Newsletter Newsletters Events Veranstaltungen Podcasts Videos Africanews
Loader
Finden Sie uns
Werbung

Vom Nachtleben in den Krieg: Ein Ukrainer kämpft um seine Heimat

Jewhenij
Jewhenij Copyright  Foto zur Verfügung gestellt von Jewhenij
Copyright Foto zur Verfügung gestellt von Jewhenij
Von Johanna Urbancik
Zuerst veröffentlicht am
Diesen Artikel teilen Kommentare
Diesen Artikel teilen Close Button

"Den Himmel sichern": Der ukrainische Soldat Jewhenij sprach exklusiv mit Euronews über seinen Weg vom DJ an die Front und darüber, wie ihm Musik inmitten des Kriegschaos Trost spendet.

WERBUNG

Als Russlands großangelegte Invasion im Februar 2022 begann, rief Jewhenij seine Mutter an und sagte: "Mama, ich verlasse Kiew. Raketen schlagen um mich herum ein. Es ist ohrenbetäubend." Sie antwortete ruhig, wie es typisch für sie ist: "Alles klar, mein Sohn. Ich mache Borschtsch. Wir warten auf dich." Heute lacht, wenn er sich daran erinnert.

Vor dem Krieg arbeitete er als DJ und Tänzer, doch 2022 sollte sich sein Leben drastisch ändern. Die Frage, ob er bleiben, oder die Ukraine verlassen sollte, stellte sich für ihn jedoch nie. "Das Land verlassen? Daran habe ich nie gedacht. Ich liebe die Ukraine. Sie ist mein Zuhause", beteuert der 29-Jährige gegenüber Euronews.

Gezwungenermaßen musste er sich an das Leben im Krieg anpassen, das er als "intensiv" beschreibt: "Für viele Menschen außerhalb der Ukraine ist dieser Krieg fern, aber hier ist er allgegenwärtig. Selbst in Städten, die weit von der Front entfernt sind, spürt man ihn." Und Jewhenij hat recht. Wenn man beispielsweise durch Kiew geht, sieht man überall die Spuren des russischen Angriffskriegs: "Tschechische Igel" – eiserne Panzersperren – säumen die Straßen, Sandsäcke schützen Denkmäler und Fenster, und Wandgemälde an Häuserwänden ehren ukrainische Soldaten.

Ein Wandgemälde mit ukrainischen Soldaten in Kiew.
Ein Wandgemälde mit ukrainischen Soldaten in Kiew. Johanna Urbancik

Fast tägliche Drohnen- oder Raketenangriffe lassen jegliche Illusion von Frieden für die Ukrainer überall im Land zerplatzen. "Unsere Kinder, Rentner und jungen Leute werden getötet. Und unsere Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und die Infrastruktur werden zerstört", sagt Jewhenij. Diese ständige Bedrohung ist für ihn eine Bestätigung, warum er sich damals dazu entschieden hat, im Land zu bleiben.

Der Anruf, der Jewhenijs Leben verändern sollte

Neun Monate nach Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges erhielt Jewhenij den Anruf, der sein Leben verändern sollte. "Das Rekrutierungsbüro hat angerufen", sagt er und lacht über die Banalität des Ereignisses, das ihn letztlich zum Militär brachte. Einen Tag später war er in Kiew, und am Ende der Woche war er offiziell Soldat.

Trotz seiner Angst gewöhnte er sich nach und nach an das militärische Leben. "Man sagte mir: 'du musst es akzeptieren, verstehen und sogar mögen'", erinnert er sich. Heute findet er Trost in dem Ratschlag, der ihm half, seiner Angst zu begegnen. Die Akzeptanz bleibt jedoch bis heute der schwerste Teil.

In westlichen und ukrainischen Medien sind Diskussionen über Rekrutierungsprobleme der Ukraine ein häufiges Thema. Zu Beginn der Invasion im Jahr 2022 wurden fast eine Million Männer mobilisiert. Doch die Zahlen sind seitdem gesunken. Daraufhin unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein umstrittenes Gesetz, das das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre senkt, um zusätzlich mehrere tausend Männer zu rekrutieren.

