Wie steht es um den EU-Binnenmarkt 30 Jahre nach seiner Gründung?

Einwohner von Scheibenhard, einem seit 1815 durch die deutsch-französische Grenze geteilten Dorf, feiern am 1. Januar 1993 die Wiedervereinigung ihres Dorfes
Einwohner von Scheibenhard, einem seit 1815 durch die deutsch-französische Grenze geteilten Dorf, feiern am 1. Januar 1993 die Wiedervereinigung ihres Dorfes Copyright JEAN-PHILIPPE KSIAZEK/AFP
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Seit drei Jahrzehnten bewegen sich die Bürger der Europäischen Union sowie der Warentransport ohne Schranken und Einschränkungen. Doch ist der Binnenmarkt angesichts der aktuellen Krisen und klimatischen Herausforderungen frei von Turbulenzen?

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Die Gründerväter der Europäischen Union wollten dem alten Kontinent, dessen Nationen in den beiden Weltkriegen auseinandergerissen worden waren, Frieden und Stabilität bringen. Der europäische Binnenmarkt, eine der Errungenschaften dieses nunmehr vereinten Europas, feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Bestehen.

Seitdem können die Bürger der EU-Mitgliedstaaten, Norwegens, Finnlands und Liechtensteins sowie der Schweiz - die über bilaterale Abkommen mit der EU verbunden ist - überall in der EU studieren, sich niederlassen, arbeiten und ihren Ruhestand genießen.

MARCEL MOCHET/AFP
Archiv: EU-Staatschefs auf einer Tagung des Europäischen Rates in Luxemburg im Dezember 1985, auf der die Entstehung des Gemeinsamen Marktes beschlossen wurdeMARCEL MOCHET/AFP

Die EU sowie der Binnenmarkt sind jedoch mit radikalen Veränderungen konfrontiert, die ihre Zukunftsaussichten stark beeinträchtigt haben. Der Brexit 2020 hat den gesamten europäischen Handel erschüttert. Nach dem Austritt eines seiner prominenten Mitglieder bekamen die nunmehr 27 Länder die Folgen der Covid-19-Pandemie zu spüren, die die ganze Welt erschütterte. In einer irrsinnigen Verkettung wurde diese Situation durch den Krieg in der Ukraine, das Streben nach Energieunabhängigkeit von Russland und den ökologischen Wandel noch komplizierter.

All das hat den europäischen Binnenmarkt vor Herausforderungen gestellt, um auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähig zu bleiben und nicht hinter seinen Hauptrivalen, den USA und China, zurückzufallen.

Der Binnenmarkt als wirtschaftlicher und identitätsstiftender Beschleuniger

Symbolisch bedeutete der Binnenmarkt bei seiner Einführung im Januar 1993 für viele Europäer das Ende der endlosen Zollabfertigungen und stärkte das Gefühl der Zugehörigkeit zu "einem gemeinsamen Haus". Seine Umsetzung führte manchmal zu Freudenszenen, wie das zur Illustration dieses Artikels verwendete Foto zeigt, das am 1. Januar 1993 in den ersten Stunden des Binnenmarkts aufgenommen wurde.

Der EU-Binnenmarkt basiert heute auf fünf großen Freizügigkeitsrechten:

  • Waren
  • Dienstleistungen
  • Personen
  • Kapital
  • zuletzt 2019 die Freizügigkeit nicht personenbezogener Daten.

Zu den Nutznießern dieser Maßnahmen gehört der Handel zwischen den EU-Ländern, der in den vergangenen 30 Jahren förmlich abgehoben hat. So erreichten die Warenexporte in andere EU-Länder bis 2021 ein Volumen von über 3,4 Billionen Euro, während sie 1993 nur 671 Milliarden Euro betrugen.

Brüssel ist der Ansicht, dass die Europäische Union dank des Binnenmarkts mit den großen Handelsmächten der Welt, wie den USA und China, konkurrieren kann. Und das, obwohl die EU vor drei Jahren ein Mitglied verloren hat.

