Russische Minderheit: Wir gehören zu Estland

Russische Minderheit: Wir gehören zu Estland
Von Hans von der Brelie
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Drohen demnächst auch im Osten Estlands Unruhen, nach dem Muster der Ost-Ukraine? Will Russland die baltischen Länder destabilisieren, so wie Georgien und Moldawien? Euronews schickte seinen Reporter

Nacht in Narva. Wir sind im Osten von Estland, nahe der Grenze zu Russland. Die Soldaten üben für eine Militärparade. Die Kämpfe in der Ukraine lösen auch in den baltischen Staaten Ängste aus. Estland drängt auf verstärkte Präsenz der NATO im Baltikum. Viele Esten fragen sich: will Moskau nach Moldawien, Georgien und der Ukraine nun auch unser Land destabilisieren? Steht die große russische Minderheit loyal zu Estland?

In der estnischen Armee dienen viele russische Muttersprachler, so wie Leutnant Nikolai Predbannikov. Was tun für eine gute Integration? “Für Soldaten mit Sprachproblemen bieten wir Kurse an. Darüber hinaus ist immer jemand zur Stelle, der zweisprachig ist und helfen kann, militärische Fachausdrücke oder sonst irgendwas vom Estnischen ins Russische zu übersetzen,” erklärt Predbannikov. Wir fragen ihn ganz direkt: “Sind die russischen Muttersprachler in der estnischen Armee, sind Sie bereit, für Estland zu sterben – auch in einem Konflikt mit Russland?” Predbannikov bekennt sich in seiner Antwort zu Estland: “Was mich betrifft: die Nationalität des Feindes zählt nicht. Wer immer uns mit dem Schwert angreift, wird durch das Schwert umkommen.”

Auf der Krim tauchten die berüchtigten “grünen Männchen” auf: russische Soldaten ohne Abzeichen. Ist so ein Szenario auch im Osten Estlands denkbar?

Ein gutes Viertel bis ein knappes Drittel der Bevölkerung spricht Russisch als Muttersprache, auch Ivan Lavrentjev. Er ist Sprecher der russischsprachigen Vereine Estlands. Dem Kreml schickte er einen offenen Brief, unterschrieben von fast tausend in Estland lebenden russischen Muttersprachlern. “Die Hauptidee dieses Memorandums ist einfach: wir sind russische Muttersprachler, die in Estland leben. Und wir haben keine Lust, diese berühmt-berüchtigten “kleinen-grünen-Männchen” auch bei uns hier in Estland auftauchen zu sehen, so wie das in der Ukraine, auf der Krim der Fall war. Die Menschen hier wollen in einem unabhängigen Estland leben, nicht in einer Art “Neu-Russland”…,” so Lavrentjev. Die Ablehnungsfront gegen Instrumentalisierungsversuche aus dem östlichen Ausland ist breit aufgestellt, Lavrentjev war selbst baff erstaunt über die lange VIP-Unterschriftenliste unter seinem Memorandum14: “Das ging quer durch das politische Spektrum”, freut sich der junge Mann.

Begeben wir uns auf’s Glatteis der Medienpolitik. Estland wird demnächst sein russischsprachiges Angebot in den öffentlich-rechtlichen Sendern ausbauen, verrät uns Ilmar Raag. Bereits heute gibt es in Estalnd zahlreiche russischsprachige Radio- und Fernsehangebote “made in Estonia”, allerdings meistens “Fensterprogramme” und offensichtlich nicht immer nach dem Geschmack der estnischen Russisch-Sprachler – die sehen mehrheitlich Shows, Nachrichten und Unterhaltungssendungen “made in Russia”. Bis zum Herbst soll sich das ändern, sagt Raag, der früher an der Spitze des öffentlichen Fernsehens Estlands stand. Der Medienprofi setzt auf beides, Qualität und Quantität. Billig wird das nicht. Deshalb wird zusammen mit den baltischen Nachbarländern und anderen Partnern aus dem skandinavischen und angelsächsischen Raum über einen medialen Schulterschluss nachgedacht. Sogar eine gemeinsame Aussenministererklärung gibt es bereits hierzu. Das in den nordischen Hauptstädten formulierte Ziel ist klar: der langfristig möglicherweise gefährlichen Beeinflussung russischsprachiger Minderheiten durch Moskau-gelenkte Desinformationsberieselung wollen die baltischen Länder etwas entgegensetzen: Information ohne “ideologischen Dreh” und gute Unterhaltung. Auf Russisch.