Ein Einberufungsplakat in Kiew mit der Aufschrift "Nimm dein Schicksal selbst in die Hand!"
Ein Einberufungsplakat in Kiew mit der Aufschrift "Nimm dein Schicksal selbst in die Hand!" Johanna Urbancik

Das Problem mit der Mobilisierung

Der ukrainische Anwalt und Menschenrechtsaktivist Oleksandr V. Danylyuk stellte in einem Kommentar für RUSI fest, dass die Dauer des Krieges die öffentliche Warnung veränderte und die Zahl der Freiwilligen stark sinken ließ. Auch die abnehmende militärische Unterstützung der westlichen Partner und das Misstrauen in das System führen dazu, dass Männer zögern, zur Armee zu gehen.

Ein ukrainischer Mann erzählt gegenüber Euronews anonym, dass eine seiner größten Sorgen in Bezug auf die Mobilisierung das Risiko sei, nach nur drei bis vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt zu werden. Zwar gebe es eine Grundausbildung, doch hält er diese für unzureichend, um auf den aktiven Kampf vorbereitet zu werden.

Er merkt zudem an, dass Hunderte Mitarbeiter der Territorialen Rekrutierungszentren begonnen haben, Kontrollpunkte in Städten, wie etwa in Charkiw, einzurichten, um die Dokumente der Männer zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu Rekrutierungszentren zu bringen. "Diese Maßnahmen sind legal, aber für mich stellt sich die Frage, ob diese zwangsweise mobilisierten Männer wirklich motivierte Verteidiger sein werden", zweifelt er an.

Rekruten warten in einem Krankenhaus in Kiew, Ukraine, am Donnerstag, 8. Februar 2024, darauf, dass sie an der Reihe sind, eine medizinische Untersuchung zu bestehen.
Rekruten warten in einem Krankenhaus in Kiew, Ukraine, am Donnerstag, 8. Februar 2024, darauf, dass sie an der Reihe sind, eine medizinische Untersuchung zu bestehen. Efrem Lukatsky/Copyright 2024 The AP. All rights reserved

"Ein weiteres Problem sind dumme, teilweise sinnlose Befehle auf dem Schlachtfeld", erklärt der Ukrainer. "Zum Beispiel, wenn eine Gruppe von mehreren Soldaten eingesetzt wird, um ein Gebiet zurückzuerobern, das bereits einige Kilometer tief vom Feind besetzt ist. Wahrscheinlich wurde mein Cousin auf diese Weise im Frühjahr 2024 in der Pokrowsker Achse getötet", fügt er hinzu.

Diese Bedenken spiegelten sich auch in einem Artikel der Washington Post wider, in dem Major Bohdan Krotewytsch von der Asow-Brigade Generalleutnant Jurij Sodol vorwarf, durch schlechte Kommandoführung tausende Verluste verursacht zu haben. Krotewytsch erklärte, dass Soldaten ohne ausreichende Artillerieunterstützung zum Angriff befohlen wurden, was zu unnötigen Verlusten führte.

Erfolgreiche Rekrutierung sollte daher nicht nur darauf abzielen, Personal zu gewinnen oder einzuziehen, sondern auch ausreichende Ressourcen bereitzustellen und Transparenz zu gewährleisten.

Kann man sich an das Leben im Militär gewöhnen?

Für Jewhenij dauerte es fast ein Jahr, sich an sein Leben als Soldat zu gewöhnen. Eine vollständige Anpassung hält er jedoch für unmöglich. Selbst einfache Dinge wie Musikhören sind heute für ihn herausfordernd, da jedes Lied Erinnerungen an sein Leben vor der Invasion wachruft. "Es war hart", gibt er zu und betont die Bedeutung der Unterstützung durch seine Familie, Kameraden und Gott.

