Geschäfte im Krieg: "Jeden Moment kann eine Rakete einschlagen"

Ein Soldat besucht ein Militärgeschäft in Kramatorsk, Ukraine, Mittwoch, 13\. September 2023.
Ein Soldat besucht ein Militärgeschäft in Kramatorsk, Ukraine, Mittwoch, 13\. September 2023. Copyright Hanna Arhirova/AP
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Trotz der Verwüstungen des Krieges wollen einige Unternehmer in Kramatorsk, einer Frontstadt in der ukrainischen Region Donezk, nicht aufgeben. Sie machen weiter. Andere haben angesichts der Zerstörung längst aufgegeben.

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Kramatorsk ist eine vom russischen Angriffskrieg gerzeichnete Stadt. Überall sind zerstörte Gebäude zu sehen - auch eine Pizzeria liegt in Schutt und Asche. Hier wurden, wie vielerorts in der Ukraine - Existenzen zerstört. 

Im Juni war hier eine russische Rakete in dem beliebten Lokal eingeschlagen. Dabei wurden 13 Menschen getötet, darunter eine preisgekrönte ukrainische Schriftstellerin und mehrere Teenager. Sieben der Opfer waren Angestellte.

In der Nähe eines improvisierten Mahnmals hängt ein T-Shirt, das zur Uniform der Kellner gehörte. Darauf ist eine Aufschrift zu lesen. Übersetzt steht dort in etwa: "Nie werden wir vergessen".

"Als Unternehmer bedauere ich natürlich den Verlust von Eigentum, aber es gibt etwas, das man nicht zurückgeben kann: Menschenleben", so Dmytro Ihnatenko, der Besitzer der Pizza.

Die zerstörte Pizzeria namens RIA in Kramatorsk in der Ukraine, 13. September 2023
Die zerstörte Pizzeria namens RIA in Kramatorsk in der Ukraine, 13. September 2023Hanna Arhirova/AP

Der Krieg zerstört neben Menschenleben auch Gebäude - dennoch wollen viele Gewerbetreibende und Unternehmen nicht aufgeben. Im Jahr 2022 haben viele Geschäfte ihre Türen für ihre Kunden wieder geöffnet. 

Hoffnung nach Kriegsbeginn

Nach Schätzungen der Stadtverwaltung sind in Kramatorsk derzeit 50 Restaurants und 228 Geschäfte geöffnet, dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Bei den meisten handelt es sich vermutlich um bereits länger bestehende Geschäfte, die in den ersten Tagen des Krieges geschlossen worden waren. 

"Wir wissen, dass dies ein Risiko ist, und wir gehen es ein, weil dies unser Leben ist", sagte Olena Ziabina, Geschäftsführerin des Restaurants White Burger in Kramatorsk. "Wo auch immer wir sind, wir müssen arbeiten. Wir arbeiten hier. Das ist unsere bewusste Entscheidung."

Ein provisorisches Mahnmal erinnert in Kramatorsk an die Toten des Angriffs auf die Pizzeria RIA, 13. September 2023
Ein provisorisches Mahnmal erinnert in Kramatorsk an die Toten des Angriffs auf die Pizzeria RIA, 13. September 2023Hanna Arhirova/AP

Vor dem Krieg war die White-Burger-Kette hauptsächlich in den Regionen Donezk und Luhansk aktiv. Doch nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar des Jahres 2022 konnte sie nur in Kramatorsk wiedereröffnen. Neueröffnungen gab es in Kiew und in Dnipro. Diese sollten die Kette überlebensfähig machen. 

Das Restaurant in Kramatorsk ist das rentabelste der Kette, auch wenn die Preise 20 Prozent niedriger liegen als in den Filialen in der Hauptstadt.

Nach dem Angriff auf die Pizzeria hätten die Betreiber von White Burger nicht daran gedacht, das Restaurant in Kramatorsk zu schließen, so Ziabina. "Ich habe viel geweint", sagte sie und erinnerte sich an den Tag, an dem sie von dem Anschlag erfuhr.

