Schweden wappnet sich gegen Russland und liebäugelt mit der NATO

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Von Hans von der Brelie
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Moskau hat bereits gewarnt: Sollten Schweden und Finnland der NATO beitreten, dann werde im Ostseeraum nuklear aufgerüstet. Euronews-Reporter Hans von der Brelie hat vor Ort recherchiert und mit Politikern, Soldaten und Bürgern gesprochen. Ein Augenzeugenbericht.

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Schweden und Finnland sind Mitglied der Europäischen Union – aber nicht der NATO. Putins Krieg in der Ukraine befeuert die Debatte über einen raschen Beitritt. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass immer mehr Menschen unter den Schutzschirm des westlichen Verteidigungsbündnisses wollen. Wird Schweden die historisch verankerte, militärische Bündnisfreiheit aufgeben und sich nun doch der NATO anschließen? Euronews Witness - diesmal von der schwedischen Insel Gotland.

Das feuchtschwere Schneegestöber schlägt um in einen kalten Nieselregen. Dank der vereinten diplomatischen Bemühungen der deutschen und französischen Botschaft in Stockholm habe ich in letzter Minute doch noch den Sicherheits-Check der schwedischen Streitkräfte bestanden, offensichtlich bin ich kein russischer Spion – sondern nur ein ganz normaler Euronews-Reporter. Grünes Licht also für einen MoJo-Einsatz in schlammigen Schützengräben auf der schwedischen Ostsee-Insel Gotland.

Man spürt die Anspannung der Soldaten, wache Augen in jungen Gesichtern, auf dem Helm Tannenzweige zur Tarnung, dicke Farbe auf der Haut, schwere Ausrüstung am Körper – heute wird mit scharfer Munition trainiert und der Ausbilder schärft mir ein, mit meiner Kamera ausnahmslos immer, also wirklich: immer, hinter den übenden Rekruten zu bleiben, sobald wir in die Nähe des Schussfeldes kommen. Ok, versprochen.

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Soldaten im Übungseinsatz auf Gotlandeuronews

Die Gruppe der nadelzweigbestückten Kämpfer schwärmt in dem lichten Nadelwald aus, nutzt als Deckung moosbewachsene Felsblöcke, Baumstämme, Mulden im flachen Gelände. Ein Panzer mit Luftabwehrkanone lauert im Schatten, Truppführer Benjamin tauscht über sein Funkgerät mit leiser Stimme Informationen aus, gibt Handzeichen: Vorwärts! Die eingespielten Bewegungen der Männer und Frauen wirken wie ein perfekt durchchoreografiertes Ballett des Krieges, jede Bewegung sitzt, jeder Blick, jede Geste wird verstanden. Die Soldaten durchqueren gebückt einen Laufgraben, robben sich auf dem Bauch eine flache Anhöhe empor, vor ihnen nun eine sehr große, sehr flache, sehr leere Wiese. Urplötzlich erheben sich weit hinten dunkle Silhouetten aus dem Gras. Einsatzleiter Benjamin befiehlt: Feuer frei!

Glücklicherweise habe ich mir vorher Ohrstöpsel in meine Gehörgänge gedreht, solche von der extra-guten Sorte. Wie gesagt, heute steht scharfe Munition auf dem Übungsplan. Es geht um echten Stress, die Zeit wird gemessen: Wie lange braucht die Gruppe durch den Wald bis zur Wiese, wie viele Minuten benötigen die Soldaten, den Feind aus Pappschildern, die an langen Schnüren hochgezogen werden, zu stoppen? Klappt die Kommunikation zwischen Truppe und Squad-Leader? Agieren die jungen Rekruten als Einheit, gemeinsam – und können doch individuell und sofort auf böse Überraschungen reagieren? Heute geht es darum, voneinander zu lernen, Berufssoldaten, Zeitsoldaten, Wehrpflichtige üben gemeinsam. Das Szenario? Ein Flugfeld soll verteidigt, feindliche Fallschirmspringer abgewehrt werden…

