Die EU verabschiedet sich von der Pflicht-Chatkontrolle, erlaubt aber freiwilliges Scannen im Kampf gegen Kindesmissbrauch im Netz. Kritiker warnen, dies öffne dennoch die Tür zur Überwachung - und fordern von Deutschland ein klares Nein im Rat.
Zum Schutz vor Kindesmissbrauch wurde jahrelang in der EU diskutiert, die sogenannte "Chatkontrolle" verpflichtend einzuführen. In Messenger-Diensten wie WhatsApp, Signal oder Threema wären die Anbieter dazu angehalten, private Kommunikation automatisch nach missbräuchlichen Inhalten abzuscannen. Ein Eigentor für den Datenschutz, wie viele Experten finden.
Was ist zu tun, wenn sich der Schutz von Minderjährigen und die persönliche Sicherheit gegenüberstehen?
Der Europäische Rat hat nun einen überarbeiteten Entwurf vorgelegt, in dem die EU von einer verpflichtenden Kontrolle abrückt. Sie soll allerdings trotzdem freiwillig erfolgen können. Ein "gefährliches Trostpflaster" zum Schutz vor Kindesmissbrauch, warnt der Jurist Patrick Breyer im Hinblick auf das Grundrecht der Privatsphäre.
Er fordert ein klares Nein der Merz-Regierung im EU-Rat: "Deutschland muss jeder Form der anlasslosen Massenüberwachung - ob verpflichtend oder 'freiwillig' - im EU-Rat eine klare Absage erteilen". Das Recht auf verschlüsselte und anonyme Kommunikation müsse von der Bundesregieurng aktiv geschützt werden.
EU rückt von verpflichtender Chatkontrolle ab
Seit nun mehr als drei Jahren liegt der Vorschlag einer Chatkontrolle auf dem EU-Verhandlungstisch. Die Arbeitsgruppe "Strafverfolgung" des Europäischen Rates will damit die Verbreitung von Material von sexuellem Kindesmissbrauch bekämpfen.
Datenschutz-Experten und Bürgerrechtler wiesen jedoch in massivem Protest darauf hin, dass die Privatsphäre dadurch unter Druck gerät - ein Grundrecht, das in Deutschland im Grundgesetz verankert ist und sich auch in der EU-Grundrechtecharta wiederfindet.
Eine obligatorische Überwachung gibt es nun nicht. Stattdessen sollen Messaging-Dienste wie WhatsApp, Signal oder Threema freiwillig Software zur automatischen Chatkontrolle installieren können.
Experten begrüßen die jüngste Entscheidung, von einer verpflichtenden Chatkontrolle abzurücken. "Dennoch weist die vereinbarte Fassung des Gesetzes weitherhin problematische Punkte auf", sagte Carmela Troncoso, Direktorin am Max-Planck-Institut für Sicherheit und Privatsphäre, zu Euronews.
"Jede Einführung einer Überwachung würde wahrscheinlich die Freiheiten einschränken, ohne dass dadurch nennenswerte Vorteile erzielt würden", schätzt Troncoso im Gespräch mit Euronews im Hinblick auf den Schutz von Kindern ein. Auch freiwillige Scans würden keinen deutlich wirksameren Schutz ermöglichen. Die Technologien zur Erkennung wären nicht präzise genug und könnten umgangen werden.
"Mogelpackung": ehemaliger EU-Abgeordneter Breyer übt scharfe Kritik
Der Jurist und ehemalige EU-Abgeordnete Patrick Breyer findet noch deutlichere Worte: Für ihn handelt es sich bei der Freiwilligkeit um eine "Mogelpackung".
Es handle sich zwar um einen wichtigen und hart erkämpften Etappensieg der Zivilgesellschaft, "doch die Einigung auf eine dauerhafte 'freiwillige Chatkontrolle' ist ein gefährliches Trostpflaster, das unsere Grundrechte weiterhin massiv bedroht", erklärt er Euronews.
Er warnt davor, dass US-Tech-Konzerne darüber entscheiden würden, wie sie die digitale Post von europäischen Bürgern öffnen würden. "Konkret bedeutet das: Algorithmen durchsuchen private Nachrichten, Fotos und Videos nach verdächtigen Mustern." Die möglichen Konsequenzen beschreibt Breyer als "fatal".