Von Haus aus ist Raag eigentlich Filmemacher, er arbeitete mit der französischen Schauspielerin Jeanne Moreau (“Eine Estin in Paris”). Heute berät Raag estnische Regierung und in Krisenzeiten das Militär. Führt Moskau einen Propagandakrieg? Raag bereiten “feindliche Informationskampagnen Russlands” Sorgen: “Wie können wir der russischen Propaganda entgegentreten? Zunächst sollten wir die Wahrnehmung unserer Bürger schärfen, so dass diese in die Lage versetzt werden, blanke Lügen als solche zu erkennen.”

Doch das allein reiche nicht, meint Raag. Beispiel Narva, “das war lange fast so etwas wie eine vergessene Stadt”, gesteht Raag ein. Das sei ein Fehler gewesen: die Stadt brauche mehr Kultur, Kinos, Theater. Etliches sei bereits geschehen: die Universität Tartu hat in Narva einen modernen Ableger. Und dann sei da auch noch die Art und Weise, wie im öffentlichen Raum miteinander geredet werde, sagt Raag kritisch. Doch auch hier sei einiges in Bewegung: vor zwei Jahrzehnten habe man von regierungsoffizieller Seite noch eine Art “Nationalstaatsmodell” propagiert, heute habe sich in der estnischen Hauptstadt Tallinn die Erkenntnis durchgesetzt, dass Estland ein “multikultureller Staat” sei. Raag lächelt: “Und seine Ansprache zum estnischen Nationalfeiertag begann der Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte mit einem russischen Gedicht – auf Russisch.” Die politische Klasse habe sich gewandelt, wie auch die Gesellschaft insgesamt. Minderheitenkonflikte seien entschärft, das Miteinander-Leben “normaler” geworden.

Und doch gibt es noch viel zu tun, gerade in Narva: “Hier muss die soziale Mobilität erhöht werden”, meint Raag. “Junge Menschen brauchen Aufstiegschancen, Zukunftsperspektiven…”

Wir sind eingeladen bei einer jungen Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern. Auch Oleg und Tatjana schauen Moskauer Fernsehen. Doch mit einem kritischen Auge. Oleg ist Elektriker in Narva. Tatjana arbeitet zu Hause, kümmert sich um den siebenjährigen David und das viermonatige Töchterchen. In der Familie wird Russisch gesprochen. Zur Feier des estnischen Unabhängigkeitstages gibt es Kaffee und Kuchen. In Olegs Bekanntenkreis gibt es kaum jemanden, der unter der Herrschaft des Kreml leben möchte. Das gilt vor allem für die jüngere Generation. Oleg erzählt:” So etwas gefiele höchstens jemandem über Fünfzig, Leuten, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind. Die können dem dortigen Lebensstil vielleicht was abgewinnen. Ich nicht. Ich bin wahrscheinlich schon ein halber Este, denke ich. Ich wurde in Narva geboren und lebe gut hier.”

Ihr Sohn David ist Este. Doch Tatjana und Oleg wurden kurz vor dem Ausscheiden Estalnds aus der Sowjetunion geboren. Heute gelten sie als “staatenlos”, sie haben einen grauen Ersatz-Pass. Arbeit und Kinder ließen den Eltern keine Zeit, sich gründlich auf den Staatsbürgerschaftstest vorzubereiten. Schade, dass der so schwierig ist, findet Tatjana: “Wenn die estnische Regierung mehr estnische Bürger möchte, dann sollte die Staatsbürgerschaftsprüfung vereinfacht werden, dann würden wir uns auch einen estnischen Ausweis holen.” Theoretisch könnten Oleg und Tatjana auf dem russischen Konsulat auch Ausweispapiere der Russischen Föderation beantragen, einige ihrer Nachbarn sind diesen Weg gegangen. Aber Oleg und Tatjana wollen das nicht. Sie fühlen sich zugehörig zu Estland, nicht zu Russland.

David hat gute Noten. Neunzig Prozent aller Menschen in Narva sind russische Muttersprachler, es gibt viele russische Schulen. Dort wird 60 Prozent des Unterrichts auf Estnisch abgehalten, der Rest auf Russisch. Derzeit tobt eine Debatte, ob mit dem Estnisch-Unterricht schon früher, im Kindergarten, begonnen werden sollte. Davids Eltern fänden das gut. Sie fordern mehr und besseren Unterricht auf Estnisch. Denn ihre Kinder sollen echte Zweisprachler werden – keine “Marsmännchen”.