Gotland wappnet sich gegen Russland

Das ist jetzt nichts allzu Abstraktes – denn genau so versuchte Russland zu Beginn des Kriegs in der Ukraine die Hauptstadt Kiew zu erobern und scheiterte an der gut eingespielten Abwehr der ukrainischen Militärs, die sämtliche Luftlandeplätze im weiten Umland halten konnte. Der "Überraschungs-Coup" der russischen Angreifer scheiterte. – Und was das jetzt mit Gotland, immerhin eine schwedische Insel, EU-Territorium, zu tun hat? Nun, seit einiger Zeit machen sich die Strategen, Planer und Denker in den westlichen Verteidigungsstrukturen Sorgen: Da ist die russische Enklave Kaliningrad, bis an den Rand vollgestopft mit Soldaten, Waffen, Kriegsschiffen. Von Kaliningrad bis Gotland ist es nur ein "Katzensprung". Sollte es einem russischen Luftlande-Kommando gelingen, Gotlands Verteidigung für einige wenige Stunden lahmzulegen, könnten russische Kriegsschiffe von Kaliningrad übersetzen, auf Gotland S-400 stationieren – und der gesamte Ostseeraum wäre fest in russischer Hand. Und da Schweden kein NATO-Mitglied ist, wäre das Risiko aus der Perspektive Moskaus betrachtet, vermeintlich überschaubar (übrigens ein Denkfehler, schließlich üben auch EU-Mitglieder untereinander Solidarität).

Schwedens Friedensdividende wird einkassiert

Nach dem Ende des Kalten Krieges rüstete Schweden massiv ab, Gotland wurde demilitarisiert, die Wehrpflicht ausgesetzt, das Verteidigungsbudget radikal gekürzt. Ein irgendwie naiver Glaube an den Ausbruch des ewigen Friedens breitete sich in Schweden aus, jetzt wollte man sie genießen, die Friedensdividende, das gesparte Geld dorthin stecken, wo es hingehört: Wohlfahrtsstaat, Entwicklungshilfe, Infrastruktur-Ausbau, Digitalisierung, Klimaschutz. Nun, leider wurde die Rechnung ohne den Moskauer Wirt gemacht: Bereits vor Russlands Krim-Coup 2014 mehrten sich Zeichen feindlicher Aktivitäten in Schwedens Gewässern (russische U-Boote zwischen schwedischen Schären) und Luftraum. Insbesondere die Liste der Luftraumverletzungen ist lang und fantasievoll – und wird ungeniert bis heute fortgesetzt, von geheimnisvollen Militärdrohnen über Atomkraftwerken und Königshäusern bis hin zu simulierten Angriffen auf die Hauptstadt mit nuklear bewaffneten Kampfjets. Gelegentlich wird in letzter Sekunde abgedreht, dann wieder – wie jüngst erst im März über Gotland – dringen die russischen Militärflugzeuge nachweisbar in den Luftraum Schwedens ein. Einerseits wohl Teil der russischen Drohgebärden, anderseits aber auch ein militärisches Austesten schwedischer Luftraumverteidigungs-Fähigkeiten und Reaktionszeiten.

Ab 2014 setzte ein Umdenken ein: mehr Geld fürs Militär

Nach 2014 setzte ein Umdenken ein in den Stockholmer Partei- und Regierungszentralen, Schweden bewertete Russlands Verhalten neu, gab detaillierte Studien bei den verteidigungspolitischen Instituten in Auftrag, dachte alles erneut durch, von A bis Z. Das Ergebnis? Wiedereinführung der Wehrpflicht. Mehr Geld fürs Militär. Waffenlieferungen an die Ukraine. Ausweisung russischer Diplomaten. Teilnahme an NATO-Manövern. Austausch von Geheimdienstinformationen mit der westlichen Verteidigungsallianz. Und, ganz konkret und handfest: Soldaten und schweres Gerät auf Gotland.

