Euroviews. Wenn Russland Europa den Gashahn zudreht - was dann?

Wenn Russland Europa den Gashahn zudreht - was dann?
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Von Frank Weinert
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Der Ukraine-Konflikt schwelt weiter. Ruslland hat ein Faustpfand gegenüber den Westen: Erdgas.

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Die eskalierenden Spannungen zwischen dem Westen und Russland wegen der Ukraine haben die Besorgnis über die russischen Gaslieferungen nach Europa verstärkt und die Europäische Kommission und die Vereinigten Staaten dazu veranlasst, alternative Liefermöglichkeiten zu prüfen. In einer gemeinsamen Erklärung, die letzte Woche veröffentlicht wurde, versprachen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und US-Präsident Joe Biden eine enge Zusammenarbeit bei der Energiesicherheit. Und nach einem kürzlichen Treffen mit den europäischen Energieministern in Frankreich erklärte Energiekommissar Kadri Simson, die Europäische Union spreche mit Partnern wie Aserbaidschan über die Möglichkeit, die Gaslieferungen in den Block zu erhöhen. Wenn im schlimmsten Fall kein russisches Gas mehr nach Europa fließt, werden die Ersatzmaßnahmen nicht ausreichen, so eine Studie der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, die letzte Woche veröffentlicht wurde.

Unser Artikel stützt sich weitgehend auf die Ergebnisse dieser Studie, die zu dem Schluss kommt, dass Europa vor zwei Herausforderungen steht: einen Ersatz für die russischen Gaslieferungen zu finden und die Nachfrage im eigenen Land zu drosseln, um den Sturm wirtschaftlich und sozial zu überstehen. Einer der Autoren, Bruegel Senior Fellow Simone Tagliapietra, sagte Euronews, dass Europa auf ein Ölkrisen-Szenario wie in den 1970er Jahren zusteuern könnte: "Bestimmte Fabriken müssten möglicherweise nach einem kürzeren Produktionsplan arbeiten oder ganz geschlossen werden. Und die Regierungen müssten möglicherweise einen Notfallplan aufstellen, um den Empfängern von Gas Vorrang einzuräumen - zum Beispiel zum Heizen von Wohnhäusern oder zur Stromerzeugung", um Stromausfälle zu vermeiden.

Was geschieht, wenn die russischen Gaslieferungen in den kommenden Monaten unterbrochen werden?

Für die Zukunft gibt es drei Szenarien:

- Wenn Russland und alle anderen Lieferanten weiterhin auf dem derzeitigen Niveau liefern, würde der EU-weite Speicher im April 2022 einen Tiefstand von etwa 320 Terawattstunden (TWh) erreichen.

- Wenn Russland die Lieferungen Anfang Februar drosselt, würden die Speicher im April 2022 ein Minimum von 140 TWh erreichen.

- Wenn zusätzlich zu den russischen Lieferkürzungen das Wetter extrem kalt ist, werden die EU-weiten Speicher Ende März 2002 leer sein.

Kurzfristig wird die EU daher wahrscheinlich in der Lage sein, eine drastische Unterbrechung der russischen Gaseinfuhren zu überstehen.

Kann das europäische Pipelinesystem zusätzliche Gaslieferungen verkraften?

Ja und nein. Die Iberische Halbinsel beispielsweise ist ein Knotenpunkt für LNG-Importterminals (verflüssigtes Erdgas; Gas, das zur einfacheren und sichereren Lagerung und Beförderung auf Flüssigkeit heruntergekühlt wurde).

Daher kann die Region 40 TWh pro Monat importieren, aber nur 30 TWh verbrauchen. Die Herausforderung besteht darin, das überschüssige Gas in das übrige Europa zu transportieren, da die bestehenden Pipelines maximal 5 TWh pro Monat transportieren können. Außerdem ist das mittel- und osteuropäische Pipelinesystem darauf ausgelegt, Importe aus dem Osten zu den Endverbrauchern zu bringen.

Trotz Investitionen in Gegenstromkapazitäten und neue Pipelines könnten Engpässe in den Pipelines ausreichende Lieferungen in die östlichsten Teile der EU oder die Ukraine verhindern, wenn zu viel Gas aus dem Westen käme.

Welche anderen Versorgungsmöglichkeiten gäbe es?

Im Prinzip ermöglicht die bestehende Infrastruktur zusätzliche Einfuhrmengen aus Norwegen und Nordafrika sowie zusätzliche LNG-Mengen, die zusammen die derzeitigen Einfuhren aus Russland ersetzen könnten. Aber die Infrastruktur zu haben ist eine Sache, das Gas zu haben eine andere. Norwegen hat bereits angekündigt, dass es so viel wie möglich in die EU liefert und dass die globalen LNG-Märkte sehr eng sind - Algerien hat sich ähnlich geäußert. Die einheimische Gasproduktion der EU ist begrenzt, sowohl in den Niederlanden als auch anderswo.

Washington verhandelt derzeit mit Katar über Gaslieferungen nach Europa. Katar ist einer der größten LNG-Produzenten der Welt. Das Land verkauft drei Viertel seiner Produktion an asiatische Länder und liefert etwa fünf Prozent des Gases nach Europa.

Was passiert, wenn die russischen Gaslieferungen für Jahre unterbrochen werden?

Einen halben Winter ohne russische Importe zu überstehen, könnte schwierig sein, aber die europäische Wirtschaft mehrere Jahre lang ohne russisches Gas am Laufen zu halten, wäre eine enorme Herausforderung. Es bleibt zwar mehr Zeit, sich vorzubereiten, aber es sind auch viel größere Mengen zu verdrängen. Im Jahr 2021 beliefen sich die russischen Erdgasexporte in die EU auf rund 1.700 TWh - diese Menge müsste ersetzt werden, wenn Russland seine Erdgasexporte nach Europa vollständig einstellt.

Die EU verfügt über freie Importkapazitäten von etwa 1.800 TWh von alternativen Lieferanten zu Russland. Dies könnte es der EU theoretisch ermöglichen, die russischen Lieferungen vollständig zu ersetzen. Dies wäre jedoch im besten Fall sehr teuer und im schlimmsten Fall physisch und politisch unmöglich.

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