Großbritannien: der "harte Schlag" durch den Brexit

Großbritannien hat den europäischen Binnenmarkt am 31. Januar 2020 verlassen. Laut Jacques Pelkmans, Forscher am Centre for European Policy Studies (CEPS), einem unabhängigen, auf EU-Angelegenheiten spezialisierte Forschungsinstitut, hat der Brexit den Handel zwischen Großbritannien und dem Kontinent erschwert und die EU-Exporte in einigen Sektoren sinken lassen. Der Experte nennt das Beispiel der Niederlande, deren Blumenexporte aufgrund "strengerer Kontrollen" hart getroffen wurden.

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Der "Big Ben" läutete zum Ende der Brexit-Übergangsphase, das Läuten um 23h entspricht der Mitternacht-Zeitverschiebung in der EU-Hauptstadt BrüsselTOLGA AKMEN/AFP

Er betont jedoch, dass der Brexit nur "selektiv" bestimmte Sektoren betroffen hat und dass das "am härtesten getroffene Land" Großbritannien ist. Für Jacques Pelkmans ist das große Problem, das sich für die Briten daraus ergeben hat, die Abwertung des Pfunds. Eine Talfahrt, die nach dem Referendum von 2016 begann und bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist. Der CEPS-Experte sagt, dass das "viel Misstrauen" von Investoren aus der ganzen Welt, einschließlich der europäischen Länder, erzeugt hat.

Eine weitere der Fronten, die durch den Austritt Großbritanniens aus dem europäischen Binnenmarkt offen gelassen wurden, war die schwierige Nordirlandfrage. Nach monatelangen Spannungen legten der britische Premierminister Rishi Sunak und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen am 28. Februar ein neues Abkommen zur Änderung des Nordirland-Protokolls vor, das praktische Lösungen für die durch den alten Kompromiss entstandenen Versorgungsschwierigkeiten und politischen Bedenken bieten sollte.

Ein Binnenmarkt mit Lücken

Der Brexit ist nicht der einzige aktuelle Rückschlag, den der europäische Binnenmarkt in den vergangenen Jahren überwunden hat. Der Krieg in der Ukraine hat der europäischen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzt und die Mitgliedstaaten gezwungen, sich um eine Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen zu bemühen.

Um den Rückgang der russischen Lieferungen abzufedern und ihre Abhängigkeit von importiertem Öl und Gas zu verringern, einigten sich die 27 Mitgliedstaaten im Juli darauf, ihre Gasnachfrage im Zeitraum August 2022 bis März 2023 im Vergleich zum Durchschnitt der letzten fünf Jahre um 15 Prozent zu senken. Brüssel hat seine Absicht bekundet, die Mitgliedsländer zu fragen, ob sie ihren Gasverbrauch im Winter 2023-2024 ebenfalls senken könnten.

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Terminal der Nordstream-Pipeline, die Russland über die Ostsee mit Deutschland verbindet, in Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern, 8. November 2011JOHN MACDOUGALL/AFP

Das Hauptproblem des Binnenmarkts liegt jedoch in dem, was manche als allzu orthodoxen Liberalismus bezeichnen, in dem der freie Wettbewerb als Kardinalwert angesehen wird. Die Förderung des freien Wettbewerbs hat dazu geführt, dass keine europäischen Industriegiganten entstanden sind, wie die Ablehnung der Fusion von Alstom und Siemens durch die Kommission im Jahr 2019 zeigt, die einen Eisenbahngiganten von globaler Bedeutung hätte hervorbringen können.

Auch im Bereich der Technologie und des Digitalwesens, wo die US-amerikanischen GAFAM und ihr chinesisches Alter Ego die Oberhand haben, ist die Situation heute brisant, auch wenn die Europäische Union Regeln aufgestellt hat, um Giganten wie Apple oder Microsoft auf ihrem Markt einen Rahmen zu geben.

Es scheint entscheidend zu sein, dass sich die europäischen Behörden und die 27 Mitgliedsländer darauf einigen, eine Industriepolitik zu betreiben, die wirklich europäisch ist.

Die von den USA und China bereits eingeführten Subventionen lassen befürchten, dass europäische Investitionen in den Bereichen erneuerbare Energien und Halbleiter abfließen werden.

In den USA zielt ein Teil des umfassenden Inflationsbekämpfungsplans der Biden-Regierung für 2022 (IRA, Inflation Reduction Act) auf die Entwicklung von Elektroautos ab, indem Fahrzeuge und Komponenten - wie Batterien - subventioniert werden, die auf amerikanischem Boden hergestellt werden.