Magnus Frykvall ist der neue Kommandeur des Gotland-Regiments, in einer Manöverpause hat er einige wenige Minuten Zeit für ein Interview im Wald. "Was brauchen, was wünschen Sie sich, um Gotland besser verteidigen zu können", will ich von Frykvall wissen. "Es wäre schön, noch mehr Luftabwehr zu bekommen – und natürlich mehr Panzer", meint Frykvall und schiebt einen halb ernst gemeinten Scherz ein: "Ich bin ein Armee-Offizier, na ja, und als solcher wünsche ich mir halt immer mehr Panzer." Dann verschwinden kurz die Lachfältchen um seine Augen, seine Stimme ändert den Tonfall: "Aber ich muss betonen, dass wir genau in diesem Moment, jetzt, dabei sind, diese Verteidigungskapazitäten aufzubauen. Wir haben einen sehr hohen Bereitschaftsgrad auf Gotland. Gotland kann verteidigt werden – und Gotland wird verteidigt werden." Ende der Klartext-Durchsage, Frykvall muss weiter.

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Magnus Frykvall ist der neue Kommandeur des Gotland-Regiments.euronews

Ich lasse mich auf ein paar Hintergrundgespräche ein: Das Problem ist offenbar nicht das Geld, das fließt mittlerweile. Der Haken ist zunehmend die Verfügbarkeit schwerer Waffensysteme auf dem internationalen Markt für Rüstungsgüter: Was kann derzeit geliefert werden? Die Wunschliste der Militärs – auf Gotland aber auch anderswo in Schweden – ist lang, der Nachholbedarf groß. Nur, die Produktions- und Lieferkapazitäten müssen ja mithalten und (viele) andere Länder rüsten derzeit ebenfalls auf.

Was sagen die Politiker?

Aber jetzt mal im Ernst: Besteht ein echtes Risiko, dass Russland sich Gotland einverleiben könnte? Ist das nicht ein total irres Szenario, aus der Mottenkiste irgendwelcher Militärplaner mit Tunnelblick gezogen? Könnte man sich fragen, müsste dann aber im Gegenzug auch die Frage stellen: Wer hätte sich bis vor Kurzem vorstellen können, dass Russland so mal eben einen souveränen Staat in der Mitte des europäischen Kontinents mit Krieg überzieht?

Die Fähre Gotland – ein Riesenpott, eher ein Kreuzfahrtschiff der Luxusklasse als ein Fährschiff – bringt mich mit Flüssiggasantrieb von Visby (Gotlands mittelalterliches Fachwerkjuwel) rüber zum schwedischen Festland. In Stockholm habe ich eine Verabredung mit dem außenpolitischen Sprecher der großen Oppositionspartei Moderaterna, Hans Wallmark: zurückgegeltes Haar, farbiges Einstecktuch, knappe Antworten, sichere Wortwahl, ein Mann der Rede und Antwort steht und nicht um den heißen Brei herumredet.

Hans von der Brelie (Euronews):"Sir, ist Schweden noch sicher, ohne NATO-Mitgliedschaft?"

Hans Wallmark (Moderaterna):"Nein!"

Euronews:"Warum?"

Hans Wallmark: "Weil wir die Zusammenarbeit mit der NATO brauchen, wir brauchen den Artikel Fünf (des NATO-Vertrages), mit der gemeinsamen Verteidigungsplanung. Deshalb ist Schweden als Nation nicht sicher, ohne die NATO."

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Hans Wallmark, der außenpolitische Sprecher der großen Oppositionspartei Moderaterna.euronews

Euronews: "Wann wird Schweden der NATO beitreten?"

Hans Wallmark: "Ich hoffe, dass wir die Abstimmung im Parlament noch vor dem Sommer ansetzen, dann können wir als Neumitglied beim (NATO-) Gipfel Ende Juni in Madrid beitreten."

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Euronews: "Können sie jegliche Art von Militär-Aktion Russlands gegen die baltischen Staaten, gegen ihren Staat, gegen Gotland – eine schwedische Insel in der Ostsee – ausschließen?"

Hans Wallmark:"Nein, und das ist der Grund, warum wir der NATO beitreten müssen."

