Die Strategie Kyjiws, die russische Ölindustrie zu treffen, ist "das Effizienteste, was die Ukraine tun kann", um Russlands Kriegsmaschinerie zu schaden. Das sagt der Ökonom Wladislaw Inosemzew im Gespräch mit Euronews.
In der Nacht zum Donnerstag hat die Ukraine eine der größten russischen Ölraffinerien und petrochemischen Anlagen Russlands in der Republik Baschkortostan angegriffen, 1.300 Kilometer von der Frontlinie in der Ukraine entfernt.
Parallel dazu meldeten die ukrainischen Sondereinsatzkräfte einen Angriff auf eine Ölraffinerie in der russischen Region Wolgograd.
Die Raffinerie in Wolgograd, etwa 450 km von der Front entfernt, spielt nach Angaben der ukrainischen Sondereinsatzkräfte eine Schlüsselrolle bei der Versorgung des russischen Militärs mit Treibstoff.
Sie ist der größte Hersteller von Erdölprodukten im südlichen Föderationskreis Russlands und verarbeitet jährlich 15,7 Millionen Tonnen Rohöl, was 5,6 % der gesamten Raffineriekapazität des Landes entspricht.
Die Ukraine hat in den vergangenen Wochen ihre Präzisionsangriffe auf die russische Ölindustrie verstärkt. Dies hat zu Produktionsstörungen geführt und sogar zu einer landesweiten Treibstoffknappheit.
Nach Berechnungen von Reuters haben die ukrainischen Angriffe Anlagen lahmgelegt, die mindestens 17 Prozent der russischen Ölverarbeitungskapazität oder 1,1 Millionen Barrel pro Tag (bpd) ausmachen.
Der russische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Wladislaw Inosemzew (auch: Inozemtsev) sagte Euronews, dass Kyjiws Strategie, die russische Ölindustrie zu treffen, "das Effizienteste ist, was die Ukraine tun kann", um Russlands Kriegsmaschinerie zu schaden.
Treibstoff für Russlands Kriegsmaschinerie
Russlands Regierung ist in hohem Maße von den Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor abhängig. Ölexporte machen etwa ein Drittel des russischen Staatshaushalts aus und sind damit eine wichtige Finanzierungsquelle für den Krieg in der Ukraine.
Die Öl-Infrastruktur Moskaus ins Visier zu nehmen, war für Kyjiw ein logischer nächster Schritt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, dies seien "die Sanktionen, die am schnellsten wirken".
Ökonom Inosemzew erklärte Euronews, dass Angriffe auf Ölraffinerien eine wesentlich größere Wirkung haben als beispielsweise Angriffe auf Produktionsstätten für Drohnen.
Laut Wladislaw Inosemzew braucht man nicht viel Zeit, um eine Drohnenfabrik einzurichten oder zu reparieren, die nicht viel mehr ist als "eine große Montagehalle, in der Komponenten geliefert, zusammengebaut, geprüft und getestet werden".
"Nehmen wir an, eine Drohne greift eine solche Fabrik an - es würde drei Tage dauern, um alles wieder aufzubauen. Aber wenn man eine Ölraffinerie angreift - die Folgen sind viel ernster, sie würde wochenlang brennen", sagte er Euronews.
Die Ausrüstung von Ölraffinerien wiederum sei nicht nur kostspielig, sagte Inosemzew, sondern auch fast unersetzlich, da Moskau unter erheblichen westlichen Sanktionen stehe.
"In der Tat handelt es sich um europäische und amerikanische Ausrüstung. Es ist schwierig, sie durch chinesische Ausrüstung zu ersetzen", erklärte der Ökonom.
Angriffe auf die großen Ölraffinerien führen zu einem erheblichen Produktionsrückgang, auch bei Benzin.
"Ein Rückgang der Benzinproduktion um 10 Prozent ist eindeutig ein Defizit für die gesamte Wirtschaft, während ein Rückgang der Dieselproduktion um 30 Prozent überhaupt nichts bedeutet", so Inosemzew.
"Alle reden über die Probleme mit Benzin"
"Und die Situation beim Benzin ist spürbar. Alle reden von Problemen mit Benzin. Und das ist wahr, es gibt sie, und die Ukrainer haben sie geschaffen."
