Die Bundeswehr übt in Straßen und U-Bahnschächten den Ernstfall. Euronews-Reporterin Johanna Urbancik war mitten in der Schlacht. Ein Kriegs-Bericht.
Laute Schreie, vermummte Soldaten und Schüsse kurz nach Mitternacht in Berlin. Die Luft riecht nach Pulver und es ist neblig. Kaum zu erkennen: ein gestoppter gelber U-Bahn-Wagon. Noch ist das alles eine Übung.
30 Soldaten des Wachbataillons trainieren, wie sie einen Angriff auf die deutsche Hauptstadt abwehren würden. Sonst bekannt aus protokollarischen und feierlichen Auftritten, übt ein Zug des Wachbataillons mitten in Berlin für seine eigentliche Aufgabe im Ernst- oder Krisenfall: den Schutz der Bundesregierung.
Bei der Übung "Bollwerk Bärlin III" trainieren circa 300 Teilnehmende vom 17. bis 21. November den Ernstfall. Am frühen Morgen des 19. November wurde Euronews, sowie anderen Medienvertreter einblick in das actiongeladene Manöver gewährt.
Mit den rund 30 Soldaten des Übungszugs, den Darstellern für Verletzte und weiteren Unterstützungskräften üben insgesamt etwa 50 Personen in den frühen Morgenstunden des Mittwochs.
So realistisch wie möglich
Im Szenario des Manövers hat der Bundestag den Spannungs- oder Verteidigungsfall ausgerufen. Das Ziel der Soldaten ist es, "irreguläre Kräfte" zu bekämpfen, die einen Zug mit mehreren ihrer Kameraden und Zivilisten an Bord gewaltsam gestoppt haben. Später werden die Angreifer als fiktive Separatisten aus dem brandenburgischen Havelland bezeichnet.
Zu hören sind Schüsse und Schreie verletzter Soldaten, während die Truppe über den Bahnsteig zum Zug rennt. Damit dabei alles reibungslos abläuft, haben die Soldatinnen und Soldaten zuvor eine spezielle Schulung der BVG absolviert.
Dort wurden sie detailliert darauf vorbereitet, worauf es an einem echten U-Bahnhof ankommt: Bevor der erste Soldat das Gleis betritt, muss der Zugführer die Stromschiene kurzschließen. Wird das übersehen, ist der erste Soldat schon "verloren" – ganz ohne feindliche Einwirkung.
Nach und nach erreichen die Soldaten den umkämpften BVG-Zug, zu sehen sind jedoch lediglich ihre Silhouetten. Nach wenigen Minuten sieht man eine Frau, die von Soldaten abgeführt wird.
Es scheint, dass die angreifenden Separatisten schnell festgenommen werden konnten, oder zumindest ein Teil davon. Klarer wird die Situation für die Beobachter jedoch nicht: vom Zug hört man weiterhin Schreie der Verletzten. "Mein Bein", konnte man hören, sowie "Lasst mich zurück".
Nach dem Prinzip "einer für alle und alle für einen" wird Letzteres von den Kameraden ignoriert. Nacheinander werden die Verletzten geborgen und in Sicherheit gebracht. Einige werden über die Schienen in den dunklen Schacht getragen, andere werden mit einem Wagen auf den Bahnsteig – und somit in Sicherheit – gebracht.
Die Verletzungen müssen auch in der Übung so ernst genommen werden wie in der Realität, erklärt Johannes, ein Soldat der zweiten Kompanie nach dem Manöver. "Wenn einer vor mir schreit, will ich die Sache noch besser machen. Da will ich unbedingt helfen", erklärt er.
Nach der Befreiung des Zuges und der erfolgreichen Bergung der verletzten Kameraden geht es für die Soldaten, sowie die Medienbegleiter, zurück auf den Bahnsteig. Dort werden wir von den Verwundeten empfangen, die klagend auf dem Boden liegen und sitzen. Auch hier hören wir erneut schmerzende Klagerufe, doch da keine akute Gefahr besteht, können die Soldaten und Soldatinnen hier erste Hilfe leisten. Beschützt werden sie von einem Scharfschützen, der mit geladenem Gewehr auf dem Boden liegt.
Ist ein Angriff im Untergrund realistisch?
Ein beängstigendes Bild, doch wird bei diesem Manöver keine scharfe Munition eingesetzt, sondern Platzpatronen. Auch ist die Station vom regulären Zugverkehr suspendiert, sodass die Soldaten ungestört üben können, ohne auf verschreckte Berliner Fahrgäste zu treffen.
Doch wie realistisch ist ein Einsatz im Untergrund der Hauptstadt? "Sehr realistisch", meint der Kommandeur des Wachbataillons, Maik Teichgräber. Für die Truppe ist es einfacher, sich über das U-Bahn-Netzwerk in Bewegung zu setzen, da so der Straßenverkehr umgangen werden kann und Kräfte von A nach B verlegt werden können.
Da das Wachbataillon in Berlin zum Einsatz kommt, müssen auch direkt in der Stadt und nicht nur auf dem Truppenübungsplatz stattfinden. So können sich die Soldaten mit dem komplexen Stadtgebiet vertraut machen. "Deshalb üben wir unter anderem hier, im U-Bahn-Schacht der Station Jungfernheide, um uns ständig zu verbessern, um Einsatzbereit zu sein", so Teichgräber.
Stress, Adrenalin und Teamgeist
Ein Anfang 20-jähriger Soldat der zweiten Kompanie namens Bastian findet die Übung aufgrund des U-Bahnhofs zwar anstrengend und stressig, räumt aber ein, dass sie "trotzdem Spaß gemacht", und die Truppe sich an die Stresssituation "gut angepasst" habe.
Auch bei diesem Manöver bleibt auch die aktuelle sicherheitspolitische Lage nicht außen vor. Zwar heißt es in der Begleitbroschüre zu "Bollwerk Bärlin III", dass seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und der sich damit veränderten Sicherheitslage die wirksame Landes- und Bündnisverteidigung wieder stärker in den Fokus gerückt ist, doch wird Russland nicht als Feindbild der Übung definiert.
Der russische Angriffskrieg hat in Deutschland zur Aufrüstung geführt. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) forderte, dass die Bundeswehr möglichst schnell "kriegstüchtig" werden muss.
Für Bastian ist das schon der Fall: die Frage, ob er "kriegstüchtig" ist, beantwortet er mit "auf jeden Fall", räumt aber ein, dass die Bundeswehr dennoch mehr Soldaten braucht. Er selbst ist freiwillig beigetreten, plant jedoch nicht, in der Bundeswehr zu bleiben, sondern zur Polizei zu wechseln. Der Grund: Heimatnähe.
Freiwillig ist auch Johannes, ebenfalls ein junger Soldat der zweiten Kompanie des Wachbataillons, zur Bundeswehr gegangen. Er ist aufgrund der eigenen Charakterentwicklung beigetreten, erzählt er Euronews.
"Als der Angriffskrieg auf die Ukraine losging, war das für mich persönlich eine Sache, wo ich gesagt habe, ich will etwas für Deutschland beitragen", erklärt der Angang 20-jährige Soldat.
Für die Soldaten geht "Bollwerk Bärlin III" bis zum Ende der Woche weiter. Geübt wird neben der U-Bahn-Station Jungfernheide auch in dem Polizei Trainingsgelände "FightingCity" in Ruhleben und dem Gelände des ehemaligen Chemiewerks in Rüdersdorf.