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Estland ist gewappnet: Über 3 Prozent des BIP fließen in die Verteidigung

Estland ist gewappnet: Über 3 Prozent des BIP fließen in die Verteidigung
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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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Diese Witness-Folge kommt aus Estland. Eine Recherche von Hans von der Brelie bei der Übung von Freiwilligenverbänden zusammen mit NATO-Truppen.

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EU-Mitglied Estland fühlt sich bedroht von Russland. In diesem Jahr will der kleine NATO-Staat über 3 Prozent seines Bruttosozialproduktes für Verteidigung ausgeben. Was geschieht mit dem Geld? Und: Welches Verteidigungskonzept steckt dahinter? 

Indrek Jurtšenko ist gelernter Opernsänger. Im Zivilleben organisiert er innovative Filmfestivals und Kultur-Events. Doch heute nimmt er mich mit zu einem Militär-Manöver. Bewaffnete Zivilisten bereiten sich gemeinsam mit Berufssoldaten auf den Ernstfall vor. "An unserer Übung nehmen etwa 500 Menschen teil, überwiegend Esten, aber auch Litauer und Franzosen", erläutert Jurtšenko, während er den geländegängigen Allradwagen durch Schlammlöcher eines schmalen Waldwegs steuert.

Der gelernte Opernsänger Indrek Jurtšenko nimmt an einem Militär-Manöver teil.
Der gelernte Opernsänger Indrek Jurtšenko nimmt an einem Militär-Manöver teil.euronews

Esten-Miliz und NATO-Profis üben gemeinsam Grabenkampf

Die Übung "Nordischer Frosch" findet auf dem Gelände eines früheren sowjetischen Militärflughafens statt. Das Flugfeld ist riesig und liegt isoliert mitten in einem ausgedehnten Sumpf- und Nadelwaldgebiet. Infanteristen aus Frankreich befestigen Schützengräben neben der Landepiste. Denn im Wald lauern – so das Planspiel - baltische Freiwilligenverbände: bewaffnete Zivilisten mit militärischer Profi-Ausbildung.

Das Manöver-Szenario ähnelt dem Angriff Russlands gegen die Ukraine: der Kampf um Flughäfen bei Kiew, später dann der Grabenkampf-Stellungskrieg im Osten. Was sind – aus französischer Profi-Perspektive - im Ernstfall die Vorteile einer Freiwilligen-Miliz wie hier in Estland, frage ich Hauptmann Hubert.

"Die estnischen Freiwilligenverbände arbeiten in ihrem eigenen Lebensumfeld, also dort, wo sie sich gut auskennen. Der große Vorteil des Estnischen Verteidigungsbundes ist es, menschliche Ressourcen sofort überall dort zur Verfügung zu haben, wo man sie benötigt", meint Hauptmann Hubert. Zwar hat auch Estland eine kleine Berufsarmee, die EDF. Doch in die Verteidigungsplanung sind die Milizen der EDL voll mit eingebunden.

Hauptmann Hubert ist angetan von der Wehrhaftigkeit der Esten
Hauptmann Hubert ist angetan von der Wehrhaftigkeit der Esteneuronews

Im "Estnischen Verteidigungsbund" EDL sind 30.000 Mann zusammengeschlossen. Für die Manöver opfern sie ihre Freizeit. Bezahlt werden sie dafür nicht. Viele der im Zivilleben als Arbeiter oder Angestellte, Bauern oder Beamte tätigen Mitglieder haben auch privat einen Waffenschein und bei sich zu Hause ein Gewehr im Schrank stehen. Im Ernstfall wissen sie damit umzugehen. Es ist so ein bisschen wie in der Schweiz.

Was kann die NATO von den Esten lernen?

Was können die NATO-Soldaten von den Esten lernen, frage ich den estnischen EDL-Oberstleutnant Jaanus Ainsalu. "Was wir von unserer Seite aus beitragen können, ist die Erfahrung, in einer estnischen Landschaft zu kämpfen, mit unseren ganz spezifischen Wetterbedingungen", meint Ainsalu. "Und dann kann man bei uns ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, wenn man sich mit einem gestandenen estnischen Bauern anlegt, der sein Land verteidigt, - etwas, was bei unseren Verbündeten wohl etwas in Vergessenheit geraten ist."