Jewhenij in seiner Militäruniform.
Jewhenij in seiner Militäruniform. Foto zur Verfügung gestellt von Jewhenij

Heute ist Jewhenij Mitglied einer Luftverteidigungseinheit und hat die Mission, "den Himmel zu schützen". "Wir halten Ausschau nach 'Shahed'-Drohnen", erklärt er und meint damit die sogenannten "Kamikaze-Drohnen" aus dem Iran, die von Russland eingesetzt werden.

Auch wenn er seinen Platz in der Armee gefunden hat, bleibt die emotionale Belastung durch den Krieg bestehen. "Jeder Teil dieses Lebens erfordert Anpassung und ich bin immer noch dabei", fügt er hinzu.

Trost in der Musik

Trotz des Krieges bleibt die Musik ein zentraler Teil von Jewhenijs Leben. "Es war schwer, sich an alles zu gewöhnen, aber nach einem Monat in der Armee begann ich wieder Musik zu hören", erzählt er.

Bekannt für seine Liebe zum DJing, erinnert er sich an eine einfachere Zeiten, in denen er vor großen, euphorischen Mengen auftrat. Obwohl der Kampf seine Zeit für Musik eingeschränkt hat, bleibt sie ein Trost. "Musik spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben. Sie steuert, passt an, heilt und schmerzt", fügt er hinzu. "Ich habe keine Zeit, um Musik zu machen und als DJ aufzulegen", erklärt er gegenüber Euronews.

Jewhenij legt vor der russischen Invasion 2022 auf.
Jewhenij legt vor der russischen Invasion 2022 auf. Foto zur Verfügung gestellt von Jewhenij

"Wenn ich jetzt sehe, dass jemand die Möglichkeit hat, aufzutreten, freue ich mich natürlich, aber ich möchte auch meine Musik teilen, die ich geschrieben habe und die Sammlungen, die nun schon seit Jahren herumliegen", erläutert der 29-Jährige. Die letzte Gelegenheit, als DJ aufzutreten, hatte er Anfang 2024.

Seit der Invasion entdeckt Jewhenij vermehrt ukrainische Musik und ist stolz auf die vielen jungen Talente seines Landes. Und er ist nicht der einzige DJ, der seine Plattensammlung erweitert hat.

Auch die ukrainische DJ Ana B erzählt im Gespräch mit Euronews, dass sie nicht nur Nationalstolz empfinde, sondern auch einen tiefen kulturellen Stolz. Bei ihren Auftritten spüre sie einen "unabdingbaren Drang, durch meine Arbeit diese verschiedenen Stimmen hörbar zu machen – sei es durch Musik oder durch das Teilen der Widerstandskraft unserer Szene", erklärt sie.

Genau wie Jewhenij verteidigen viele ukrainische DJs und Produzenten ihr Heimatland auf dem Schlachtfeld. "In den seltenen Pausen kommen sie nach Hause und finden ihren Weg zu uns auf die Tanzfläche. Das ist ein essenzieller Teil der ukrainischen Musikszene geworden", sagt Ana B.

"Für sie sind diese Veranstaltungen mehr als bloße Partys; sie bieten eine kurze Flucht vor dem Schrecken, dem sie ausgesetzt sind, und die Möglichkeit, neue Kraft zu schöpfen. Einige sagen sogar, dass sie sich im Einsatz am meisten darauf freuen. Diese tapferen Männer und Frauen bei uns zu haben, diese Momente zu teilen und für sie aufzulegen, ist wirklich das größte Geschenk."

Solange der Krieg andauert, bleibt Jewhenijs Musik ein Zeugnis des Lebens, das er hofft, eines Tages wieder führen zu können. "Danach möchte ich mich voll und ganz der Kunst widmen. Ich will lernen, Neues entdecken und reisen", erzählt Jewhenij von seinen Zukunftsplänen.

Zu den Barrierefreiheitskürzeln springen
Diesen Artikel teilen Kommentare

Zum selben Thema

Trump-Wiederwahl: Ukrainer fürchten um ihre Zukunft

Festnahme in Russland: Französischer Radfahrer landet in Untersuchungshaft

Molotowcocktail vor israelischer Botschaft – Belgien meldet Festnahme