Aisha Ahmad (22) aus Afghanistan: "Tun Sie etwas für die Frauen, sie fühlen sich wie Gefangene"

Frauen und Mädchen in Afghanistan fordern ihre Rechte ein
Frauen und Mädchen in Afghanistan fordern ihre Rechte ein Copyright Ebrahim Noroozi/ Associated Press.
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Von Aisha Ahmad mit Kirsten Ripper
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Die Studentin und Aktivistin Aisha Ahmad lebt inzwischen in Portugal, aber sie kämpft weiter für die Frauen und Mädchen in Afghanistan. Und sie hat uns ihren Kommentar geschickt

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Aisha Ahmad ist eine 22-jährige Studentin und Aktivistin aus Afghanistan, im vergangenen Jahr musste sie aus Kabul fliehen. Im August 2021 hatte sie auch in dramatischen Videos von der Situation am Flughafen der afghanischen Hauptstadt berichtet. Wie schlimm die Lage für die Frauen in Afghanistan weiterhin ist, schildert Aisha uns ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban in ihrem Kommentar. Sie hat weiterhin Kontakt zu Freundinnen und Klassenkameradinnen, die sich "wie Gefangene fühlen". Und Aisha engagiert sich weiterhin für Frauen und Familien, die versuchen, das Land zu verlassen.

Jetzt lebt Aisha mit ihren Eltern in Coimbra in Portugal. Sie hat inzwischen Portugiesisch gelernt und will ihr Informatik-Studium wieder aufnehmen. Doch ihr Leben in Europa wird überschattet vom Leiden der Mädchen und Frauen in Afghanistan. Und Aisha fordert die internationale Gemeinschaft dazu auf, nicht nur den Mut der afghanischen Frauen zu loben, sondern wirklich etwas für sie zu tun.

Auf Twitter wie in ihrem Leben versucht Aisha, positiv zu bleiben. 

Dies ist der Kommentar von Aisha Ahmad.

"Wir vertrauten auf die Versprechen der internationalen Gemeinschaft"

Seit der Einnahme Kabuls durch die Taliban ist ein Jahr vergangen. Die Niederlage der Taliban im Jahr 2001 hatte die Chance auf eine bessere Zukunft eingeläutet. Sie entfachte einen Funken der Hoffnung auf ein freieres und erfolgreicheres Leben. Sie hauchte unseren Seelen Kraft ein. Die Flamme unserer Zuversicht begann zu wachsen. Größer. Stärker. Die Schultore öffneten sich für Millionen Mädchen. Frauenmachten mit in Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft. Millionen Mädchen besuchten Schulen und Universitäten. Wir vertrauten auf die Versprechen der internationalen Gemeinschaft, die ihr Engagement für die Verwirklichung langfristiger humanitärer Ziele wie Menschenrechte, Redefreiheit und Frauenrechte betonte. Wir glaubten, einen Beitrag zur politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zukunft Afghanistans leisten zu können. Doch mit dem Abzug der internationalen Streitkräfte, von dem sich die Menschen in Afghanistan noch immer nicht erholt haben, wurden all unsere Träume und Errungenschaften über Nacht zunichte gemacht, und wir sahen einer dunklen und unvorhersehbaren Zukunft entgegen.

"Die meisten fühlen sich wie Gefangene"

Heute leiden die Frauen und Mädchen Afghanistans noch mehr unter den Schmerzen und Qualen, die die brutale Taliban-Regierung verursacht hat. Ihnen werden die Rechte auf Arbeit, Bildung, Gespräche, Reisen und Kleidung sowie alle Menschenrechte vorenthalten. Ich spreche regelmäßig mit meinen Klassenkameradinnen und Freundinnen in Kabul und anderen Provinzen. Die meisten fühlen sich wie Gefangene fühlen und sind deprimiert. Sie haben Angst, nach draußen zu gehen, um einzukaufen oder einen Freund zu besuchen. Hunderttausende von afghanischen Frauen haben ihre Arbeit verloren und sind gezwungen, auf den Straßen von Kabul zu betteln. Mehrere afghanische Richterinnen und Staatsanwältinnen, die in der Vergangenheit Taliban-Mitglieder angeklagt hatten, wurden von den Taliban verfolgt, und Tausende leben in Kabul und anderen Provinzen in Angst und Schrecken und verstecken sich. Außerdem sind Berichte durchgesickert, wonach junge afghanische Mädchen in einigen Provinzen wie Badakhshan, Panjshir und Baghlan zur Heirat mit Taliban-Mitgliedern gezwungen wurden.

