Kanarische Inseln: ein Gefängnis für Migranten?

Kanarische Inseln: ein Gefängnis für Migranten?
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Von Valérie GauriatSabine Sans
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Mehr als 20.000 Flüchtlinge landeten 2020 auf den Kanaren. Viele hängen dort fest, Eine frustrierende Situation sowohl für die Migranten als auch für die Einheimischen.

Auf den Kanarischen Inseln gestrandete Migranten fordern, dass sie nach Europa weiterreisen können. Das wird ihnen bisher verweigert. Die spanische Regierung hofft auf eine europäische Lösung des Problems. Aufnahmelager sind überfüllt. Viele Flüchtlinge aus Afrika kampieren unter freiem Himmel aus Angst vor einer Rückführung in ihr Heimatland.

Die Situation sorgt für Frust sowohl bei den Migranten, als auch bei den Einheimischen: Statt Touristen, die Geld auf die Inseln bringen und Arbeitsplätze schaffen, kommen Bootsflüchtlinge auf die Urlaubsinseln, die aus Steuergeldern versorgt werden. Die Coronakrise verschärft das Problem. Einige Inselbewohner helfen, die Mehrheit bleibt untätig, und einige nutzen die Situation politisch oder machen ihrem Unmut Luft. Unreported-Europe hat vor Ort recherchiert.

Kanarische Inseln: ein Gefängnis für Migranten?

Der Hafen von Teneriffa auf den Kanarischen Inseln ist wichtig für den Tourismus – und er ist ein Anlaufpunkt für andere Reisende. Jede Nacht sind Polizei und Sicherheitsteams auf der Suche nach Migranten, die versuchen, sich in Lastwagen zu verstecken, die an Bord von Frachtschiffen in Richtung Kontinent unterwegs sind.

"Wir versuchen, die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten, vor allem die der Migranten", sagt Juan Ignacio Liaño, Flottendirektor Fred Olsen Express. "Ihr Endziel ist Europa, sie tun alles, um die Inseln zu verlassen, selbst auf Kosten ihres eigenen Lebens."

Dutzende Männer werden jede Nacht in den Containern gefunden. Ein paar schaffen es, die anderen werden es am nächsten Tag wieder versuchen.

Die meisten werden zurückgeschickt ins Hochland der Insel. Dort liegt das größte Aufnahmelager für Migranten der Kanarischen Inseln. Medien haben keinen Zutritt. Die Stimmung ist gedrückt. Vor den Toren entstand ein behelfsmäßiges Lager. Ein Symbol, meint Roberto Mesa. Er gehört zu einer Gruppe von Anwohnern, die denen helfen wollen, denen es an allem fehlt:

"Sie demonstrieren gegen die schlechten Bedingungen. Dass sie schon seit Monaten auf den Kanarischen Inseln sind, und ihnen niemand aufzeigen kann, wie es weiter geht. Einige von ihnen haben Pässe, haben einen Asylantrag gestellt und haben ein Einladungsschreiben von Familienmitgliedern, die sie aufnehmen können. Aber selbst unter diesen Bedingungen dürfen sie nicht weiterreisen. Man hat die Kanarischen Inseln in das Gefängnis Europas verwandelt."

2020 kamen mehr als 20.000 Migranten

Mehr als 20.000 Menschen wagten im vergangenen Jahr die gefährliche Atlantiküberquerung von Afrikas Nordküste auf die Kanarischen Inseln. Viele wurden in Hotels auf der Hauptinsel Gran Canaria untergebracht, da Aufnahmezentren überlaufen waren. Tausende wurden zurückgeschickt oder schafften es auf den Kontinent. Die Touristenzentren leerten sich. Der Rest der Migranten geriet in den Lockdown.

Ein britisch-norwegisches Hotel-Ehepaar, die mehrere Häuser auf der Insel betreiben, öffneten ihre Türen für rund 60 jugendliche Migranten. Ousmane Ndiaye kam vor 7 Monaten aus dem Senegal. Sein Traum ist es, seiner Familie eine Zukunft zu geben. Er zeigt Fotos seiner Frau und Tochter und erzählt: "An dem Tag, an dem sie geboren wurde, war ich hier auf Gran Canaria. Ich habe sie noch nie gesehen. Deshalb tue ich alles, um es zu schaffen."

Ousmane Ndiaye verpasst keinen der Sprachkurse, die im Hotel angeboten werden. Er wartet auf eine Antwort auf seinen Asylantrag. Wie die meisten der Migranten, träumt er davon, weiter auf den Kontinent zu ziehen: "Meine Botschaft an die Europäer ist, uns zu helfen, damit wir aufs Festland nach Spanien gehen können, um dort zu arbeiten. Ich bin zuversichtlich, dass ich meinen Lebensunterhalt irgendwann selbst verdienen werde. Daran glaube ich fest."

Unterstützung für ein besseres Leben

Um diesen Jugendlichen zu helfen, ein besseres Leben aufzubauen, hat das Ehepaar, das sie unter seine Fittiche nahm,  eine Hilfsorganisation gegründet: "Canaria Mama Africa". So nennen die Migranten die Frau, die sie als ihre zweite Mutter betrachten.

