Marie Rabatel mit ihrem Mann und ihrem Sohn Antoine in St. André le Gaz bei Lyon
Marie Rabatel mit ihrem Mann und ihrem Sohn Antoine in St. André le Gaz bei Lyon Copyright Lucía Riera / Laura Llach
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Diskriminiert, aber durchgesetzt - Sohn einer Mutter mit Behinderung: "Für mich ist sie normal"

Von Lucia Riera BosquedLaura Llach
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Marie Rabatel leidet an einer autistischen Störung. Wie sie die Mutter des inzwischen 18-jährigen Antoine werden konnte - trotz der Diskriminierung von Frauen mit Behinderung.

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Als sie ihren Sohn geboren hatte, ließ Marie Rabatel das Baby in seiner Wiege liegen. Er weinte und die junge Mutter war zunächst völlig überfordert: Sie hatte keine Bindung zu ihrem Kind. Und Marie Rabatel fühlte sich schuldig.

"In den ersten Monaten hat sich mein Mann um unseren Sohn gekümmert, indem er die Rolle des Vaters und die der Mutter übernommen hat. Er hat den Kleinen gebadet und ist nachts aufgestanden ist, um ihn zu füttern". 

Durch diese Unterstützung war es Maria möglich, eine Mutter für ihren Sohn zu werden und zu lernen, auf die Bedürfnisse ihres Babys einzugehen. "An dem Tag, als er anfing, mich Mama zu nennen, habe ich verstanden, dass ich seine Mutter und keine Erzieherin war", erinnert sie sich.

Marie Rabatel ist 48 Jahre alt. Da sie an einer autistischen Störung leidet, braucht sie viel Ruhe. Entspannung findet sie in ihrem Landhaus in der Nähe von Lyon im Südosten Frankreichs. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihrem 18-jährigen Sohn Antoine, der sie am Wochenende besucht.

Aus dem Familienalbum von Marie Rabatel
Marie Rabatel mit ihrem Sohn AntoineAus dem Familienalbum von Marie Rabatel

"Ich bin allein aufgewachsen", erklärt Antoine. Seine Mutter war fünf Jahre lang in der Psychiatrie und der Junge verbrachte viel Zeit bei seinen Großeltern. Weil Marie Rabatel nicht alles wirklich für ihr Kind tun konnte, war ein Psychologe für Antoine da. "Dadurch hatte ich jemanden, mit dem ich reden konnte", sagt der Jugendliche. Der Sport hat ihm geholfen, Beziehungen zu seinen Mitschülern und Mitschülerinnen aufzubauen, sich anderen gegenüber zu öffnen, Freunde und Freundinnen zu finden.

Für mich ist sie normal. Ich habe mich nie gefragt, ob sie eine Behinderung hat.
Antoine Rabatel
Sohn von Marie Rabatel, die unter einer autistischen Störung leidet

Seit seiner Kindheit war Antoine eine enorme Stütze für seine Mutter. Er war auch eine Art Vermittler zwischen ihr und den Lehrer:innen. Antoine versteht Marie und weiß, wie er sie beruhigen kann. Für ihn ist seine Mutter nichts Außergewöhnliches: "Sie ist die einzige Muttervorstellung, die ich hatte, also ist sie für mich normal. Ich habe mich nie gefragt, ob sie eine Behinderung hat".

Marie Rabatel
Antoine in der Küche seines ElternhausesMarie Rabatel

"Es ist das Umfeld, das einen dazu bringt, sich behindert zu fühlen", sagt Marie Rabatel, die trotz des Mobbings in der Schule eine glückliche Kindheit hatte. Ihre Schwester, die nur ein Jahr älter war als sie, diente ihr als Vorbild. "Meine Schwester hat mir sehr geholfen, ich habe sie beim Zähneputzen oder beim Waschen nachgeahmt, sie war mein tägliches Vorbild", erklärt Marie dankbar. "Autismus macht uns zu guten Nachahmern", sagt sie - eine Tugend, die ihr geholfen hat, mehrere nationale Leichtathletikmeisterschaften zu gewinnen.

Die Sportlerin konnte auch auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen, als sie heiratete und mit Antoine schwanger wurde. "Sie haben sich sehr für mich gefreut. Niemand in meiner Umgebung hat mir gesagt, dass ich es nicht schaffen würde". 

Marie sorgte für die nötige elterliche Unterstützung für ihren Sohn: "Ich hatte den Mut, um Hilfe zu bitten, ohne befürchten zu müssen, dass mir mein Kind weggenommen wird, ich bekam regelmäßige Besuche vom Sozialamt und Termine beim Kinderarzt, und auch meine Familie und Freunde kamen sehr oft zu mir, um mir zu helfen".

