Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: Jeder Kriegstote ist "wie ein Tod in der Familie"

Maya, Tanya und Vita 2019.
Maya, Tanya und Vita 2019. Copyright Photos provided by Maya and Tanya.
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Von Johanna Urbancik
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Dieser Artikel wurde im Original veröffentlicht auf Englisch

Euronews sprach mit der in Kiew lebenden Maya, die uns von ihrem Leben vor der Invasion und jetzt, zwei Jahre danach, erzählt. Mit drei Freunden sammelt sie Geld, um Drohnen und Autos zu kaufen, um diejenigen zu unterstützen, die an der Frontlinie kämpfen.

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"2021 war das beste Jahr meines Lebens", sagt mir die 30-jährige Maya, die in Kiew lebt. Das ganze Jahr über tauchte sie in das pulsierende Kiewer Nachtleben ein und wurde zu einem integralen Bestandteil der aufstrebenden Kulturszene der Stadt. Zusammen mit ihrer besten Freundin Tanya arbeitete sie in einem der bekanntesten Nachtclubs der Stadt, dem K41, und war Mitbegründerin einer inzwischen eingestellten Musikzeitschrift namens TIGHT. Nach der globalen Pandemie schien das Leben endlich wieder zur Normalität zurückzukehren.

Damals befand sich die Ukraine zwar bereits seit acht Jahren im Krieg gegen russische Separatisten im Donbas, aber trotz der Berichte internationaler Medienorganisationen und der Warnungen westlicher Regierungen weigerten sich viele Ukrainer zu glauben, dass ihnen ein Krieg dieses Ausmaßes bevorstand. Auch Maya konnte es sich nicht vorstellen, obwohl auch sie diese Berichte gelesen hatte.

"Rückblickend erscheint alles, was vor der Invasion geschah, so offensichtlich. Ich fühle mich wie ein Idiot, weil ich mich geweigert habe, es zu glauben.
Maya

"Rückblickend erscheint alles, was vor der Invasion geschah, so offensichtlich. Ich fühle mich wie ein Idiot, weil ich mich geweigert habe, es zu glauben", sagt sie. Dann wachte sie zum ersten Mal in ihrem Leben in den frühen Morgenstunden des 24. Februar zum Lärm von Explosionen auf. Sie geriet in Panik wie noch nie in ihrem Leben und beschloss, Kiew zu verlassen. Sie ging zunächst in die westliche Stadt Lviv (Lemberg), bevor sie nach Berlin zog. Inzwischen hat sie erkannt, dass es die schlechteste Entscheidung ihres Lebens war, die Stadt zu verlassen: "Es war die schlimmste Zeit meines Lebens, von meinem Zuhause weg zu sein und dies nicht zusammen mit meiner Familie durchzustehen, die etwa zehn Kilometer von den russischen Streitkräften entfernt war."

Euronews sprach mit Maya und Tanya, zwei besten Freundinnen, die sich seit ihren frühen Zwanzigern kennen, um besser zu verstehen, wie sich ihr Leben in den letzten zwei Jahren verändert hat. Maya lebt nun wieder in Kiew, während Tanya in das Vereinigte Königreich geflohen ist und London zu ihrem neuen Zuhause gemacht hat.

"Im Jahr 2021 fühlte sich Kiew wie das Zentrum des Universums an".

Wenn Maya an ihr Leben vor der großen Invasion denkt, wird sie emotional und ist kurz sprachlos. Tanya springt ein und erzählt von ihrer Gemeinschaft in der Nachtleben-Szene. "Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Wir arbeiteten, feierten zusammen und schmiedeten ehrgeizige Pläne für die Zukunft. Leider hat sich nichts davon erfüllt", sagt sie. Maya fügt hinzu, dass Kiew damals einen Höhepunkt des Clubtourismus erlebte.

Tanya, Vita und Maya auf einer Party im Jahr 2021, dem besten Jahr ihres Lebens.
Tanya, Vita und Maya auf einer Party im Jahr 2021, dem besten Jahr ihres Lebens.Photo provided by Maya and Tanya

"Es fühlte sich an wie der letzte Ort auf der Welt, an dem die Leute noch jede Nacht durchdrehten. Im Jahr 2021 fühlte sich Kiew wie das Zentrum des Universums an. Ich bin dankbar, dass wir das erleben durften." Über die Vergangenheit zu sprechen, ist für die Ukrainer so etwas wie eine Norm geworden. Wenn man an die Jahre vor der Invasion zurückdenkt, bleibt ein bitterer Beigeschmack. Auf der einen Seite das Gefühl der Dankbarkeit für die freudigen Erlebnisse, auf der anderen Seite das Gefühl der Frustration, der Unsicherheit und der Angst vor dem, was kommen wird.