Der estnische EDL-Oberstleutnant Jaanus Ainsalu ist kampfbereit
Der estnische EDL-Oberstleutnant Jaanus Ainsalu ist kampfbereiteuronews

Temperaturen um den Gefrierpunkt, mitten im April, vereinzelte Schneeflocken, feuchtkalter Wind; die Franzosen wärmen sich am Lagerfeuer. Haben die estnischen Freiwilligen eine Chance gegen die Berufssoldaten? Das wird sich morgen zeigen. Jetzt heißt es erst einmal: Zeltbau im Wald. Rasch ist es stockdunkel, die Esten haben kleine, rote Stirnlampen, kaum auszumachen im Gestrüpp des Unterholzes. Rasch stehen die Mannschaftszelte, im Zentrum ein kleiner Holzofen mit Abzugsrohr, so lässt es sich auch im tiefsten Winter draußen aushalten.

Geschichten des Widerstands

Während der Manöverpause mache ich einen Abstecher zu Ants Silm und Jaan Viktor. Hinter dem Nadelwald steht in einem kleinen Dorf ein hübsches Holzhaus mit Satteldach. Ich klopfe an, ein sportlich wirkender Senior in rotem T-Shirt öffnet, Jaan Viktor. Es gibt Kaffee und Gebäck, auf dem Tisch steht eine Kerze, daneben liegt ein Stapel angegilbter Schwarz-Weiß-Fotos, auch einige leicht unscharfe Farbaufnahmen - ein knappes Jahrhundert estnischer Geschichte, immer mit dabei: Ants und Jaan.

Ants Silm und Jaan Viktor können viel vom Widerstand erzählen
Ants Silm und Jaan Viktor können viel vom Widerstand erzähleneuronews

Anfang der 90er-Jahre schlossen sie sich dem Estnischen Verteidigungsbund Kaitseliit an, so der Name der Freiwilligen-Miliz in der Landessprache. Sie organisierten den Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer vor Ort. Hier im Norden des Landes blockierten sie mit 250 Gleichgesinnten die Brücke von Narwa und stellten an der historischen Grenze estnische Grenzbäume auf.

"Das war eine Geheimoperation", erzählt EDL-Veteran Ants Silm stolz, "denn Estland war ja besetzt." Über dem borstigen Schnurrbart blitzen verschmitzt zwei hellwache Augen. "Wir haben den KGB und die gesamte Sowjetunion ausgetrickst und denen gezeigt, dass wir frei sind zu tun, was wir tun wollen."

Auch EDL-Fähnrich Jaan Viktor war mit von der Partie: "Morgens in aller Frühe sind wir nach Narwa gefahren. Dort haben wir die Brücke besetzt. Wir haben die Brücke völlig unter unsere Kontrolle gebracht. Mir haben sich alle Haare aufgestellt, mein ganzer Körper stand total unter Stress…" – Auch beim Barrikaden-Bau in der Hauptstadt Tallinn half Viktor.

Damals, 1991, wurde überall in Estland friedlich protestiert. Die "Singende Revolution", mit der seit den späten 80er-Jahren nicht nur in Estland, sondern auch in den baltischen Nachbarländern gegen das Sowjetregime demonstriert wurde, ist eine der Keimzellen der Wiedererlangung staatlicher Unabhängigkeit der drei Baltenstaaten. Als dann 1991 in Moskau das Militär gegen die Reformer putschte und versuchte, den Zerfall der Sowjetunion mit Waffengewalt zu stoppen, drohte auch in Litauen, Lettland und Estland das Umkippen in offene Kampfhandlungen. Der weitere Verlauf ist Geschichte: Wiedergründung der drei baltischen Staaten, Scheitern des Moskauer Putsches, Ende der Sowjetunion.

Die Angst vor dem großen Nachbarn im Osten

Doch die tief verwurzelte Skepsis der meisten Litauer, Letten und Esten gegenüber Russland liegt nicht nur in den Ereignissen der 80er- und 90er- Jahre begründet. Woher rührt sie, die Angst vor dem großen Nachbarn im Osten? - Viele Balten erinnern sich an Angehörige und Freunde, die in der Stalin-Zeit nach Russland deportiert wurden. Abertausende starben. Auch Jaan Viktors Vater kam damals nach Sibirien, magerte ab auf 49 Kilo, überlebte nur knapp. – Warum Gulag, frage ich Viktor?