Frauen, die in Betreuungseinrichtungen für Menschen mit Behinderungen leben, haben diese Unterstützung allerdings nicht. "Wir haben keinen Unterstützungsplan", räumt Rubén Parrillo, Psychologe und Leiter von Inclusión Activa, ein.

"Familien mit einer gutgemeinten Botschaft über Menschenrechte, aber ohne Unterstützung zurückzulassen, das ist ein Problem", sagt die spanische Europaabgeordnete Rosa Estarás (EVP-ED). Die Politikerin ist Mutter eines behinderten Kindes und teilt das Gefühl, das manche Eltern haben, wenn sie mit einer ungewollten Schwangerschaft ihrer Tochter konfrontiert werden und Angst haben. "Wer wird sich um dieses Kind kümmern und was passiert, wenn ich sterbe?", fragt sie sich.

Es ist bekannt, dass Frauen mit Behinderung sexuell missbraucht werden. Es ist das absolute Tabu.
Marie Rabatel
Vorsitzende der frankophonen Vereinigung autistischer Frauen

Bei Frauen, die unter Vormundschaft stehen, ist die soziale Diskriminierung laut Marie Rabatel noch schlimmer: "Die Vormünder können sich nicht einmal vorstellen, dass eine behinderte Frau sexuelle Beziehungen haben könnte". Marie Rabatel, Vorsitzende der frankophonen Vereinigung autistischer Frauen, kritisiert die Funktionsweise von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, die sie als "verbesserte Gefängnisse" bezeichnet, in denen "bekannt ist, dass Frauen mit Behinderungen sexuell missbraucht werden, aber das ist ein absolutes Tabu".

Laut einem Bericht von Frontiers in Behavioral Neuroscience sind neun von zehn autistischen Frauen in Frankreich Opfer sexueller Gewalt. Marie Rabatel wurde selbst als Jugendliche vergewaltigt und leidet an einem posttraumatischen Stresssyndrom. Die Misshandlung von Frauen mit Behinderungen kommt in 30 % der Fälle vor, die die Hebamme Béatrice Idiard-Chamois im Institut Mutualiste Montsouris in Paris gesehen hat, wo sie seit 2015 arbeitet.

Ihrer Meinung nach liegt das Problem darin, dass Menschen mit Behinderungen als verletzliche Personen betrachtet werden, "als Objekte, die nur alles erdulden können, was die Menschen ihnen antun wollen". Und diese Missbräuche werden laut Béatrice Idiard-Chamois auch von medizinischem Personal begangen.

Sie verbieten ihnen, einen Frau zu sei und zu existieren.
Beatrice Idiard-Chamois
Hebamme mit Behinderung

Diejenige, die die diskriminierende Behandlung von Frauen mit Behinderungen durch Ärzte und Ärztinnen gut kennt, sitzt aufgrund einer genetischen Erkrankung selbst im Rollstuhl. Als sie mit ihrer heute 31-jährigen Tochter schwanger werden wollte, bekam sie den Rat, dass sie dies nicht tun sollte. Es bestand die Gefahr, dass das Baby ihre Krankheit erben könnte. Doch das trat nicht ein.

"Sie verbieten Ihnen regelrecht, eine Frau zu sein und zu existieren", meint die Hebamme, der die behandelnden Ärzte und Ärztinnen gesagt haben, dass die Schwangerschaft "die Gesellschaft viel Geld kosten" würde. "Wenn das keine Eugenik ist, was ist es dann?", empört sich Béatrice Idiard-Chamois.

Eugenik wurde in ganz Europa und nicht nur in Nazi-Deutschland praktiziert, wie ein Bericht der Generalinspektion des Sozialsektors in Frankreich konstatiert.

"Nach der Gesellschaft, in der wir leben, dürfte ich auch nicht existieren", sagt Beatrice Idiard-Chamois. Die Feststellung ihrer Krankheit ist Teil der Tests, die im dritten Schwangerschaftsmonat durchgeführt werden können, um der werdenden Mutter eine Abtreibung zu ermöglichen, wenn der Fötus Probleme aufweist.

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"Zu entscheiden, wer lebt und wer nicht, ist eine schreckliche Sache", sagt Kjell Sundstedt, ein 71-jähriger schwedischer Filmemacher, der aufgrund einer genetischen Krankheit erblindet ist. Mitglieder seiner Familie wurden in den Jahren, in denen die schwedische Gesellschaft das Eugenikprojekt ihrer Regierung verteidigte (1934 und 1976), zwangssterilisiert. "Damals dachten einige, dass wir nicht existieren dürften, weil wir eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten", erinnert er sich.

Diese Reportage wurde mit der Unterstützung von Journalismfund Europe realisiert.

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