Voraussicht oder das Denken des Undenkbaren

Es wäre nicht das erste Mal, dass Russland "Interesse" an Gotland zeigt. Bereits 1808 landeten russische Soldaten auf der Insel. Vier Wochen später warf die schwedische Marine die Invasoren wieder raus. Und heute? Nun, heute oder morgen wird es keinen russischen Überfall auf Gotland geben. Auch nicht übermorgen – die russischen Kräfte sind anderswo gebunden. Nur: Sage niemals nie! Oder: Besser auf den Ernstfall vorbereiten – als später dumm in die Röhre gucken. Sprachlich-militärisch könnte man das jetzt etwas gewählter formulieren, Clausewitz zitieren oder ein lateinisches Sprichwort von Marcus Tullius Cicero einbauen (Si vis pacem para bellum: Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor), aber im Kern geht es ja genau darum: um Antizipation, Voraussicht, um das Denken des Undenkbaren.

Wer sich durch Planspiele und Szenarien der Militärstrategen ackert, der stößt eher früher als später auf ein problematisches Faktum: die kurzen Entfernungen im Ostseeraum, egal ob in der Luft oder auf dem Wasser. Sankt Petersburg – Stockholm, Kaliningrad – Gotland, da ist kaum geografische Distanz, Vorwarnzeiten kann man quasi vergessen. Nur, wenn es militärstrategisch so kompliziert ist, Schwedens Küsten (und Finnlands direkte Landgrenze zu Russland) in Eigenregie zu sichern, welche Alternativen bleiben dann angesichts einer Militärmacht, die sich nicht scheut, das blutige Schwert des Krieges zu schwingen, heute, anno 2022?

Debatte um Schwedens NATO-Beitritt

Womit wir bei der Debatte um Schwedens und Finnlands NATO-Beitritt sind. Die Debatte ist nicht neu, ganz im Gegenteil, sie ist jahrzehntealt. Nur haben sich auf einmal alle bisherigen Gewissheiten, Hoffnungen, Glaubenssätze verschoben. Waren beispielsweise in Schweden jahrelang die Menschen fein säuberlich und stabil in ein-Drittel-für-NATO, ein-Drittel-gegen-NATO, ein-Drittel-mir-egal sortiert, so sieht das seit Putins Krieg in der Ukraine auf einmal ganz anders aus: Heute will eine Mehrheit der Schweden unter den Schutzschirm der NATO. Die Beistandsgarantie des westlichen Verteidigungsbündnisses garantiert militärische Soforthilfe gegen jeden Aggressor. Ein besseres Stoppschild an der Grenze ist schwer vorstellbar.

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Allerdings hat Moskau bereits gewarnt: Sollten Schweden und Finnland der NATO beitreten, dann werde im Ostseeraum nuklear aufgerüstet. Im Klartext: Die in die russische Kaliningrad-Enklave verbrachten Iskander-Raketen bekommen einen Atomsprengkopf aufgeschraubt.

Während meiner MoJo-Tage in Schweden schält sich nach Gesprächen mit Politikern, Forschern, Militärs heraus, dass sich hier gerade ein neuer, durchaus als historisch zu bezeichnender Konsens herausbildet. Noch ist nichts bestätigt, noch muss man mit Fragezeichen operieren, noch gilt es, die grammatikalische Form des Konjunktivs zu verwenden, aber: die Anzeichen verdichten sich, dass auch Schweden schon bald, und zwar sehr bald, der NATO beitreten könnte, zusammen mit Finnland.

Historischer Konsens

Stockholm, irgendwo im Regierungsviertel, auf meinem Telefon poppt eine Message auf, die schwedische Regierungs-Chefin Magdalena Andersson lädt zu einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz ein, russische Diplomaten werden ausgewiesen. Und Anderssons Amtskollege aus dem NATO-Nachbarland Norwegen ist zu Gast. Soeben wurde das große NATO-Manöver "Cold Response" beendet – an dem auch Truppenteile des Nicht-NATO-Landes Schweden teilnahmen. Eine gute Gelegenheit also, ein paar Fragen an die angespannt wirkende Ministerpräsidentin, die sich in der Vergangenheit eindeutig gegen einen NATO-Beitritt Schwedens positioniert hatte, loszuwerden.

