Maria Kolesnikowa sitzt nun schon seit vier Jahren hinter Gittern in Belarus. Sie ist eines der bekanntesten Gesichter der belarussischen Opposition. Ihre Schwester Tatsiana Khomich erzählt Euronews, wie sie für Marias Befreiung kämpft.
Am 7. Oktober 2020 wird die führende belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa von der Minsker Polizei offenbar auf offener Straße gekidnappt und zur ukrainischen Grenze gebracht. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich fast alle ihrer Freunde bereits im Gefängnis oder im Exil. Ihr wird klar: Man will sie aus dem Land deportieren.
Dann fasst sie einen unglaublichen Entschluss: Sie zerreißt ihre Papiere. Daraufhin kommt sie in Untersuchungshaft und wird kurz darauf zu elf Jahren Haft verurteilt – wegen "Gefährdung der nationalen Sicherheit". Im Januar 2022 wird Maria in die Strafkolonie in Homel versetzt.
Bis Februar 2023 kann sich ihre Familie noch mit ihr über Briefe austauschen. Seither ist Funkstille. Keiner weiß, was mit Maria gerade passiert. Von ihr dringen keine Nachrichten in die Außenwelt und auch die Außenwelt kommt nicht mehr an sie heran. Was bekannt ist: Maria wiegt nur noch 45 Kilo. Bei einer Körpergröße von 1,75 m. Sie wird gefoltert und misshandelt und schwebt in Lebensgefahr, so Amnesty International.
Euronews hat sich mit ihrer Schwester Tatsiana Khomich unterhalten. Sie hat erzählt, unter welchen Bedingungen Maria im Gefängnis überleben muss, was man von ihrem Zustand weiß und wie sie um ihre Schwester kämpft.
Von der Musik in die Politik
Maria hatte früher mit der Politik nichts am Hut. Sie ist Musikerin und hat fast dreizehn Jahre lang in Deutschland gelebt. Nach ihrem Studium an der Musikhochschule in Stuttgart arbeitet sie zunächst als Querflötenlehrerin und ruft Musikprojekte ins Leben. Doch Maria war schon immer an der Politik interessiert, erzählt ihre Swester.
Ab 2015 reist sie regulär nach Belarus, zunächst nur, um kulturelle Projekte und musikalische Aufführungen durchzuführen. Sie bringt Künstler aus anderen Ländern mit. Aus Deutschland, Polen und Litauen.
"Sie brachte zeitgenössische Musik mit, etwas, was es in Belarus bis dahin nicht gab. Es wird dort einfach immer noch nicht an Musikschulen gelehrt", erzählt Tatsiana.
2018 lernt sie Wiktar Babaryka kennen. Einen Bankier der Kulturprojekte fördert. Er ist Leiter der Belgazprombank, einer Tochtergesellschaft des russischen Konzerns Gazprom. In einem alten Werk, das von Gazprom erkauft wurde, finden kulturelle Veranstaltungen statt, die von Maria geleitet werden.
"So haben sie angefangen, mit Babaryka enger zusammenzuarbeiten", erzählt Tatsiana.
2020 beschließt er, für die Präsidentschaftswahlen in Belarus zu kandidieren. Maria beschließt, ihn dabei zu unterstützen, und tritt seinem Team bei. Er wird jedoch nicht zugelassen. Ihm wird Geldwäsche vorgeworfen. Kurze Zeit später wird er festgenommen.
Anstatt mit Gewalt formt sie mit ihren Händen ein Herz
Doch Maria führt seine Arbeit fort. Allen Risiken zum Trotz schließt sie sich mit Veronika Zepkalo und Swetlana Tichanowskaja zusammen, um für faire Wahlen einzutreten. Diese werden später wegen politischer Verfolgung aus dem Land fliehen. Doch Maria bleibt. Nicht nur im Land, sondern auch in den Herzen vieler belarussischer und ausländischer Bürger.
Ihr Name dominiert die Schlagzeilen der westlichen Medien: Eine neue Oppositionelle, eine mutige Frau mit kurzen platinumblonden Haaren und knallrotem Lippenstift marschiert selbstbewusst in den fordersten Reihen bei den Proteste gegen die Fälschung der Wahlen in Belarus. Doch anstatt mit Gewalt, formt sie mit ihren Händen ein Herz und lächelt frech in die Kameras.