In immer mehr Regionen des Landes sind die Tankstellen leer, die Autofahrer stehen in langen Schlangen an und die Behörden greifen auf Rationierungen zurück oder stellen den Verkauf ganz ein. Die Knappheit hat sich auch auf zentrale Regionen Russlands ausgeweitet, da die Kraftstoffpreise Rekordhöhen erreicht haben.
"Die Ukrainer haben hier den Nagel auf den Kopf getroffen", betonte Inosemzew.
Das Problem besteht, und die Preise werden steigen. Versorgungsunterbrechungen sind schmerzhaft, denn praktisch jeder hat ein Auto.
"Wenn die Leute also sehen, dass es an der Tankstelle nichts gibt, ist das meiner Meinung nach einer der drei wichtigsten Störfaktoren: Benzinmangel, Flughafensperrungen und Internetunterbrechungen. Das sind drei Dinge, die alle Russen spüren."
Kann Moskau das Problem lösen?
Russland ist nach wie vor der zweitgrößte Erdölexporteur der Welt, aber ein saisonbedingter Anstieg der Nachfrage und anhaltende ukrainische Drohnenangriffe haben die Ölindustrie des Landes in große Schwierigkeiten gebracht.
Um die Knappheit zu lindern, hat Moskau die Benzinexporte gestoppt. Ein vollständiges Verbot wurde bis zum 30. September verhängt, ein teilweises Verbot, das Händler und Zwischenhändler betrifft, bis zum 31. Oktober.
Inosemzew erklärte, dass im Hinblick auf eine längerfristige Lösung bereits viel über die Notwendigkeit gesprochen wird, "ein Raketenabwehrsystem, einen Drohnenschutz um diese Unternehmen herum und so weiter zu schaffen, was sehr teuer wäre".
Mit anderen Worten: Es werden Ressourcen aus der Wirtschaft für diesen Zweck abgezweigt.
Die Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor haben in den letzten zehn Jahren zwischen einem Drittel und der Hälfte der Gesamteinnahmen aus dem russischen Staatshaushalt ausgemacht, was diesen Sektor zur wichtigsten Finanzierungsquelle des Kreml macht.
Um die derzeitige Situation in den Griff zu bekommen, erwägt die russische Regierung Berichten zufolge, den Mehrwertsteuersatz zu erhöhen, um das Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu halten und ihre Reserven zu erhalten.
Wirtschaftswissenschaftler Inosemzew wies gegenüber Euronews darauf hin, dass die russische Wirtschaft zwar betroffen sei, die russische Armee und der russische Krieg jedoch in dieser Phase intakt blieben.
Putin will weitermachen
Russlands Wirtschaft ist trotz der verschärften westlichen Sanktionen wegen Moskaus Angriffskrieg in der Ukraine weiter gewachsen.
Es wird jedoch erwartet, dass sich das BIP von 4,3 Prozent im letzten Jahr auf etwa 1 Prozent verlangsamen wird, und die Inflation liegt weiterhin bei über 8 Prozent in einem Land, in dem ein Großteil der Arbeitskräfte und 40 Prozent der Einnahmen für Verteidigung und Sicherheit aufgewendet werden.
"Im Prinzip kommen wir so in einen Zustand, in dem wir in den kommenden Jahren höchstwahrscheinlich ein Nullwachstum haben werden, aber gleichzeitig wird es immer genug für einen Krieg geben", sagte Inosemzew gegenüber Euronews und er meint, dass die ukrainischen Luftschläge auf die russische Ölindustrie eine tiefgreifendere Wirkung haben.
"Wenn es, sagen wir, eine Art Raketentreffer gibt - das betrifft im Allgemeinen nur die Einwohner von Woronesch", erklärte er.
"Aber die ukrainischen Angriffe finden jetzt schon im ganzen Land statt. Das macht den Menschen klar, dass die Dinge nicht in Ordnung sind und dass die Regierung nichts dagegen tun kann."
"Deshalb glaube ich, dass es eine Auswirkung geben wird. Es wird zu einem Anstieg der Transportkosten führen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervorrufen", erklärte er.
Dies werde auch einen ständigen Transfer von Ressourcen von Region zu Region erfordern, sagte Inosemzew, aber "Putin macht sich darüber keine Sorgen".
"Er (Putin) ist sich absolut sicher, dass der Westen und die Ukraine in ein oder zwei Jahren zusammenbrechen werden. Er will weitermachen", schloss Inosemzew.