"Wir werden einen Weg finden!"

"Jetzt kann man die Stimmung als frustriert bezeichnen", sagt Maya. "Die Leute vergessen oft, dass wir uns in diesem Krieg selbst verteidigen", fügt Tanya hinzu. Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit kam in einem Gespräch auf, das Maya mit einem ihrer Freunde führte, der derzeit beim Militär dient. Er sagte ihr, dass sie natürlich weiterkämpfen würden: "Wir werden einen Weg finden", fügte er hinzu.

Wie Maya stellen sich viele Ukrainer auf einen langen Krieg ein. Das Leben mit häufigen Luftangriffen, Drohnenangriffen und Beschuss bleibt nicht ohne Folgen, nicht nur für die körperliche, sondern auch für die geistige Gesundheit.

Aber wie kümmert man sich um seine geistige Gesundheit, wenn sich das eigene Land im Krieg befindet? Wie für jeden anderen Menschen auch, spielen die sozialen Medien hier eine große Rolle. Schicksalsschläge und Streitereien, die niemand gewinnen kann, belasten jeden. "Ich habe alles was, und jeden der mich provoziert hat, stumm geschaltet", sagt Maya und fügt hinzu, dass die Kontrolle des Nachrichtenkonsums auch eine große Rolle dabei spielte, ihre geistige Gesundheit zu bewahren. Vor allem die jüngste Nachricht, dass Oleksandr Syrskyi General Valerii Zaluzhnyi als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ablöst, sorgte aufgrund seines Rufs für Verwirrung und Panik im Land.

"Orte, an denen die Menschen ihre Angst, Wut und Frustration in etwas Positives umwandeln können".

Auch wenn sich das Land im Krieg befindet, blüht das Kiewer Nacht- oder eher Tagesleben? Aufgrund der Ausgangssperre müssen Bars, Restaurants und Clubs um Mitternacht schließen, weshalb sich viele Clubs auf Tagesveranstaltungen verlagert haben. Maya erzählt von der Silvesternacht, nachdem Kiew erneut schwer beschossen worden war, und wie sie am nächsten Tag zu einer Veranstaltung im Techno-Club K41 gehen sollte.

Kiew, eine Stadt und ihre Bewohner leisten Widerstand.
Kiew, eine Stadt und ihre Bewohner leisten Widerstand.Foto zur Verfügung gestellt von Maya

Natürlich hatte sie keine Lust, dorthin zu gehen. Sie war davon überzeugt, dass der schwere Beschuss weitergehen und sie bald sterben würde. Schließlich ging sie aber doch zu der Party.

Im Club traf sie einige ihrer Freunde, die ihr sagten, dass es ihnen genauso ginge. "Aber das ist es, was Russland will", sagte eine ihrer Freundinnen. Sie zogen ihre besten Outfits an, gingen in den Club und teilten diese Erfahrung miteinander.

"Was wir gefühlt haben, wie wir getanzt haben, das hat uns wirklich geholfen, diesem Trauma gemeinsam zu begegnen.
Maya

"Was wir gefühlt haben, wie wir getanzt haben, das hat uns wirklich geholfen, diesem Trauma gemeinsam zu begegnen". Sie betont, wie wichtig diese Orte sind, an denen man sich gegenseitig unterstützen kann. "Natürlich war die Stimmung anders. Es fühlte sich wie Flucht an." Diese Möglichkeit, auf der Tanzfläche zu 'flüchten', ist sowohl für Zivilisten als auch für Soldaten, die im Urlaub sind, wichtig. "Sie haben einen oder zwei Tage frei und gehen in einen Club, um der Realität zu entfliehen", fügt sie hinzu.

In der Ukraine haben die Clubs jetzt eine andere Funktion. "Sie sind ein Ort, an dem die Menschen ihre Angst, Wut und Frustration in etwas Positives umwandeln können. Sie können die Erfahrung machen, lebendig zu sein. Es ist ein existenzieller Ort, an dem die Menschen zusammenkommen und die Gesellschaft der anderen genießen können", erklärt Tanya.

"Jeder Tod eines Menschen, der im Krieg umkam - ob ich ihn kenne oder nicht - fühlt sich an wie der Tod eines Familienmitglieds."