Doch das Problem ist vielfältig: viele Lehrer in Narva sind selber von Haus aus Russisch-Sprachler, 60 Prozent des Fachunterrichts müssen sie aber auf Estnisch erteilen, so will es das Gesetz. Ist es wirklich eine gute Idee, russische Muttersprachler mit mangelhaften Estnisch-Kenntnissen auf russischsprachige Kinder loszulassen? Wäre nicht ein systematischer Lehrerwechsel in den auf Estnisch zu lehrenden Fächern der bessere Weg in ein System echter Zweisprachigkeit?

Mit Spiderman-Mütze erkundet David estnische, britische, niederländische und US-amerikanische Militärfahrzeuge. Die Ausstellung ist Tagesereignis. Estlands NATO-Mitgliedschaft schützt das Land. Ein Ukraine-Szenario ist ausgeschlossen, darin sind sich die russischen Muttersprachler Narvas einig, wenn auch nicht alle. Ilya warnt: “Hier sprechen die meisten Russisch. Wenn die Regierung den Gebrauch des Russischen per Gesetz einschränken würde, könnte hier alles passieren…” Lidia unterdessen meint: “Nein. Nein. Nein. Sowas wie in der Ukraine kann hier bei uns niemals geschehen. Wir sind alle friedliche Bürger. Und wir leben ohne Konflikte hier zusammen. Wir wollen Frieden.” Tatjana vertritt eine ähnliche Meinung: “Die, die hiergeblieben sind, sind loyale Bürger. Wir wurden hier geboren und wir lieben Estland wie jeder andere Este – auch als russische Muttersprachler.” – Eine Auffassung, die auch viele andere russischsprachige Bürger hier in Narva mit Nachdruck vertreten.

Auf der anderen Seite der Grenze, im benachbarten Russland, organisiert Moskau russische Manöver. Auf dieser Seite der Grenze, in Narva, gibt es fast zeitgleich eine Militärparade zum estnischen Nationalfeiertag. Die russische Minderheit in Estland (hier in Narva ist es eine russische Mehrheit) feiert mit, eifrig werden estnische Fähnchen geschwenkt. Tausende sind gekommen. So wie es aussieht, versteht sich Narvas überwiegend russischsprachige Bevölkerung als Teil Estlands, als Teil der EU, als Teil der NATO. Separatistische Tendenzen gibt es hier keine mehr, scheint es. Noch in den Neunzigerjahren gab es in einigen Städten hier im Osten eine russische Autonomiebewegung, es wurden lokale Abstimmungen organisiert – doch vom obersten Gerichtshof Estlands für ungültig erklärt. Damit ist das Kapitel “Autonomie” abgeschlossen.

Trotzdem steckt Narva in der Klemme. Aufgrund der jüngsten geopolitischen Spannungen haben einige ausländische Investoren ihre Geschäftspläne erst einmal auf Eis gelegt. Dabei bräuchte die Stadt dringend ausländische Direktinvestitionen, Arbeitsplätze, wirtschaftlichen Aufschwung…

Narva hat eine Städtepartnerschaft mit Donezk. Unlängst kam Post aus dem Osten der Ukraine. Die dortigen Separatisten baten um Hilfe: “Die wollten von uns, dass wir sie offiziell unterstützen und die ukrainische Regierung als korrupt und kriminell bezeichnen. Das Schreiben hatte einen Briefkopf der sogenannten “Volksrepublik Donezk”, deshalb konnten wir darauf natürlich nicht antworten,” erzählt Vyacheslav Konovalov, der für das Rathaus von Narva arbeitet.

Szenenwechsel: aus dem Rathaus von Narva in den Supermarkt. Dort auf dem Parkplatz haben wir uns mit einem Mann aus Brüssel verabredet. Mihhail Tverskoi. Vor einem Jahr gründete er das Internetportal MGPR. Aus eigener Tasche bezahlt und verschickt Mihhail Aufkleber: “Wir sprechen Russisch”. Der Buchprüfer verließ Estland vor 14 Jahren, machte eine Karriere im Ausland. Heute lebt Mihhail in Belgien – doch alle zwei, drei Monate fliegt er nach Estland… um Freunde zu treffen und als “Test-Käufer”. In den Geschäften kontrolliert er sorgfältig das Kleingedruckte, die Etiketten auf Dosen, Schachteln und Konserven. Ist alles übersetzt? Wenn nicht, dann zückt Mihhail seinen Fotoapparat, dokumentiert das Fehlen der russischen Verbraucherinformation. Anschliessend werden Marken ohne russische Etiketten öffentlich angeprangert – bis sich etwas ändert, so die Idee.