"Mascha ist eine sehr offene Person“, erzählt ihre Schwester. "Sie ist authentisch, sie versteht es, ihre Innenwelt nach Außen zu transportieren.“
"Sie ist freundlich, ehrlich und mutig, sie hat so einen starken Sinn für Gerechtigjeit", beschreibt Tatsiana ihre Schwester.
Hartes Vorgehen bei belarussischen Protesten
Mit ihrer offenen Art ist Maria das genaue Gegenteil zu den belarussischen Behörden.
"Das war ein neuer Wind. Die Leute haben sehr wohl einen Unterschied gemerkt zwischen den Behörden und den neuen Politikern, frisch, aber gleichzeitig mit einer solchen, nun ja, offensichtlichen demokratischen Haltung“, erinnert sich Tatsjana.
Als Lukaschenko die Wahlen gewinnt, gehen die Menschen in Belarus auf die Straßen. Sie demonstrieren gegen die Wahlfälschung und fordern "freie und faire" Wahlen.
"Das Außmaß der ersten Wellen an Repressionen war heftig", erinnert sich Tatsiana.
"Mehr als 1000 Menschen wurden festgenommen. Maria hatte damals die Regierung aufgerufen, nicht mit Gewalt zu antworten."
Als die Repressionen beginnen und Menschen auf den Straßen brutal zusammengeschlagen werden, ahnt Maria bereits, dass sie verhaftet werden könnte.
"Wir wussten, wie die Wahlen abgehalten werden. Dass alternative Kandidaten nicht zugelassen wurden. Viele waren lange Zeit in Gefängnissen. Aber dann meinte Mascha noch zu mir, wenn es doch auch nur ein paar Prozent Wahrscheinlichkeit gäbe... (die Wahlen zu gewinnen)“.
Als die ersten Festnahmen beginnen, bleibt Maria weiter im Land.
"Sie hat immer gesagt, sie würde nicht gehen, weil ihre Freunde und Kollegen schon im Gefängnis sind“, so Tatsiana.
Tatsiana hatte Belarus noch vor den Wahlen verlassen. Sie wollte nicht, dass Maria durch sie erspressbar wurde.
Sie hat nie versucht, ihre Schwester von ihrer politischen Tätigkeit abzubringen. Hinzukommt, dass die Stimmung in Belarus 2020 noch lange nicht so angespannt war. Viele hatten noch das Gefühl, dass es für die demokratischen Kandidaten möglich wäre, die Wahlen zu gewinnen, erklärt Tatsiana.
Zu der Zeit schließen sich immer mehr Menschen Babarykas politischer Gruppe an. Das gibt Maria das Gefühl scheinbarer Sicherheit.
"Als wir verstanden haben, dass es jede Woche mehr und mehr Menschen gab, die Wiktor unterstützten, [...] gab uns das Hoffnung", erzählt Tatsiana.
Plötzlicher Kontaktabbruch
Nachdem Maria verhaftet wird, hat Tatsiana zunächst noch Kontakt zu ihrer Schwester, bis er 2023 abrupt abbricht.
"2022 hatten wir mehrere Anrufe mit Mascha [Maria], für fünf oder sechs Minuten per Videoanruf in der Kolonie. Dann wurde ihr im August gesagt, dass wir nicht mehr mit ihr sprechen würden."
Bis Mitte Februar 2022 gab es zunächst noch Briefverkehr. Anfang 2023 bricht der Kontakt ab.
"Es ist eine systematische Herangehensweise an die berühmtesten politischen Gefangenen, um sie zu isolieren, damit sie denken, dass alle sie verlassen haben, um auf diese Weise psychologischen Druck auf sie auszuüben, um sie psychologisch zu brechen", sagt Tatsiana.
"Allgemein scheint sich die Haltung gegenüber politischen Gefangenen verschlechtert zu haben", erzählt Tatsiana. "Wir hören, dass politische Gefangene, zum Beispiel in der Frauenkolonie, immer mehr bestraft werden."
Isoliert und gefoltert
Sie werden isoliert. Familienangehörige dürfen sie nur im absoluten Ausnahmefall sehen. Noch dazu wird sie in Einzelhaft gehalten.
“In der PKT (Isolationszelle) werden sie für drei bis sechs Monate untergebracht. Sie werden dort vielleicht vier oder sechs Monate lang gehalten. Dort dürfen sie nur eine bestimmte Zeit lang gehalten werden. Zwischen diesen Fristen werden sie in die Strafzelle gesteckt. Wir wissen nicht, wie viele Tage lang. Es können zehn Tage sein, es können aber auch 30 oder 50 werden“, beschreibt Tatsjana.