Er vermutet massenhaft Falschverdächtigungen und den Einsatz ungeeigneter, fehleranfälliger Tools wie etwa Künstlicher Intelligenz bei automatisierten Scans. Daraus würde sich eine Überwachungsinfrastruktur etablieren. Die Chefin des WhatsApp-Konkurrenten Signal Meredith Whittaker warnte sogar davor, dass mit der Einführung verpflichtender Chatkontrolle ein Rückzug aus der EU denkbar gewesen wäre.
"Wir opfern die Privatsphäre von Millionen unbescholtener Bürger für eine Maßnahme, die Ermittlungsbehörden mit Datenmüll überflutet, statt echte Fälle zu lösen", kritisiert Breyer den Entwurf scharf. Für die Sicherheit der Kinder sehe er dabei keine Vorteile.
Freiwillige Scans würden keinen deutlich wirksameren Schutz von Kindern ermöglichen, betont zudem Troncoso im Gespräch mit Euronews. Die Technologien zur Erkennung wären nicht präzise genug und könnten umgangen werden. Die Anwendungen würden unsicherer, weil sowohl Unterhaltungen überwacht werden können als auch die Sicherheit des Systems als Ganzes beeinträchtigt würde. Es würde sich um eine neue Schwachstelle handeln.
Troncoso hat inzwischen mit mehreren Wissenschaftlern in einem offenen Brief an den Rat der EU gewarnt, dass auch der Vorschlag hohe Risiken für die Gesellschaft ohne klare Vorteile für Kinder mit sich bringe.
So sehen die EU-Pläne jetzt aus
Das freiwillige Scannen nach Missbrauchsmaterial ist übergangsweise erlaubt. Im April 2026 soll dann ein weiter entwickeltes System in Kraft treten: Risikobewertungen für Online-Dienste, freiwillige Schutzmaßnahmen der Anbieter und eine neue EU-Agentur.
Die Risikoanalyse wird vorsehen, dass Anbiete ihre Dienste prüfen und in einem dreistufigen System einordnen: Könnten sie für die Verbreitung von Missbrauchsmaterial oder die Kontaktaufnahme von Kindern missbraucht werden?
Nach dem neuen Vorschlag könnten Anbieter, die ein hohes Risiko für missbräuchliche Aktivitäten feststellen, dazu verpflichtet werden, an der Entwicklung von Technologien zur Risikominderung mitzuwirken. Für die Kategorien mittleres und geringes Risiko werden zunächst keine Verpflichtungen ausgesprochen.
Zum neuen Standard könnte werden, bei Messenger- und Cloud-Diensten Meldefunktionen für Nutzer einzuführen. Auch Kontrollmöglichkeiten über geteilte Inhalte oder Standard-Privatsphäre-Einstellungen für Kinder sind mögliche Ergebnisse.
Nationale Behörden sollen Unternehmen zukünftig zur Entfernung und Sperrung von Inhalten verpflichten können. Dies könnte auch für Suchmaschinen gelten.
Eine neue EU-Agentur soll dann die Meldungen von Anbietern verarbeiten, Datenbanken zur Nachverfolgung betreiben und nationale Behörden unterstützen. Die Agentur stünde im direkten Kontakt mit Europol und Strafverfolgungsbehörden der einzelnen Mitgliedsstaaten.
Diese Länder unterstützen den Entwurf zur Chatkontrolle
Die Diskussion über die Chatkontrolle geht schon über mehrere Jahre. Der ursprüngliche Entwurf zielte auf eine anlasslose, flächendeckende Überwachung zum Schutz vor Kindesmissbrauch ab. Viele Staaten unterstützten das zunächst, zum Beispiel der Initiator Dänemark, Frankreich, Spanien und Italien.
Unter anderem aufgrund von Bedenken wegen Datenschutz, Verschlüsselung und Grundrechten gab es jedoch Zweifel an dem Entwurf - insbesondere mit einer Verpflichtung zum automatisierten Scan von Messenger- und Cloud-Diensten.
Durch gesellschaftlichen und politischen Druck musste eine alternative Kompromisslösung gefunden werden.
Mit dem am Mittwoch angenommenen Entwurf kann nun der Trilog beginnen: EU-Rat, Kommission und das Europäische Parlament werden den überarbeiteten Vorschlag verhandeln. Erst wenn alle drei Institutionen zustimmen, wird eine neue Regelung in Kraft treten.