Euronews-Reporter Hans von der Brelie: "Russland hat Sie davor gewarnt, der NATO beizutreten, und eine Drohung gegen Ihre Regierung ausgesprochen. Angesichts der jüngsten Entwicklungen und des Krieges in der Ukraine, werden Sie nun die Entscheidung der NATO beizutreten beschleunigen?"

Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson: "Wir alle kämpfen für dieselbe Sache: Frieden in der Ukraine. Aber es geht auch um die europäische Sicherheitsordnung. Und ein zentrales Element davon ist, dass jedes Land selbst über seine Bündniszugehörigkeit entscheidet. Wir treffen unsere eigene Entscheidung – und zwar in dem von uns selbst bestimmten Tempo."

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Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson: "Wir bestimmen, was das Beste für Schweden ist."euronews

Euronews: "Wie sieht Ihr Zeitplan aus?"

Magdalena Andersson:"Wir sind derzeit dabei, unsere Verteidigungsausgaben zu erhöhen, die Fähigkeiten der schwedischen Streitkräfte zu verbessern und wir vertiefen auch unsere multilateralen und bilateralen Kooperationen (im Verteidigungsbereich)."

Euronews: "Aber eine NATO-Mitgliedschaft schließen sie nicht aus?"

Magdalena Andersson:"Das ist nicht ausgeschlossen. Wir werden tun, was wir als das Beste für Schwedens Sicherheit erachten."

Schweden: Land der Bunker

Szenenwechsel. Aus dem Zentrum der schwedischen Hauptstadt Stockholm fahre ich mit der U-Bahn in einen Außenbezirk im Norden. Dort habe ich mich zu einem Rendezvous mit Maud in der Tiefgarage ihres Wohnblocks verabredet. Die betagte, aber noch rüstige Hausverwalterin hat die Schlüssel für den Luftschutzbunker. Seit dem Kalten Krieg ist Schweden ein Land der Bunker, fast jeder größere Wohnblock hat Schutzräume im Keller, gut gekennzeichnet und voll ausgestattet mit allem, was man so braucht für den Ernstfall.

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"Hier sind Teile der erweiterten Luftfilteranlage des Schutzraumes", erklärt mir Maud Styf, "große Tonnen für Trink- und Schmutzwasser – und dort die großen Metallpfeiler werden (im Notfall) zwischen Decke und Fußboden gestellt, als Verstärkung, die sind schnell aufgebaut."

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Hausverwalterin Maud Styf erklärt die Schutzmaßnahmen im Bunker.euronews

Der Kalte Krieg ist wieder da, begleitet von einer diplomatischen Eiszeit zwischen Ost und West – und einem Schneesturm auf Gotland, wo ich mich mit dem Chef der Zivilschutzbehörde verabredet habe. Putins Überfall der Ukraine hat auch seinen Arbeitsalltag verändert. Rikard von Zweigbergk ziert sich zuerst etwas, mit der Sprache herauszurücken, versucht abzuwiegeln, strahlt Ruhe und Besänftigung aus, will auf gar keinen Fall – Teil seines Jobs – Panik schüren. 

Doch nach einer Viertelstunde Smalltalk, dass es eigentlich keine Probleme gebe, sagt von Zweigbergk dann doch etwas Konkretes: "Wir haben all unsere Manager vor einigen Wochen, als der Krieg begann, aufgefordert, die Lagerbestände aller lebensnotwendigen Dinge, die unsere Gemeinschaft (auf Gotland) braucht, aufzufüllen. Solche Sachen wie Arzneimittel, Benzin und natürlich auch Chemikalien zur Trinkwasseraufbereitung." 

Seinen Mitarbeitern hat er eingeschärft, immer mindestens eine halbe Tankfüllung im Auto zu haben, oder ansonsten sofort nachzutanken. Denn auf einer Insel macht sich im Katastrophen- und Kriegsfall eben eines sofort bemerkbar: logistische Nachschubprobleme.