Die Bedingungen in der Strafzelle sind viel härter, als in einer Isolationszelle. Die Aktivistin und ehemalige Gefangene Natallia Hersche, die während der Proteste 2020 in Minsk verhaftet wurde, beschrieb sie als einen Raum, der gerade einmal zwei Meter breit und einige Schritte lang ist. In der Zelle sei es so kalt, dass die Gefangenen sich alle zehn bis 15 Minuten bewegen müssten, um sich warm zu halten. Zum Schlafen gäbe es nur ein Holzbrett. Bettwäsche sei nicht vorhanden.
"In der Strafzelle gehst du nicht einmal spazieren, du hast keine Gegenstände. Im Winter ist es dort sehr kalt" bestätigt auch Tatsiana. "Das heißt, das ist echte Folter."
“Spaziergänge dauern nur 20 Minuten. In einem Raum, der sich außerhalb des Gebäudes befindet. Er ist sehr klein. Man wird um 08:00 Uhr herausgelassen, fast, wenn es noch keine Sonne gibt", erzählt Tatsiana.
Maria wird in Isolation gehalten und keine der Gefangenen darf sie sehen.
"Vielleicht, damit andere Frauen in der Kolonie den Mut verlieren. [...] Es scheint mir, dass jede Nachricht von ihr die Menschen sehr aufmuntert. [...] Ich denke, dass dies (die Isolation) auch zu diesem Zweck verhängt wird.“
Tatsiana vermutet, dass hinter den harten Haftbedingungen, denen Maria ausgesetzt ist, noch mehr stecken könnte als nur der Wille zu bestrafen. Sie glaubt, dass Lukaschenko auf diese Weise mit dem Westen kommuniziert und möglicherweise etwas aushandeln will.
"Vielleicht wollen sie eine Gegenleistung für politische Gefangene bekommen. Sie senden auf diese Weise Signale“, glaubt Tatsiana.
"Darauf sollten die westlichen Länder reagieren. Doch es scheint mir, dass es nicht sehr viel Reaktion gibt“.
Maria schwebt in Lebensgefahr
Dabei geht es Maria immer schlechter. Das berichten auch Frauen, die vor Kurzem aus dem Gefängnis herausgekommen sind und Maria dort gesehen haben.
"Frauen, die in den letzten sechs Monaten herausgekommen sind, sagten, dass Mascha sehr dünn ist. Sie sagten, sie wiege 45 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,75 Metern“.
Im November 2022 hatte Maria eine OP. Wegen der schlechten Bedingungen und der Ernährung im Gefängnis entwickelte sie ein Magengeschwür. Man brachte sie lange nicht ins Krankenhaus. Berichten zufolge wurde sie in letzter Minute notoperiert. Infolgedessen hat sie sehr viel Gewicht verloren. Sie braucht eine spezielle Diät, doch das Essen in der Kolonie verschlimmert die Krankheit. Hinzu kommt, dass Maria keine Zustellungen bekommen darf. Diätgerechtes Essen kann sie sich nicht kaufen.
"Sie hat eine kleine Menge an Geld, es gibt ein Maximum von etwa 10 oder 20 Euro", so Tatsiana.
Zehn oder zwanzig Euro. Mehr darf Maria im Monat nicht ausgeben. In der Strafkolonie haben die Gefangenen keinen Kühlschrank und auch keine Möglichkeit, etwas Warmes zu kochen. Für Maria kann das fatal sein.
"Es gibt dort eine Art Kessel, mit dem man vielleicht Haferbrei, oder bestenfalls Tee zubereiten kann. Das ist alles. Nach dem, was ich höre, stirbt Mascha [Maria] dort langsam.“
Maria befindet sich nun schon seit vier Jahren im Gefängnis. Ernste gesundheitliche Probleme treten bereits nach etwa drei Jahren Haft auf, erzählt der russiche Oppositionelle Ilja Jaschin, der bei dem jüngsten Gefangenenaustausch mit Russland aus einem russischen Gefängnis herausgekommen ist. Auch er ist besorgt um Marias Zustand.
Beim jüngsten Gefangenenaustausch mit Russland kommen keine poliktischen Gefangenen aus Belarus frei
Beim jüngsten Gefangenenaustausch sind keine belarussischen Gefangenen freigekommen. Davon war Tatsiana schwer enttäuscht.
