Die europäischen Liberalen setzen bei den EU-Wahlen auf drei Spitzenkandidaten

Von links nach rechts: Sandro Gozi, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Valérie Hayer.
Von links nach rechts: Sandro Gozi, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Valérie Hayer. Copyright European Parliament & ALDE.
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Von Jorge LiboreiroShona Murray
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Die europäischen Liberalen haben nicht nur einen, sondern gleich drei Spitzenkandidaten für ihre Wahlkampagne für die Europawahl 2024 präsentiert - und wiedersetzten sich damit den Konventionen.

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Die deutsche FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die dem Verteidigungsausschuss des Bundestages vorsitzt, wird zusammen mit zwei amtierenden Europaabgeordneten, Sandro Gozi und Valérie Hayer, ein so genanntes "Team Europa" bilden, das die europäischen Liberalen durch den Wahlkampf für die EU-Wahlen vom 6. und 9. Juni führen soll.

Eigentlich gibt es im EU-Wahlkampf nur einen Spitzenkandidaten, der als Kandidat für seine Parteienfamilie für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission antritt. Die europäischen Liberalen wollen jedoch mit dem Dreier-Team im Rahmen der Wahlkampagne Renew EuropeNow eine neue Art des Wahlkampfes einführen und so das System der Spitzenkandidaten anfechten.

 Ihr Argument: das Fehlen transnationaler Listen - ein lang gehegter Wunsch der Integrationsbefürworter, der auf den entschiedenen Widerstand der Mitgliedstaaten stößt - würde dem System der Spitzenkandidaten seine eigentliche Bedeutung rauben.

Trio vertritt drei Säulen der europäischen Liberalen

2019 hatten die Liberalen sieben Namen eingereicht, darunter Margrethe Vestager, die EU-Wettbewerbschefin, und Guy Verhofstadt, der ehemalige belgische Premierminister.

Für die Wahl 2024  haben sie sich auf das Trio geeinigt, das jede der drei Säulen ihrer politischen Familie verkörpert: Strack-Zimmermann von der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Gozi von der Europäischen Demokratischen Partei (EDP) und Hayer von den Fraktionslosen von Frankreichs Regierungspartei Renaissance.

Trotz dieser Vereinbarung gilt die 66-jährige Verteidigungsexpertin Strack-Zimmermann, die sich durch ihre unverblümte Kritik an Russlands Angriffskrieg und ihren anhaltenden Druck auf Bundeskanzler Olaf Scholz, mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, einen Namen gemacht hat, als das wichtigste Gesicht der Wahlkampagne. Sie wird wahrscheinlich in den Fernsehdebatten gegen die anderen Spitzenkandidaten antreten.

Die Europäische Volkspartei (EVP) hat Ursula von der Leyen, die amtierende Komissionspräsidentin, aufgestellt, während die Sozialisten und Demokraten (S&D)Nicolas Schmit, den EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, gewählt haben.

Die drei Kandidaten werden einen 10-Punkte-Plan verteidigen, der am Mittwoch nach Verhandlungen der verschiedenen Fraktionen fertiggestellt wurde. Dieses Manifest enthält die wichtigsten Prioritäten der Liberalen, wie den Abbau von Bürokratie, die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und den Schutz der persönlichen Freiheiten.

Keine guten Umfragewerte für Liberalen

Zur Auftaktveranstaltung der Liberalen für den EU-Wahlkampf sehen die Umfragen allerdings keine rosige Zukunft voraus.

Eine exklusive Euronews-Umfrage, die von Ipsos durchgeführt wurde, ergab diese Woche, dass Renew Europe von derzeit 102 Sitzen auf 85 Sitze im Juni fallen wird. Nach dieser Prognose wird die Gruppe ihre Position als drittgrößte Gruppierung im Parlament zwar behalten, läuft aber Gefahr, von der rechtsextremen Fraktion Identität und Demokratie (ID) überholt zu werden, die laut der Umfrage 81 Sitze erhalten wird. Die ID vereint die rechts-extremen Parteien Europas, wie die französische  Rassemblemant National, die deutsche AfD und die belgische Vlaams Belang (deutsch: Flämisches Interesse). 