Die Wirtschaft von Kramatorsk hat sich an den Krieg angepasst. Die Stadt beherbergt das regionale Hauptquartier der ukrainischen Armee, und viele Cafés und Restaurants werden hauptsächlich von Soldaten sowie von Journalisten und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen besucht.

Ukrainische Frauen reisen oft dorthin, um sich für einige Tage mit ihren Ehemännern und Freunden zu treffen.

Ukrainische Soldaten in der Frontstadt Kramatorsk, Ukraine, 13. September 2023
Ukrainische Soldaten in der Frontstadt Kramatorsk, Ukraine, 13. September 2023Hanna Arhirova/AP

Die Soldaten scherzen, dass Kramatorsk ihr Las Vegas sei, weil es dort alles gebe, was sie an "Luxus" bräuchten, wie gutes Essen oder Kaffee. Aufgrund der Nähe der Stadt zum Schlachtfeld bieten die Restaurants jedoch nur alkoholfreies Bier an.

Die Straßen der Stadt sind meist menschenleer, abgesehen von Militärfahrzeugen. Die Bewohner:innen, die geblieben sind, meiden Menschenansammlungen.

Der große Unterschied zum Kriegsbeginn allerdings: Die Geschäfte, Bars und Restaurants haben geöffnet. Damals waren wegen der geschlossenen Unternehmen und gastronomischen Betriebe Zehntausende arbeitslos. Auch Fabriken hatten die Produktion eingestellt. 

"Wahrscheinlich konnten wir nur dank des Militärs in diese Stadt zurückkehren", so Oleksandr, der aus Sicherheitsgründen nur mit seinem Vornamen genannt werden möchte.

Er ist Mitbegründer eines der zahlreichen Militärgeschäfte in Kramatorsk, die Soldaten als Kunden haben. Oleksandr sagt, dass er die Preise nur um eine Griwna (drei Eurocent) über dem Herstellerpreis ansetzt. Es gehe nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, das Militär mit der notwendigen Ausrüstung zu versorgen.

Neue Chancen bergen große Risiken

Viele Einwohner freuen sich über die neuen Arbeitsmöglichkeiten, die durch die Wiedereröffnung von Geschäften und Restaurants entstanden sind.

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Aber für ältere Menschen gibt es weniger Möglichkeiten, sagt Tetiana Podosionova, 54. Sie arbeitete 32 Jahre lang in einem Kramatorsker Maschinenbaubetrieb, der jedoch bei Kriegsbeginn aufgrund von Sicherheitsrisiken geschlossen wurde.

"Ich hatte gehofft, bis zur Rente in der Fabrik arbeiten zu können", so Podosionova. In der Gastronomie habe sie keine Erfahrung. 

Schließlich fand sie einen Job in einem Aquarium, das seinen Betrieb Monate nach Kriegsbeginn wieder aufgenommen hat. Das Aquarium beherbergt Hunderte von exotischen Fischen und Dutzende von Papageien und ist weiterhin geöffnet, um die von den Raketeneinschlägen traumatisierten Einwohner:innen zu unterhalten.

Ihnatenko steht vor den Trümmern seiner zerstörten Pizzeria, Kramatorsk, Ukraine, 13. September 2023
Ihnatenko steht vor den Trümmern seiner zerstörten Pizzeria, Kramatorsk, Ukraine, 13. September 2023Hanna Arhirova/AP

Doch jede Wiedereröffnung birgt auch Risiken. Ihnatenko, der Pizzeria-Besitzer, besucht immer wieder den Ort, an dem einst sein Restaurant stand. Warum? Das weiß er nicht. Dabei scheint ihn jeder Besuch zu belasten. Er sieht müde aus, seine Stimme ist ein Flüstern. 

Wie viele Geschäftsinhaber hat er die erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine in der benachbarten Region Charkiw im vergangenen Jahr als Hoffnungsschimmer begriffen. 

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"Es schien hier sicherer zu werden", so sagt er. Einen Wiederaufbau plane er nicht. "Eine Rakete kann jeden Moment einschlagen", so der Gastronom.

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