Die Amerikaner sind an der Spitze des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses. Jetzt wird in höchsten Kreisen diskutiert, dass sich das in Zukunft ändern soll. Ist eine deutsche Führung möglich?
Der amerikanische NATO-Botschafter, Matthew Whitaker, äußerte bei der Berliner Sicherheitskonferenz einen Wunsch: Deutschland soll in der Zukunft die Führungsrolle der NATO übernehmen.
"Ich freue mich auf den Tag, an dem Deutschland zu den USA kommt und sagt, dass sie bereit sind, die Position des Oberbefehlshabers der Alliierten zu übernehmen", so Whitaker. Zwar räumte er ein, dass "wir davon noch weit entfernt sind", dennoch würde er sich auf diese Gespräche freuen, wie der britische Telegraph berichtet.
Laut Whitaker würden die USA die militärischen Kräfte Europas gerne gleichauf mit den USA sehen. Er nannte dies ein "ambitioniertes Ziel, auf das wir uns alle freuen sollten."
Eine mit der Situation vertraute Quelle aus den USA sagte Euronews, dass Whitaker "jemand ist, der traditionelle US-Ansichten zur NATO vertritt", weswegen seine Aussage für die Quelle überraschend ist. Dennoch hat die "Trump-Regierung dies bereits vor einigen Monaten angedeutet."
Auch aus Kreisen der NATO erfährt Euronews, dass "die Äußerungen des Botschafters im Einklang mit den Aussagen der Amerikaner stehen, dass die Sicherheit Europas in den Händen der Europäer liegt."
Risiken eines frühen Rückzugs angesichts der Ukraine
Der kürzlich geleakte 28-Punkte-"Friedensplan" von den USA und Russland, der ein mögliches Ende des russischen Angriffskriegs skizzieren soll, gilt als weiteres Indiz dafür, dass die USA ihre Führungsrolle in der NATO perspektivisch zurückfahren wollen.
Sicherheitsexpertin Dr. Claudia Major bezeichnet dies in der ARD-Talkshow "Caren Miosga" als "Entamerikanisierung der NATO", da die USA in dem Papier weniger als aktiver Bündnispartner, sondern eher als Vermittler zwischen NATO und Russland auftreten.
Die amerikanische Quelle sagt zu Euronews, dass diese Sichtweise "rein theoretisch gesehen schwer zu widerlegen" sei, sondern könnte unter langfristigen Bedingungen "sogar Sinn ergeben". Gleichzeitig warnte sie jedoch, dass dies angesichts der "Volatilität" und des "Wahnsinns" des Krieges in der Ukraine derzeit der falsche Zeitpunkt für einen amerikanischen Rückzug aus der NATO sei.
Laut dem Sicherheitsexperten und Professor an der Universität der Bundeswehr in München, Professor Dr. Carlo Masala, steckt dahinter der Wunsch der Amerikaner, sich "schrittweise aus der Führungsrolle zurückzuziehen".
"Zunächst muss man sagen, dass die Aussage perspektivisch gerichtet war und nicht nach dem Motto, dass die Deutschen das am besten morgen übernehmen sollen, sondern über einen längeren Zeitraum", so Masala im Gespräch mit Euronews.
Ein deutscher SACEUR
Traditionell wird die Führungsrolle des Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) – also des Oberbefehlshabers der NATO-Streitkräfte in Europa – seit der Gründung des Bündnisses von einem US-General oder Admiral besetzt. Als Richtlinie oder Gesetz ist das jedoch nicht verankert – vielmehr gilt es als eine politische und historische Übereinkunft.
Der aktuelle SACEUR ist der US-Air Force General Alexus G. Grynkewich, der neben der NATO-Führungsrolle auch der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa ist. Masala zufolge war die Logik hinter einem amerikanischen SACEUR, dass "er 'double-headed' ist, das heißt, er kommandiert gleichzeitig die US-Truppen in Europa und die NATO-Truppen, einschließlich der amerikanischen.
Bei einem deutschen – oder allgemein europäischen SACEUR – wäre diese Kommandogewalt über die amerikanischen Truppen natürlich nicht mehr gegeben, so Masala.
Nach Angaben des Europa-Kommandos der US-Streitkräfte sind momentan etwa 78.000 Soldaten und Soldatinnen in Europa stationiert. Vergangenen Monat wurde bereits eine Reduzierung der amerikanischen Truppen in Rumänien von 4.000 auf circa 1.000 Soldaten und Soldatinnen verkündet.
Bereits in Trumps erster Amtszeit sollten die Truppen in Europa reduziert werden. "Seltsamerweise stieg damals die Zahl der dauerhaft in Deutschland stationierten US-Truppen an", erklärt der US-Armeeoffizier Ben Hodges, ehemaliger Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, im Interview mit Euronews.
"Jetzt scheint die Regierung entschlossener zu sein, die Reduktion durchzuführen. Das, was die Armee in Europa vorhält, wird im Pazifik nicht benötigt, könnte aber dennoch abgebaut werden, um Geld und Ressourcen freizusetzen", so Hodges weiter.
Deutschland als Motor der europäischen Aufrüstung
Seit dem russischen Angriffskrieg 2022 und Trumps Rückkehr ins Amt steht Europa vor einer massiven Aufrüstungswelle. Zukünftige Verteidigungsausgaben über einem Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) sind von der Schuldenbremse ausgenommen und ab Januar 2026 sollen junge Männer wieder gemustert werden.
Die Bundeswehr soll damit "kriegstüchtig" gemacht werden. Eine Forderung, die schon öfter von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) geäußert wurde.
Masala ist der Meinung, dass Deutschland momentan das einzige Land in Europa sei, das "diese ganze Politik der 'Bewaffnung' europäischer Streitkräfte" vorantreiben kann, aufgrund der verfügbaren finanziellen Mittel.
"Wir kommen so oder so in eine neue militärpolitische Rolle rein", so der Sicherheitsexperte, der jedoch einräumt, dass Berlin das seiner Meinung nach "noch nicht ganz Begriffen" habe.
In der NATO wird ein solches Szenario momentan nicht besprochen, wie Euronews erfährt. "Wir diskutieren nicht darüber, wie das funktionieren würde, weil es einfach keine Rolle spielt", heißt es.
Ein deutscher SACEUR würde Masala zufolge jedoch nicht bei der Europäisierung der NATO helfen, "weil diese ganze Management-Funktion, die ja von der NATO ausgeübt wird, mit Blick auf europäische Streitkräfte, maßgeblich von den Amerikanern betrieben wird."
"Das heißt, nur an der Spitze jemanden auszutauschen, würde nichts helfen, wenn sich die Amerikaner wirklich sukzessive aus der NATO zurückziehen, auch was ihr Personal anbelangt", ergänzt Masala. Es würde weiterhin ein Staat gebraucht werden, der die USA ersetzen kann. Ihm zufolge würden da nur Großbritannien und Deutschland bleiben.
"Man kann jedoch im Endeffekt sagen, dass diese Aussage – dieser Wunsch – ein bisschen ein Blick in die Zukunft ist. Die Amerikaner werden ihr Engagement reduzieren – das, glaube ich, ist zu erwarten", so Masala.
Ein genereller NATO-Austritt von den USA wird nicht erwartet, wie Euronews auch aus Kreisen des litauischen Verteidigungsministeriums erfährt. Die USA würden weiterhin den globalen Einfluss brauchen, heißt es. Der Druck auf Europa, mehr für seine Verteidigung zu tun, bleibt dennoch bestehen.