Die Realität holt einen jedoch schnell wieder ein. Kann man sich an den Krieg und die gewalttätigen Bilder und Videos im Internet gewöhnen? Sowohl Tanya als auch Maya sagen "nein". "Jeder Tod eines Menschen, der im Krieg umkam - ob ich ihn kenne oder nicht - fühlt sich an wie der Tod eines Familienmitglieds", sagt Maya. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist in der Ukraine in Zeiten des Krieges noch wichtiger geworden. "Wir sind an Armut gewöhnt. Wir sind es gewohnt, unsere Häuser mit vielen Familienmitgliedern zu teilen. Wir mussten uns immer gegenseitig unterstützen, auch schon vor dem Krieg." Deshalb trifft sie jeder Todesfall so hart wie der letzte. "Man leidet und lebt mit jedem Verlust, als ob es der eigene wäre, denn es gibt keine Trennung zwischen uns als Nation und dem Einzelnen. Wir gehen gemeinsam durch dieses Trauma", fügt sie hinzu.

Maya with her adopted dog Bella. Bella was saved by Ukrainian armed forces after the liberation of Bucha.
Maya with her adopted dog Bella. Bella was saved by Ukrainian armed forces after the liberation of Bucha.Photo provided by Maya.

Dieses Gemeinschaftsgefühl ist jedoch nicht nur auf das Land im Allgemeinen beschränkt. Jede Branche, Subkultur und Szene hat ihre eigene, eng verbundene Gemeinschaft, die in den letzten zwei Jahren noch enger zusammengewachsen ist. Die Prioritäten haben sich verschoben, und das Ziel ist nun, alles zu tun, um die Freiheit des Einzelnen und des Landes zu bewahren.

"Jeder trägt seinen Teil dazu bei, unser Land zu verteidigen".

Es sind nicht nur Soldaten, die das Land verteidigen, sondern auch Zivilisten. Allerdings haben sich viele Ukrainer von ihren Leidenschaften und Berufen abgewandt, um in die Armee einzutreten. "In diesen zwei Jahren haben sich unsere Probleme und der Schwerpunkt verändert. Wir konzentrieren uns jetzt auf die Frontlinien und unterstützen sie so gut wir können", sagt Maya und vergisst nicht zu erwähnen, dass die russischen Streitkräfte gezielt Zivilisten angreifen.

"Wir konzentrieren uns jetzt auf die Frontlinien und unterstützen sie so gut wir können.
Maya

Für Maya sind die Menschen, die sich in der Armee verpflichtet haben, um ihr Land zu verteidigen, in gewissem Sinne Zivilisten geblieben, eine Bügerarmee: "Sie haben es sich nicht ausgesucht zu kämpfen, sie wurden dazu gezwungen, weil wir angegriffen wurden." Natürlich haben sowohl Maya als auch Tanya viele Freunde, die derzeit für die Verteidigung des Landes kämpfen. Diese Menschen hinterlassen eine klaffende Lücke in der Gemeinschaft, aber ihr Ziel ist es, weiter zu kämpfen.

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"Wir kämpfen gegen das größte Land der Welt, wir brauchen dringend Ressourcen".

Seit dem Ausbruch des Krieges versuchen die Ukrainer alles in ihrer Macht Stehende, um zu helfen, und haben über die "Bankas"-Funktion der Online-Plattform Monobank gemeinsam 1 Milliarde Euro gespendet, wie die Kyiv Post berichtet. Dieses digitale Sparschwein, das weltweit einzigartig ist, dient als sicheres Mittel zur Spendensammlung. Dutzende von Spendenaktionen zur Unterstützung der Armee werden regelmäßig auf Monobank veröffentlicht, jede mit einem bestimmten Spendenziel. Laut Oleh Gorokhovsky, dem Mitbegründer von Monobank, ist "Bankas" für die ukrainischen Freiwilligen von großer Bedeutung, ähnlich wie HIMARS für die ukrainischen Soldaten.

Zusammen mit zwei weiteren Freundinnen, Nastya und Vita, beschlossen Maya und Tanya, ihre eigene Hilfsorganisation, AIDх10, zu gründen, um zum Kauf der an der Front dringend benötigten Drohnen und Fahrzeuge beizutragen. Nach Recherchen der britischen Tageszeitung Th Times haben Spenden wesentlich dazu beigetragen, einen Zusammenbruch der ukrainischen Wirtschaft zu verhindern. Da jedoch mehrere Millionen Ukrainer das Land verlassen haben, wollten Maya, Tanya, Nastya und Vita eine Organisation gründen, die auch Ukrainer einbezieht, die gezwungen wurden, das Land zu verlassen.