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Rikard von Zweigbergk, Chef der Zivilschutzbehördeeuronews

Das Prinzip Vorsorge für den Ernstfall

Die Behörden Finnlands und Schwedens haben bereits vor einiger Zeit Info-Broschüren an die Bevölkerung ausgegeben, in denen steht, wie man sich im Kriegsfall zu verhalten hat. "Viele Leute fragen jetzt immer wieder bei uns nach", sagt der Zivilschutz-Chef, "deswegen verteilen wir nun die Restauflage." 

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Die kartonierte Broschüre erklärt, was getan werden muss, wenn Schweden angegriffen wird. Auch hier gilt das Prinzip Vorsorge, es gibt lange und detaillierte Abhak-Listen zu Bereichen wie anzulegende Nahrungsmittelvorräte (Kartoffeln, Möhren, Eier, Brot mit langem Haltbarkeitsdatum, Kekse, Knäckebrot, Tortilla, Tubennahrung, Konserven, Soja, Makrelen, Sardinen, Ravioli, Fruchtpaste, Marmelade, Kaffee, Tee, Schokolade, Nüsse, Honig), Wasservorräte, Heizung/Wärme, Kommunikationsmittel...

Der singende Philosoph des Alltags

Zum Abschluss meiner Gotland-Reportagereise schleppe ich meinen MoJo-Rucksack schließlich auch noch zum Tonstudio von Bo Ahlbertz. Neulich hat der Liedermacher mit seiner Band "Lazy Afternoon" bei einem Benefiz-Konzert für die Ukraine gesungen. Bo kennt jede Musikkneipe auf Gotland, er kennt die Menschen hier, die Jungen wie die Alten, die politisch links und die politisch konservativ eingestellten. Bo gehört nicht mehr zu den Jüngsten, Haare und Bart sind schlohweiß, doch seine Augen rege. Zwar ist Bo kein politischer Liedermacher, er komponiert keine Songs für Demonstrationen. Aber er kennt sich aus mit den Menschen, ihren Sorgen und Ängsten, er weiß, wie die Gotländer ticken – und die Schweden. Warum wollen die meisten jetzt auf einmal doch in die NATO, nach so vielen, vielen Jahren NATO-Skepsis?

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Bo Ahlbertz - der singende Philosoph des Alltagseuronews

Bo Ahlbertz: "Man hat Angst, wenn man allein ist, denn dann könnte man natürlich angegriffen werden. Wenn der Krieg nach Europa kommt, dann ist er näher an einem dran, er ist Teil der Realität. Hinzu kommt, wenn Dir jemand sagt, Du darfst nicht (Mitglied der NATO werden), dann willst Du erst recht", Ahlbertz lacht kurz auf, versucht mir die schwedische Seele zu erklären: "Weißt Du, die Schweden handeln oft nach dem Motto: Wenn mir jemand sagt, dass wir etwas nicht dürfen, dann machen wir eben genau das." Nun, wenn die Pressesprecher und Politiker in Moskau das gewusst hätten, dann hätten sie Stockholm vielleicht nicht mit politischen und militärischen Konsequenzen gedroht, sollte Schweden der NATO beitreten. Denn bewirkt wurde damit das genaue Gegenteil, ein eindeutiger Pro-NATO-Schulterschluss der Schweden und der Finnen.

Bo Ahlbertz ist eine Art singender Philosoph des Alltags. Den russischen Präsidenten Putin würde er gerne mal was fragen, vertraut er mir an: "Ist Krieg wirklich notwendig? Ist Dein Land denn nicht groß genug?" Die Menschen brauchen inneren Frieden, glaubt Bo, dann gäbe es keinen Krieg, nirgendwo.

Journalist • Hans von der Brelie

Cutter • Christele Ben Ali

Weitere Quellen • MoJoCamera: Hans von der Brelie; Fixer: Özgür Kurtoğlu; Produktion: Géraldine Mouquet; Tonmischung: Lionel Dussauchoy, Produktionsleitung: Sophie Claudet

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