Renew Europe wird sich auch mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) konfrontieren müssen, für die Ipsos 76 Sitze prognostiziert. Diese Zahl könnte sich jedoch noch erhöhen, wenn die EKR wirklich die Abgeordneten der ungarischen Partei Fidesz  aufnimmt.

Ministerpräsident Viktor Orbán macht keinen Hehl daraus, dass er seine Abgeordneten gerne in der EKR-Familie sehen würde - nachdem er bereits engere Beziehungen zu Georgia Meloni aufgebaut hat, deren Fratelli d'Italia die größte Delegation in der Fraktion werden soll. 

Jedoch ist die Fraktion gepspalten: die tschechische, die schwedische und die finnische Delegation der EKR haben sich aufgrund der engen Beziehungen Orbáns zu Wladimir Putin und Xi Jinping gegen eine Aufnahme der Fidesz ausgesprochen. Eine Entscheidung wird erst nach den Wahlen erwartet.

Sollte die Fidesz jedoch der EKR beitreten, würde Renew Europe wahrscheinlich vom dritten auf den fünften Platz im Parlament verdrängt - ein schweren Schlag für die liberale Parteienfamilie, die sich rühmt, als "Königsmacher" des Zentrums zwischen rechts und links zu agieren.

EVP greift Argumente der extremen Rechten auf

Erschwerend kommt für die Liberalen hinzu, dass die EVP unter der Führung von Manfred Weber die Themen und Argumente der extremen Rechten aufgreift und Kräfte normalisiert, die früher als Randgruppen galten.

Diese Bedenken waren das Leitmotiv des sozialdemokratischen Kongresses in Rom und wurden am Mittwochmorgen von Valerie Hayer, Präsidentin von Renew Europe und eine der drei Spitzenkandidaten, geäußert. Hayer sagte, die Aufnahme einer Migrationspolitik nach dem Vorbild Ruandas in das EVP-Manifest sei eine "populistische" Entscheidung, um ein "Signal an die extreme Rechte" zu senden. Die französische Europaabgeordnete glaubt jedoch, dass es sich bei der ideologischen Umwandlung um eine reine Wahlkampf-Taktik handeln könnte.

"Was wir vor allem im letzten Jahr gesehen haben, war ziemlich erstaunlich. Im Jahr 2023 war die Annäherung zwischen der konservativen Rechten und der extremen Rechten offensichtlich", so Hayer während eines Hintergrundgesprächs mit Journalisten.

"2023 war für mich ein entscheidendes Jahr war, in dem wir Webers Versuch einer Annäherung an die extreme Rechte beobachtet haben. Ich habe den Eindruck, dass er verstanden hat, dass dies die Einheit und den Zusammenhalt seiner Fraktion zu schwächen drohte, und dass er deshalb diese Strategie irgendwie gebremst hat."

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Der französische Abgeordnete betonte, wie wichtig es sei, die Brandmauer aufrechtzuerhalten, der bisher die pro-europäischen Parteien (EVP, S&D,Renew und die Grünen) von der euroskeptischen Bewegung von EKR und ID getrennt hat. Doch die engeren Verbindungen zwischen den Konservativen und extremen Rechten lassen Zweifel an der Undurchlässigkeit einer solchen Brandmauer aufkommen.

"Wir können auch ohne die EKR arbeiten, das tun wir schon heute. Wir haben die EVP, S&D und Renew und möglicherweise auch die Grünen in der Koalition", sagte Hayer. "Und unsere Linie ist klar: Wir arbeiten nicht mit den Extremen zusammen, wir geben den Extremen keine Verantwortung ab."

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