Vita, Tanya and Maya.
Vita, Tanya and Maya.Photo provided by Maya.

"Die Ukrainer sind müde und knapp bei Kasse. Es ist für jeden und jede schwierig, jetzt zu spenden", sagt Tanya und fügt hinzu: "Dieses Gefühl der Dringlichkeit, gepaart mit dem Gefühl, dass es sich um eine langfristige Angelegenheit handelt, erschöpft die Menschen, und deshalb wollten wir das Ausland zu einem integralen Bestandteil unserer Fundraising-Strategie machen und auch das Bewusstsein dafür schärfen. Wir kämpfen gegen das größte Land der Welt, wir brauchen dringend Ressourcen".

Beide betonen, dass die in den Nachrichten erwähnte Hilfe bei weitem nicht ausreicht und oft nicht bei den Bedürftigen ankommt. "Wir sehen zu, wie unsere Freunde an der Frontlinie kämpfen", sagte Maya. Der Einsatz an der Front ist extrem gefährlich, da Ausrüstung wie Drohnen und Fahrzeuge leicht kaputt gehen. Beide betonen, dass die Soldaten diese Mittel dringend benötigen, ebenso wie die Waffen, die sich die Freiwilligen nicht leisten können, wie z. B. Langstreckenwaffen und Minen, um nur einige zu nennen. Maya betonte, dass jeder verstehen muss, dass Drohnen Verbrauchsgüter sind und das Militär manchmal ein Dutzend Drohnen pro Tag einsetzt, um seine Ziele auszuschalten. "Nichts kann die Waffen ersetzen, die wir brauchen, wie Selenskyj auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz sagte", so Maya.

A graveyard where fallen Ukrainian servicemen are burried.
A graveyard where fallen Ukrainian servicemen are burried.Photo provided by Maya
"Wir würden unser Geld gerne in eine bessere, grünere Zukunft und in die Umwelt investieren, aber stattdessen müssen wir dieses Geld für die Verteidigung unseres Landes ausgeben.
Maya

"Wir würden unser Geld gerne in eine bessere, grünere Zukunft und in die Umwelt investieren, aber wir müssen dieses Geld stattdessen für die Verteidigung unseres Landes ausgeben", sagte Maya. "Drohnen sind so wichtig, aber sie gehen so leicht kaputt." Die Realität für sie und andere Ukrainer ist die Notwendigkeit, die Tausenden von Soldaten zu unterstützen, die an der Frontlinie kämpfen. "Wir als Zivilisten kämpfen darum, so viele Spenden wie möglich zu sammeln, um so viele Leben wie möglich zu retten", fügt Tanya hinzu.

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"Ich möchte die Ukraine nie verlassen, ich möchte hier leben.

"Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussehen wird, das ist eine schwierige Frage", gesteht Maya, die Angst vor dem schlimmsten Fall hat. "Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn Kiew oder die ganze Ukraine von Russland besetzt werden. Ich weiß, dass man mich nicht am Leben lassen wird", sagte sie, die sich als Aktivistin in der LGBTQIA+-Gemeinschaft engagiert. Die LGBTQIA+-Gemeinschaft wurde im vergangenen Jahr vom Kreml als "extremistische Organisation" eingestuft und verboten.

"Es tut mir weh, daran zu denken, aber ich denke sehr oft daran." Sie möchte ihr Leben in der Ukraine verbringen, ohne in Angst zu leben, ihre zukünftigen Kinder dort großziehen und in Frieden leben. Maya verbringt jedoch nicht viel Zeit damit, über das Ende des Krieges nachzudenken. "Wir haben so viele Menschen verloren und so viel geopfert, ich glaube nicht, dass ich feiern könnte", fügt sie hinzu.

Sunset in Kyiv, Maya and Tanya hope that one day life will come back to normal in their beloved city.
Sunset in Kyiv, Maya and Tanya hope that one day life will come back to normal in their beloved city.Photos provided by Maya and Tanya.

Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Zivilisten seit Beginn der groß angelegten Invasion gestorben sind. US-Beamte schätzen die Zahl der Kriegsopfer auf fast eine halbe Million.

"Wir haben so viele Menschen verloren und so viel geopfert, ich glaube nicht, dass ich feiern könnte.
Maya

Unter Ukrainer gibt kaum jemanden, der nicht jemanden kennt, der bei der Verteidigung seines Landes oder bei Angriffen auf zivile Ziele getötet wurde.

Wenn Sie für AIDx10 spenden möchten, können Sie dies hier tun.

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