EDL-Fähnrich Jaan Viktor erzählt vom Schicksal seines Vaters (Bild)
EDL-Fähnrich Jaan Viktor erzählt vom Schicksal seines Vaters (Bild)euronews

"(Mein Vater) hatte Wahlplakate der Kommunisten abgerissen und war daraufgetreten", erzählt Viktor. "Eine Militärpatrouille nahm ihn fest und schickte ihn nach Tallinn. Dort wurde er zu 8 Jahren verurteilt. In Sibirien haben sie dann entschieden, seine Strafe zu verlängern, insgesamt verbrachte er 13 Jahre in Gefangenschaft." Viele Mitdeportierte überlebten Sibirien nicht, an sie erinnert das große Memorial am Rande der Hauptstadt.

Auch Frauen tragen zur Verteidigung Estlands bei

Zurück in den Wald zum Militärmanöver der EDL-Miliz mit französischen und anderen NATO-Soldaten. Versteckt hinter einer Baumgruppe schminkt sich eine Gruppe Frauen im Battle-Outfit die Gesichter tannengrün-schwarz. 

Nie wieder Fremdherrschaft, das hat sich auch Reet Saari geschworen. Die Mutter und Baumarkt-Verkaufsleiterin befiehlt eine mit Gewehren und Panzerfäusten bewaffnete Frauen-Kampfeinheit. Sergeant Saaris Spähtrupp besteht aus Kindergärtnerinnen, Medizinerinnen, Hotelfachfrauen, Verwaltungsangestellten, Studentinnen.

Reet Saari, eine Mutter und Baumarkt-Verkaufsleiterin, befiehlt eine mit Gewehren und Panzerfäusten bewaffnete Frauen-Kampfeinheit.
Reet Saari, eine Mutter und Baumarkt-Verkaufsleiterin, befiehlt eine mit Gewehren und Panzerfäusten bewaffnete Frauen-Kampfeinheit.euronews

Warum lassen sich Saari und ihre Frauen im Gebrauch von Kriegswaffen ausbilden? Warum opfern sie ihre freie Zeit für tagelangen, harten Militärdrill im Wald? "Estland ist ein kleines Land mit nur wenigen Einwohnern", erinnert Saari. "Jeder muss deshalb auf seine Weise zur Verteidigung unseres Landes beitragen. Einige könnten (im Ernstfall) an der Front kämpfen, im Wald, so wie ich. Andere helfen in der Etappe, mit der Logistik. Wir müssen alle etwas beisteuern."

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Die Kämpferinnen der Freiwilligen-Miliz haben den Befehl, sich unbemerkt von gegnerischen Drohnen der Position der (von den französischen NATO-Gästen gespielten) Invasoren zu nähern. Saari führt ihren Spähtrupp durch dichtes Buschwerk, huscht über Lichtungen, ein verdächtiges Surren aus der Luft, ein Fingerzeichen Saaris, der Trupp verharrt augenblicklich auf der Stelle, gedeckt von Baumstämmen, Sträuchern, Wurzelwerk, Erdmulden. Das leise Surren aus der Luft entfernt sich, Saaris Trupp setzt sich erneut in Bewegung Richtung Manöver-Feind.

In Übungen wie diesen hat Reet Saari schießen gelernt, einige Grundlagen der Kriegsmedezin, solide Techniken der Aufklärungstaktik, Überlebenstraining in der Wildnis und Nahkampf im Schützengraben. "Und sogar kochen für eine halbe Armee", lacht Saari in einer Manöverpause. Daheim übernimmt das üblicherweise ihr Partner, auch er ist in der EDL. Wenn sie wirklich mal eine Stunde für sich allein hat, geht Saari gerne spazieren – oder sie hört Musik, mit Vorliebe Heavy Metal Rock.