"Die Taliban werden sich nie ändern"

Trotz all dieser traurigen Geschichten über afghanische Frauen hat die internationale Gemeinschaft bisher nicht den nötigen Druck auf die Taliban und ihre Anhänger ausgeübt, außer dass sie den Taliban ihre Bedenken und Ratschläge mitteilt. Die Länder wollen mit den Taliban nach ihren eigenen Interessen verfahren, und wenn sie keine Angst vor ihren eigenen Zivilgesellschaften haben, werden sie zweifellos die terroristische Regierung der Taliban anerkennen, über deren terroristischen Charakter sich die Welt im Allgemeinen einig ist. Sie geben vor, dass sich die Taliban ändern werden, wenn die internationale Gemeinschaft mit ihnen interagiert und die blockierten Gelder Afghanistans freigibt, aber das ist unmöglich und wird nie geschehen: die Taliban werden sich nie ändern. Die Taliban haben zwar keines ihrer Versprechen gegenüber der internationalen Gemeinschaft erfüllt, aber sie waren immer auf der Suche nach Opportunität. Sie haben nicht nur ihre Versprechen nicht gehalten, sondern auch ihre terroristischen und unterdrückerischen Handlungen intensiviert, wie z. B. willkürliche und brutale Prozesse gegen Menschen, Folter und Entführung ehemaliger afghanischer Regierungsangestellter trotz ihrer gefälschten Amnestie.

Trotz all dieser Schwierigkeiten bleiben die Frauen in Afghanistan nicht stumm, sondern setzen ihren Kampf gegen die Unterdrückung durch die Taliban auf unterschiedliche Weise fort. Sie nehmen alle Arten von physischem und psychischem Druck in Kauf, sogar das Gefängnis, und setzen ihren Kampf fort. In diesem kritischen und schicksalhaften Moment für die afghanischen Frauen verlangen wir von der internationalen Gemeinschaft mehr als das, was bisher für uns getan wurde. Wir sind der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft eine doppelte und diskriminierende Haltung gegenüber den Frauenrechten in Afghanistan einnimmt. Gerade jetzt werden afghanische Frauen in der Innenstadt von Kabul vor den Augen der Welt ausgepeitscht, und ihr grundlegendstes Recht, nämlich das Recht auf Bildung, wird ihnen verwehrt. Aber die internationale Gemeinschaft gibt den Taliban väterliche Ratschläge und teilt ihre Sorgen. Noch schmerzlicher ist, dass die Vertreter der Taliban trotz ihrer Schreckensherrschaft und Brutalität in verschiedenen Hauptstädten willkommen geheißen, offiziell eingeladen werden und frei reisen können. Die Frauen und Mädchen bangen wegen der Taliban um ihre Zukunft. Die Länder sollten ihre nationalen Interessen nicht über die menschlichen Werte stellen. 

"Lassen Sie sich nicht von den Lügen der Taliban täuschen"

Wir, die Frauen Afghanistans, rufen der internationalen Gemeinschaft erneut zu: Lassen Sie sich nicht von den neuen Lügen der Taliban täuschen. Sie wurden schon zuvor getäuscht. Lassen Sie nicht zu, dass die Bemühungen und das Leben der afghanischen Frauen zu Asche verbrannt werden. Ergreifen Sie heute entschlossene und wirksame Maßnahmen, denn morgen wird es zu spät sein. Mit Bedenken und Erklärungen lässt sich nichts erreichen. Die internationale Gemeinschaft muss an ihrer moralischen Haltung festhalten und den universellen Menschenrechten treu bleiben.

Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden Sie Geschichte schreiben - eine Geschichte weiterer Gräueltaten in unserem Land und mit der Zeit auch in Ihrem Land. Alle Länder müssen auf der Grundlage ihrer nationalen Interessen entscheiden, welche Maßnahmen sie in Zukunft gegen die Taliban ergreifen werden. Aber die Frauen und Mädchen Afghanistans haben diese Bitte an die Welt: weil ihnen heute das Recht auf Arbeit und Bildung vorenthalten wird, und weil ihr Schicksals in der Zukunft davon abhängt, sollten wir nicht weiter Opfer sein. Denn die zivilisierte Welt hat heute die moralische Verantwortung, auf unsere Stimmen zu hören und konkrete Maßnahmen zu ergreifen.

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