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Der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen Herbert Diess (li.) und Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Grundsteinlegung des VW-Werks für Elektrobatterien in SalzgitterRONNY HARTMANN/AFP

Große europäische Konzerne haben bereits angedeutet, dass sie sich die Frage stellen, ob sie geplante Investitionen in Europa pausieren und in die USA umlenken sollen. So könnten beispielsweise weniger Batteriefabriken für Elektrofahrzeuge auf dem alten Kontinent entstehen als geplant. 

Obwohl die Arbeiten an einigen Standorten, wie dem von Volkswagen (VAG-Gruppe) initiierten Standort Salzgitter, bereits begonnen haben, schätzt die NGO "Verkehr und Umwelt" daher, dass 68 Prozent der Projekte "Gefahr laufen würden, verzögert, reduziert oder gefährdet zu werden".

Audi-Chef Markus Duesmann, der im Februar von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewt wurde, erwägt, in naher Zukunft ein Werk in Nordamerika statt auf dem alten Kontinent zu eröffnen, um von den vom Weißen Haus bereitgestellten Hilfen zu profitieren.

Philipp Lausberg, Analyst am European Policy Centre (EPC), den Euronews befragt hat, weist auf einen großen Unterschied hin: Während der "Inflation Reduction Act" (IRA) "ein industriepolitisches Subventionsprogramm" sei, sei der europäische Binnenmarkt "nur ein Satz gemeinsamer Regeln".

Angesichts dieser Situation und in dem Versuch, ihren Grünen Deal für Europa zu verwirklichen, nahm die Europäische Kommission am 9. März einen Text an, der staatliche Beihilfen für Projekte erleichtert, die zur Reduzierung der CO₂-Emissionen in der EU beitragen.

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Darüber hinaus führte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen während ihres Besuchs in den USA im Oval Office Gespräche mit Joe Biden. Die beiden Politiker waren sich einig, dass ein schädlicher Wettbewerb im Rennen um die Energiewende vermieden werden muss, was durch eine Einigung über bestimmte Metalle und einen intensiven Dialog über staatliche Beihilfen auf beiden Seiten erreicht werden soll.

Viele Beobachter sind der Meinung, dass die EU, wenn sie ihre Ziele erreichen will, ein "strukturelles" Problem lösen muss, nämlich das zu große Gewicht ihrer treibenden Kraft, des berühmten deutsch-französischen Paares. Angesichts der Energiekrise haben die EU-Behörden ein umfangreiches Hilfspaket im Wert von rund 700 Milliarden Euro geschnürt. 

Aber, so Philipp Lausberg, "der größte Teil dieser 700 Milliarden Euro, nämlich fast 80 Prozent, wurde Deutschland und Frankreich zugewiesen, was zu einem Ungleichgewicht zwischen den Investitionskapazitäten der verschiedenen Mitgliedstaaten und denen ihrer Unternehmen und Verbraucher führte".

Alles in allem ist der europäische Binnenmarkt dreißig Jahre nach seiner Schaffung für Jacques Pelkmans ein "großer Erfolg". Der Forscher betrachtet diesen Wirtschaftsraum als das Herz der EU, ohne das sie nicht existieren würde. 

"Ich denke, dass nach dem Brexit alle Länder ihre Lektion gelernt haben", sagt der CEPS-Experte und fügt hinzu: "Auch wenn einige glauben, dass die Unabhängigkeit vom europäischen Binnenmarkt möglich war, zeigen die Fakten, dass dies nicht der Fall ist."

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LUDOVIC MARIN / AFP
Die italienische Ministerpräsidentin Gorigia Meloni und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban bei einem EU-Gipfel in Brüssel am 15. Dezember 2022LUDOVIC MARIN / AFP

Diese Analyse kann jedoch durch eine andere Lesart relativiert werden, nämlich die der Befürworter einer Rückkehr der Nationalismen innerhalb der Europäischen Union selbst. Der Anstieg des Euroskeptizismus hat sich in vielen Mitgliedsländern wie Italien, Schweden oder Ungarn konkretisiert. 

In ganz Europa stützte sich dieser identitäre Rückzug auf eine Rhetorik, die einen gemeinsamen Markt anprangert, der Sozialdumping oder den Abbau öffentlicher Dienstleistungen begünstigt.

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