Estland ist russischen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt

Abstecher in die Hauptstadt Tallinn. Das kleine NATO-Land im Norden der Europäischen Union ist seit Jahren russischen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt: Luftraumverletzungen, Fake-News-Kampagnen und Cyber-Angriffe sind fast schon Alltag in Estland. Jüngste Belästigungsattacke aus Richtung Russland: Die systematische Störung von GPS-Signalen in, um und über Estland.

Vor dem Tallinner Freiheits-Museum Vabamu treffe ich Generalmajor Riho Ühtegi, bis zu seiner Pensionierung vor wenigen Tagen stand er an der Spitze der Freiwilligen-Miliz EDL. "Warum treffen wir uns gerade hier, beim Vabamu-Museum", frage ich. Riho Ühtegi: "Der Verteidigungsbund ist seit unserer Unabhängigkeit Teil der Geschichte Estlands. Der Bund wurde bereits 1917 gegründet. Alles, was unserer Nation zustieß, machte auch der Verteidigungsbund durch, all diese Repressionen, Beschränkungen, Besatzungen."

Hans von der Brelie (re.) besucht mit Generalmajor Riho Ühtegi das Freiheits-Museum
Hans von der Brelie (re.) besucht mit Generalmajor Riho Ühtegi das Freiheits-Museumeuronews

Wir gehen durch die Dauerausstellung des Freiheitsmuseums, Gulag-Kleidung, Briefe aus dem Exil, Auswanderer-Fotos, Zeugnisse von Lagerhaft und Alltag im sowjetisch besetzten Nachkriegsestland. Ühtegi bleibt vor einer Vitrine mit Tagebuchaufzeichnungen stehen: "Estland wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von russischen Truppen besetzt", sagt er. "Zeitgleich begannen Übergriffe, Misshandlungen, Verhaftungswellen." Und weiter: "Wir blieben leider 50 Jahre lang Teil der Sowjetunion." Und rückblickend auf die vergangenen Jahrhunderte meint Ühtegi: "Immer hat irgendwer Besitzansprüche auf unser Land angemeldet, immer gehörten wir irgendwem, und doch haben wir Esten uns durch die Jahrhunderte unseren Freiheitswillen bewahrt."

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Nach dem Besuch im Vabamu gehen wir einige Schritte Richtung Altstadt, einen kleinen Hügel hoch. 1991 bedrohten russische Truppen Tallinn. Riho Ühtegi verteidigte zusammen mit einer Handvoll Freiwilliger das Regierungsviertel der Hauptstadt: "Ich wurde mit meinen Leuten zur Verteidigung des Regierungs-Viertels (hier auf den Hügel) geschickt. Wir hatten Molotov-Cocktails. Und auch einige kleinere Waffen. Die Verteidigungsstellung war zwischen diesem Gebäude links und der Wand rechts. Wir hatten einen Kran. Die Durchfahrt haben wir mit Felsblöcken blockiert. Dann begannen die russischen Truppen damit, sich bergauf in Bewegung zu setzen."

Für seine Risikobereitschaft, seinen Mut und seinen jahrzehntelangen Einsatz für Estlands jungen Staat erhielt Ühtegi derart viele Orden, dass er sie eines Tages dem EDL-Hauptquartier übergab, wo sie eine große Vitrine im Eingangsbereich schmücken. Ühtegi leitete jahrelang Estlands Sondereinsatzkommando und arbeitete für den Militär-Geheimdienst seines Landes – bis er am Ende seiner Karriere die Leitung der Freiwilligenmiliz EDL übernahm.

Ühtegi gilt als klarer Kopf, als einer, der analysieren und einordnen kann. Daher meine direkte Frage an ihn, wie er denn – mit dem angesammelten Wissen jahrelanger Aufklärungsarbeit und Militärerfahrung – Russlands Bedrohungspotential für die baltischen Staaten heute einschätzt. Denn im Unterschied zu früheren Zeiten sind Estland, Litauen und Lettland heute Mitglied im westlichen Verteidigungsbündnis. Also: Ist NATO-Mitglied Estland heute sicher vor einer erneuten Aggresssion aus dem Osten? Ühtegi denkt kurz nach, bevor er antwortet. Dann sagt er: "Dieses Großmachtgefühl von früher, das ist immer noch nicht aus Russland verschwunden. Das ist immer noch in denen drin. Und deshalb müssen wir wachsam bleiben."

