibt viele Probleme, ob das die Außenpolitik wie in Afghanistan ist oder die Wirtschaftspolitik, USA und China – das wird meines Erachtens nicht genug europäisch gesehen. Und für mich ist Europa die einzige Antwort. Ich hätte gerne, dass wir da noch sehr viel mehr zusammenarbeiten.

„Der zweite Schwerpunkt ist für mich die Umstellung der Wirtschaft auf eine nachhaltige, auf eine CO2-neutrale Wirtschaft, aber natürlich indem man die Leute mitnimmt, die Bevölkerung mitnimmt, nicht Arbeitsplätze vernichtet, sondern neue Arbeitsplätze generiert. Das sind die zwei Punkte: Europa und Nachhaltigkeit.“

Was hat sich für Sie durch die Coronakrise geändert?

„Wir sitzen hier mit unserem Geschäft in Frankfurt, einer Stadt, die sehr stark von Messen abhängig ist aber auch vom Tourismus, vom Frankfurter Flughafen. Und wir haben jetzt seit eineinhalb Jahren keine asiatischen Touristen mehr gesehen, die Bürotürme sind größtenteils geschlossen, in Frankfurt leben viele Leute außerhalb, das heißt die kommen gar nicht erst, vielleicht schon 15 Monate nicht mehr in die Stadt. Die Frankfurter Innenstadt ist sehr, sehr, ruhig gewesen in der letzten Zeit. Und was ist eine Konsequenz? Ich hatte sehr früh den Online-Shop für Reisegepäck und Geschäftsreisegepäck, Koffer24 gegründet – den musste ich jetzt zum 1.3. verkaufen. Und wir werden auch zum 30.09. nach 101 Jahren das Ladengeschäft in der Frankfurter Innenstadt schließen.“

Was wünschen Sie sich für die neue Ära in Deutschland nach Angela Merkel?

"Gerne einen Ruck, einen Neuanfang, wer immer das wirklich schaffen kann. Wir bräuchten gerade in Deutschland einen Neuanfang in Richtung weniger Bürokratie, nicht so fürchterlich lange Planungszeiten. Es sind ja teilweise die Leute, die heute gebremst werden, wenn sie ein Windrad bauen wollen, mit Vorschriften, die sie selber vor 15 Jahren eingeführt haben … diese ganzen Klagerechte und ähnliches. Wir bräuchten gerade für ÖPNV schnellere Planungen. Wenn man Spezialisten hört, die sagen, 15 Jahre dauert es, um die S-Bahn in Frankfurt zu erweitern. Katastrophe.

Wirklich nach vorne gucken, auch mal mit Sachen, die vielleicht nicht nachhaltig sind, wie Drohnengeschäfte. Warum haben wir in Frankfurt nicht die ersten Passagiere in Drohnen vom Flughafen in die Innenstadt oder zur Messe fliegen, warum muss das in Dubai sein?

Es gibt dieses positive Beispiel, als die deutsche Luftwaffe in Afghanistan getwittert hat, wir starten jetzt und wir haben sehr viele Leute eingepackt (...) Ein mutiger General hat diese und jene Vorschrift dafür aufgehoben. Es ging auch um die Anschnallpflicht.
Joachim Stoll, Unternehmer und Vizepräsident des Handelsverbands Hessen

Bei aller Verwaltung und Ruhe, die Merkel ja gebracht hat, das war ja nicht schlecht in der Zeit, brauchen wir aber jetzt mal wieder einen Step, einen großen Schritt. Und eine Bevölkerung, die nicht gleich versucht, Politiker aufzuhängen, wenn sie mal was probiert haben und es ging schief. Wir brauchen dieses Silicon-Valley-Denken – bei 10 neuen Ideen, wenn zwei gut sind ist das super und wir hängen nicht gleich die anderen acht für die ihre Fehler auf."

Welche Eigenschaften sollte die nächste Kanzlerin oder der nächste Kanzler haben?

„Das ist Mut, Hartnäckigkeit und als Chef oder Chefin einer so großen bürokratischen Einheit muss man wahrscheinlich auch Ausdauer haben wie Merkel das vorgemacht hat, und länger sitzen und am Schluss immer noch länger sitzen als die anderen, um irgendwas durchzusetzen. Das ist in der europäischer Verwaltungsebene so und in Berlin auch. Die ganzen verrückten Ideen muss man am Schluss ja auch durch unsere Demokratie durchdrücken."

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