"Sie kommen mit so viel Hoffnung nach Europa. Ich hoffe wirklich, dass wir dazu beitragen können, ihre Reise zu ermöglichen, dass sich ihre Hoffnungen erfüllen und nicht zerstört werden", so Unntove Sætran, Geschäftsfrau, Mitgründerin Canaria Mama Africa Foundation. Ihr Mann Calvin Lucock sagt:

"Ich sehe nur zwei Lösungen für die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind. Ausweisung ist eine dieser Lösungen. Aber Integration ist ein anderer wichtiger Teil. Deshalb würde ich darauf drängen, dass wir diese beiden Lösungen schneller angehen. Nichts zu tun, ist keine Lösung, denn dann kommt es dazu, dass Menschen auf der Straße leben, und das schafft ein anderes Problem."

Misstrauen und Angst vor dem Fremden

Ein Teil der lokalen Bevölkerung sieht das anders. Alex Julius Bosse ist Mitglied der spanischen rechtspopulistischen Vox-Partei. Er erhält regelmäßig Beschwerden von Anwohnern, die sich durch die Anwesenheit der ungebetenen Gäste gestört fühlen:

"Das ist ein Wohngebiet, das war eine sehr ruhige Gegend bis zur Eröffnung mehrerer Zentren für illegale Einwanderer", so der Veranstaltungsmanager. "Die Anwohner haben Angst, ihre Häuser zu verlassen. Hier auf der rechten Seite ist das Lilienkloster, das in ein Zentrum für 93 illegale Einwanderer umgewandelt wurde."

Eine Anwohnerin, die anonym bleiben will, erzählt von ihren Beobachtungen: "Von hier aus habe ich einen Blick auf das Kloster. Das erste Fenster, wo die Kameras sind, das ist ein großer Raum. Dort gibt es immer Konflikte, sie streiten sich. Es gibt immer Probleme mit denen." Sie zeigt ein Video und fährt fort: "Das kleine Haus dort, da werden Drogen verkauft und genommen. Ich habe Angst. Jedes Mal, wenn man sein Haus verlässt, können sie einen erwischen, sie können dich ausrauben oder vergewaltigen. Wir sind es nicht gewohnt, so zu leben. Es ist eine schreckliche Situation."

Europa muss Solidarität zeigen

Vor einigen Monaten erreichten die Spannungen einen Höhepunkt: Damals wurden Angriffe von Anwohnern gegen Migranten in der Nähe dieser zum Auffanglager umfunktionierten ehemaligen Schule gemeldet. Inzwischen hat sich die Situation beruhigt.

Aber der Vox-Vertreter fordert sowohl vom spanischen Staat als auch von der EU härtere Maßnahmen, um solche Situationen zu vermeiden:

"Unsere erste Forderung ist, dass der Menschenhandel aufhört und die Schlepperschiffe abgefangen werden. Außerdem ist es keine Lösung, uns (als Bollwerk) zu benutzen, damit keine Einwanderer nach Europa gelangen und alle auf den Kanarischen Inseln bleiben. Das Einzige, was es bringt, ist eine riesige Verschwendung von öffentlichen Geldern, die es den Steuerzahler kostet, wenn es auch hier auf den Kanaren keine Arbeit gibt."

"Europa kann nicht einfach so tun, als ob es ein Problem der EU-Grenzländer ist. Es ist ein Problem Europas."
Anselmo Pestana Padrón
Spanischer Regierungsbeauftragter auf den Kanaren

Für den spanischen Regierungsbeauftragten auf den Kanaren greift der europäische Migrationspakt nicht:  "Europa kann nicht einfach so tun, als ob es ein Problem der EU-Grenzländer ist. Es ist ein Problem Europas", so Anselmo Pestana Padrón. "Und wenn es ein Land gibt, dessen Kapazität überfordert ist, und in der Folge soziale Probleme entstehen, da es auch auf den Kanaren eine Wirtschaftskrise gibt, muss Europa Solidarität zeigen."

Wenn die Sonne in Las Palmas untergeht, kommen Dutzende Männer, um sich für die Lebensmittel anzustellen, die von einer Gruppe lokaler Freiwilliger verteilt werden. Roberto Gil von der Plataforma Somos Red Las Palmas sagt: "Die Bürger haben nicht die Mittel, um Essen und Kleidung zu verteilen, wir sind überfordert. Wir können die Menschen nicht auf der Straße lassen, auf der Straße schlafen, leben, essen lassen. Das ist eine Zeitbombe, die irgendwann explodiert."

Wie viele andere auch, schläft Doua am Strand. Er hat viermal versucht, die Insel zu verlassen, mit allen nötigen Papieren. Er wurde jedes Mal zurückgeschickt. Er sagt: "Wenn es im Senegal Arbeit gäbe, würden wir dort bleiben! Aber im Senegal gibt es keine Arbeit, gar nichts! Wir bitten die spanische Regierung, uns nach Spanien aufs Festland gehen zu lassen. Helfen Sie uns bitte, diese Insel zu verlassen!"

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