Interview mit dem Verteidigungsminister Estlands

Ich mache mich auf den Weg zu meiner nächsten Verabredung. Zunächst hätte ich den Verteidigungsminister Estlands zusammen mit seinem französischen Kollegen am Rande einer Zeremonie vor dem großen Deportations-Memorial am Ufer der Ostsee treffen sollen. Wegen der sich zuspitzenden Lage in Nahost wird der Interviewtermin zunächst abgesagt. Letztendlich lässt sich dann doch noch ein 10-Minuten-Fenster finden, am Eingang des Ministeriums. Estland drängt die NATO-Partner zu höheren Verteidigungsausgaben. Zwei Prozent des Bruttosozialprodukts reichen nicht, meint Verteidigungsminister Hanno Pevkur.

Hans von der Brelie: "Ich habe einige Fragen zur Verteidigung Estlands, zu den Herausforderungen und dazu, was in den kommenden Monaten und Jahren ganz oben auf ihrer Prioritätenliste steht."

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Hanno Pevkur:"Nun, für uns liegt es auf der Hand, dass die Hauptbedrohung, nicht nur für Estland, sondern für die NATO als Ganzes, nach wie vor Russland ist. Deshalb ist es für uns wichtig, die Verteidigungsausgaben (auch langfristig) bei drei Prozent (des Bruttosozialproduktes) zu halten. Wir (Esten) haben diese Entscheidung (bereits) im Parlament getroffen."

Hans von der Brelie: "Was sind im neuen Verteidigungsplan 2024 bis 2027 die obersten Prioritäten Estlands?"

Hanno Pevkur: "Wir erweitern unsere Fähigkeiten und kaufen Artillerie-Selbstfahrlafetten, neue Luftverteidigungssysteme, auch solche mit mittlerer Reichweite, viele neue panzerbrechende Waffen und jede Menge Munition. Dabei ziehen wir unsere Lehren aus der Ukraine. – In den vergangenen zwei Jahren haben wir mehr Munition gekauft als in den 30 Jahren zuvor! Anteilsmäßig stecken wir immer noch ein Viertel unserer Verteidigungsausgaben in die Munitionsbeschaffung."

Hans von der Brelie: "Estland hat neben einer kleinen Berufsarmee auch eine große Freiwilligenmiliz. Warum diese Doppelstruktur?"

Hanno Pevkur: "Wie haben in Estland eine Wehrpflicht und jedes Jahr werden etwa 4000 junge Wehrpflichtige gezogen, die dann eine sehr solide zwölfmonatige Grundausbildung erhalten. Viele der Reservisten schließen sich dann später, nach Abschluss des Wehrdienstes, dem Estnischen Verteidigungsbund EDL an, das ist ein Freiwilligenverband. Dieser Verband besteht aber nicht nur aus jungen Reservisten, sondern auch aus 30- und 40jährigen (Zivilisten). Der Verband ist also sehr breit aufgestellt und ergänzt unsere Berufsarmee."

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Verteidigungsminister Hanno Pevkur steht dem Reporter Rede und Antwort
Verteidigungsminister Hanno Pevkur steht dem Reporter Rede und Antworteuronews

Hans von der Brelie: "Was sind die Vorteile?"

Hanno Pevkur: "Territorialverteidigung (unter Mitwirkung von Freiwilligenverbänden) ist absolut notwendig, wir sollten in dieser Hinsicht die Lehren aus der Ukraine ziehen. Auch dort spielten die Territorialverteidigungseinheiten eine extrem wichtige Rolle."

Der Minister zitiert ein in Estland geflügeltes Wort, das die Besonderheit des estnischen Verteidigungskonzepts recht anschaulich illustriert: "Jeder Busch schießt zurück!"

Hans von der Brelie:"Welches Signal senden Sie, welches Signal senden Estland und die NATO an (den russischen Präsidenten) Putin?"

Hanno Pevkur: "Das Signal ist sehr einfach und sehr klar: Denken Sie nicht daran, einen Krieg gegen NATO-Staaten zu beginnen, denn wir sind stark. Wir sind stärker als Russland. Und wir sind einig. Die kommenden 75, die kommenden 750 Jahre, so lange es nötig ist."