Im Internet betreibt Mihhail einen elektronischen Kummerkasten und geht selber konkreten Beschwerden nach, richtet Nachfragen, Kritik, Bitten, Forderungen, Vorschläge an Geschäftsleiter, Firmenvorstände und Verwaltungsleiter. Estland solle mehr Russisch zulassen, fordert er, vor Gericht, in Krankenhäusern und Schulen. Mihhail kritisiert beispielsweise Estlands neues Verbraucherschutzgesetz: da werde die Etikettenpflicht geregelt, doch Russisch habe man vergessen.

Mihhail Tverskoi klagt: “In einigen Produkten können Inhaltsstoffe sein, die für manche Kunden gefährlich sind – beispielsweise für Allergiker. Es ist wichtig, dass alle Verbraucher in ihrer eigenen Sprache Zugang zu Informationen bekommen. Russisch-Sprachler brauchen Etiketten auf Russisch.”

Wir fahren weiter, nächster Zwischenstop ist eine etwas heruntergekommene Plattenbausiedlung am Rande Narvas. Den besten Ruf habe dieses Viertel nicht, warnt mich mein estnisches Filmteam. In einem der Wohnblocks haben wir eine Verabredung mit einer vielköpfigen Familie. Artur ist 16 Jahre alt. Über Computerspiele hat der Russisch-Sprachler auch ein paar estnisch-sprachige Freunde gefunden. Im “echten Leben” hat er kaum Gelegenheit, Estnisch zu sprechen. Und genau das ist das Kernproblem von Narva: es fehlt an ausreichend finanzierten Schulaustauschprogrammen innerhalb Estlands, die wenigen Ausflüge sind Tropfen auf dem heissen Stein.

Die Familie lebt in einer Sozialwohnung. Olga, die vierfache Mutter, ist alleinerziehend und arbeitet als Teilzeit-Putzfrau. Eines ihrer Kinder ist gelähmt, ein Intensiv-Pflegefall, Olga kümmert sich um sie. Hier im Viertel, das als sozialer Brennpunkt gilt, kennt sie fast jeden. Fürchten Sie, dass es eines Tages auch in Narva zu Unruhen kommen könnte, wie im Osten der Ukraine? Olga Dik sagt: “Ja, so eine gewisse Furcht vor russischen Unruhestiftern existiert hier durchaus. Natürlich gehen die Meinungen auseinander, doch ich als Mutter habe manchmal schon Angst vor so etwas… Ich würde sagen, dass hier in Narva etwa ein Drittel der russischen Bevölkerung gerne Teil der russischen Föderation sein würde.”

Eine statistisch stichhaltige Zahl ist das natürlich nicht. Doch auch Olgas subjektive Einschätzung hat ihren Platz in unserer Recherche, deren Puzzleteile sich zu einem gemischten Gesamtbild zusammenfügen: In Narva ist es ruhig, die Menschen hier wollen in Frieden leben – und doch existiert eine unterschwellige Furcht, dass dieser Frieden möglicherweise doch nicht so hundertprozentig stabil ist, wie es sich die Bewohner Narvas wünschen.

Zum Abschluss unserer Reportagereise durch alle Gesellschaftsschichten Narvas haben wir uns mit einem bekannten Liedermacher und Sänger verabredet. Im AveNue-Club treffen wir den russischsprachigen Pop-Rockstar Estlands, Vladimir Cherdakov. Sein Tip: Estlands Politiker sollten sich mehr um Narva kümmern – nicht nur im Wahlkampf…

bonus 1:

‘‘Wir müssen der russischen Propaganda entgegentreten!’‘ – Ilmar Raag, Kommunikationsberater von Regierung und Militär Estlands

Euronews hat mit Ilmar Raag, dem Kommunikationsberater der estnischen Regierung, gesprochen. Gibt es einen Propagandakrieg zwischen Russland und dem Westen? Das ganze Interview können Sie sich hier unter folgendem Link auf Englisch anschauen.

bonus 2:

‘‘Wir wollen keine grünen Männchen in Estland’‘ – Ivan Lavrentjev, Memorandum14

In Tallinn, der Hauptstadt Estlands, erklärt uns Ivan Lavrentjev warum die Russisch-Sprachler zu Estland halten werden. Lavrentjev repräsentiert die Russischsprachigen NGOs des Landes. Das Interview ist auf Russisch und Sie können es sich unter diesem Link anschauen.

bonus 3:

Narva lässt Separatistenbrief aus Donezk unbeantwortet – Vyacheslav Konovalov, Berater der Stadt Narva

Die Stadt Narva im Osten Estlands, in der Nähe der Grenze zu Russland leidet unter den aktuellen politischen Spannungen. Viele Investoren haben ihre Pläne erst einmal auf Eis gelegt, erklärt Vyacheslav Konovalov. Das ganze Interview auf Englisch finden Sie unter folgendem Link.

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