"Es gab weder Mascha noch irgendeinen anderen politischen Gefangenen [aus Belarus]. Bis zum letzten Moment hoffte ich, dass vielleicht jemand herauskommen würde“, erzählt Tatsjana.
Neben den USA spielte Deutschland beim jüngsten Gefangenenaustausch mit Russland eine entscheidende Rolle.
"Ich hatte erwartet, dass es Deutschland sein würde. Und die Tatsache, dass Mascha [Maria] fast dreizehn Jahre dort gelebt hat, wäre ein wichtiger Faktor, dachte ich“, sagt Tatsiana.
“Ich habe in den letzten Jahren mit Anwälten für die Freilassung belarussischer politischer Gefangener verhandelt. Und ich habe immer wieder gehört, dass die Position des Westens ist, dass er nicht bereit sei, mit Lukaschenko zu verhandeln." Mit Diktatoren und Terroristen verhandelt man nicht, hieß es.
“Aber auch hier haben wir gesehen, dass während des Austauschs zwischen dem Westen und Russland diese Verhandlungen möglich waren. Die Realität ist, [...] man kann nicht anders, als mit ihnen zu sprechen“, bemerkt Tatsiana.
Lukaschenko sendet Signale
Zuletzt hat Lukaschenko 78 politische Gefangene begnadigt. Tatsiana sieht darin ein wichtiges Signal.
"Das ist etwas, das eigentlich seit fast vier Jahren nicht mehr passiert ist“, erzählt sie.
"Das ist wahrscheinlich eine Einladung zum Gespräch."
Die richtige Antwort auf sein Signal wäre laut Tatsiana die Kommunikation mit Lukaschenko aufzunehmen und nach gemeinsamen Nennern zu suchen, um die Befreiung politischer Gefangener in Belarus auszuhandeln.
Lukaschenko bereitet sich auf die Präsidentschaftswahlen vor, die nächstes Jahr stattfinden sollen. Zum einen möchte er sich in den Augen des Westens legitimieren. Zum anderen die Isolation beenden, in die Belarus in den letzten Jahren geraten war, so Tatsiana. Dazu gehört vor allem auch die wirtschaftliche Isolation, die Lukaschenko beenden möchte, trotz seiner Beziehungen zu dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
"Belarus ist zu abhängig von Russland", sagt Tatsiana. "Wirtschaftlich ist Belarus deutlich auf Russland ausgerichtet".
"Es gibt eine Art Russifizierung. Das heißt, die Auferlegung der russischen Welt auf Belarus. [...] Russland ist für uns ein sehr gefährliches Szenario. Und ich glaube, dass Lukaschenko alles in seiner Macht stehende tun wird, um das zu verhindern“, sagt Tatsiana.
Das kann der Westen tun
Belarus kämpfe auch mit einem bröckelndem Gesundheitssystem. Ein weiterer Schwachpunkt, an den der Westen bei den Verhandlungen um die Befreiung politischer Gefangener in Belarus anknüpfen könnte.
"Erst kürzlich gab es Informationen, dass die Lebenserwartung in Belarus gesunken ist, weil es Probleme mit der Medizin gibt. Hier geht es um Sanktionen und Medikamente, die die Belarussen nicht erhalten", sagt Tatsiana.
Oft stellt sie sich vor, wie es wäre, ihre Schwester endlich wiederzusehen. "Wir werden noch sehr lange weinen", sagt sie.
In ihren Gedanken malt sie düstere Aussichten.
"Ich habe große Angst, dass das nicht passieren wird, dass sie einfach keine Zeit mehr hat", sagt Tatjana. "
"Ich habe Angst, dass Maria nicht überleben wird“.
Anmerkung der Redaktion:
Maria hat keinen Anwalt. Tatsiana hat versucht, nach einem Anwalt für ihre Schwester zu suchen. Doch niemand will Maria vertreten. Im Oktober 2023 wurden drei Anwälte des verstorbenen russischen Oppositionellen Alexei Nawalny verhaftet. Viele Anwälte in Belarus fürchten, womöglich das selbe Schicksal zu erleiden. Anwälte aus dem Ausland dürfen Maria nach belarussischem Recht nicht vertreten, sagt Tatsjana.
Deshalb ist jeder einzelne gefragt. Um Maria zu helfen hat Tatsiana eine Briefkampagne gestartet. Jeder, der Maria gerne helfen würde, kann sich unter dem Link daran beteiligen.