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Hans von der Brelie: "Ist Russland ein Risiko für das NATO-Mitglied Estland?"

Hanno Pevkur: "Das (russische) Risiko ist immer noch da, darin waren sich alle NATO-Staaten bereits vor zwei Jahren bei ihrem Gipfel-Treffen in Madrid einig. Alle Einschätzungen (der Bedrohungslage) zeigen, dass sich Russland von der Demokratie weg entwickelt. Es geht in Richtung Diktatur. Das bedeutet, dass Russland auch weiterhin die größte Bedrohung für das NATO-Bündnis ist."

Im Ernstfall ist Estland kampfbereit

Zurück in den Wald, zurück zum Militär-Manöver im Schützengraben. Reet Saari und ihre Frauen-Einheit greifen die Stellung der (gespielten) Invasoren von der Seite an. Dank des geschickten Ablenkungsmanövers gelingt es Reets männlichen Miliz-Kollegen einer anderen Einheit, die Position der Gegner von rückwärts aufzurollen. 

Die Profi-Soldaten aus Frankreich staunen nicht schlecht: Die haben was drauf, die estnischen Freiwilligenverbände! Es fallen anerkennende Bemerkungen: "Sobald die ihre Zivilklamotten gegen die Uniform eintauschen, sind sie von Berufssoldaten kaum noch zu unterscheiden, sowohl was die Fähigkeiten im Kampf betrifft, wie auch taktisches Denken und alles was dazu gehört." Instrukteure und Befehlshaber auf beiden Seiten sind sich einig: Im Ernstfall ist Estlands Freiwilligen-Truppe kampfbereit.

Lassen wir noch einmal den französischen Hauptmann Hubert aus Korsika zu Wort kommen: "Das sind echte Experten für den Kampf im Wald. Sie können sehr gut schießen, mit einer hohen Trefferquote. Im Grabenkampf können wir noch was von denen lernen. Sie kennen sich extrem gut mit Drohnen aus. In dieser Beziehung sind sie äußerst effektiv und vorausschauend. Gerade das ist für uns wirklich interessant, denn es ist ja von brennender Aktualität."

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NATO-Offiziere sind voller Lob für die duchtrainierten Zivilisten im Baltikum. Die Milizkämpfer können improvisieren und finden auch im Gefechts-Stress Lösungen für böse Überraschungen. Die Befehlsketten funktionieren perfekt, Aufklärung und Kommunikationsfluss sind professionell, ist am Rande der Übung immer wieder zu hören.

NATO-Manöver in Estland laufen reibungslos
NATO-Manöver in Estland laufen reibungsloseuronews

Einer für alle, alle für einen

Eine Woche Manöver tief im Wald, das macht hungrig. Am Rande einer versteckten Waldlichtung ist eine Feldküche aufgefahren. Große Behälter randvoll mit Bratkartoffeln, Salat, Eintopf. Frage an Reet Saari, die Kommandeurin der Frauen-Kampfeinheit: Europa, Demokratie, Freiheit – was bedeutet das ganz persönlich für Sie? Sie nimmt ihren Schutzhelm ab, hellviolett gefärbte Haare kommen zum Vorschein. "Für mich heißt das zunächst Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit", meint Saari. "Ich kann frei reisen und studieren, wo ich will. Ich kann frei meine eigenen Entscheidungen treffen – und sei es auch nur, wie ich mir die Haare färbe."

Stimmen aus der Ukraine warnen, dass auch die baltischen Staaten auf Putins Liste stehen könnten. Doch Artikel 5 des NATO-Vertrages garantiert die Beistandspflicht für jeden angegriffenen Mitgliedstaat: Einer für alle, alle für einen. So sehen das auch die Frauen in Estlands Freiwilligentruppe.

Weitere Quellen • Fixer & Übersetzer: Ele-Mall Vainomäe; Video: Nicolas Coquet; Ton: Matthieu Ducheine; Produktion: Alice Vignon, Carolyne Labbe; Grafiken: Loredana Dumitru; Besonderer Dank: VABAMU; Produktionsleitung: Sophie Claudet

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