Syriens neue Regierungspartei hat die Verbindungen zu Al-Qaida abgebrochen und sich verpflichtet, religiöse Minderheiten zu respektieren. Ihre bisherige Bilanz aber lässt viele Fragen zur Zukunft der Demokratie in Syrien offen.
Die Zukunft Syriens bleibt ungewiss - das Land geht vom Assad-Regime zu einer neuen islamistischen Regierung über.
Syrien steht nach wie vor unter Druck, einerseits durch israelische Bombardements auf syrische militärische Einrichtungen im Süden und andererseits durch die von der Türkei gestützten Angriffe auf Kurden im Nordosten des Landes.
Die neue Übergangsregierung, angeführt von der Rebellengruppe Hayʼat Tahrir al-Sham (HTS), die Assad gestürzt hat, versucht, ihre Macht zu konsolidieren und das Land zu vereinheitlichen. Sie stellt Kontakte zu den bewaffneten Gruppen im Süden her und präsentiert sich gleichzeitig als gemäßigte Macht.
Sind die Menschen- und Frauenrechte in Syrien weiter bedroht?
2016 hatte die HTS ihre Verbindungen zu Al-Qaida gekappt und präsentierte sich sogar als potenzieller Partner im Kampf gegen Terrorismus präsentiert, sagt der syrische Politikwissenschaftler Joseph Daher gegenüber Euronews.
"Es gibt eine klare Entwicklung der Partei, seit sie begonnen hat, einige Teile Syriens zu regieren und ihre Verwaltung aufzubauen".
Dennoch betont er: "Die Syrer sollten ihr nicht trauen. Es handelt sich um eine autoritäre Organisation mit einer islamisch-fundamentalistischen Ideologie".
"Sie versuchen, wie ein gemäßigter, rationaler und legitimer Akteur auszusehen. Bedeutet das, dass sie eine demokratische Organisation sind? Ganz und gar nicht".
Toleranz für Minderheiten versus politische Rechte
Die Gruppe hat sich zu Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten verpflichtet, aber "das bedeutet nicht, dass sie sie als gleichberechtigt akzeptiert", so Daher.
"Es geht nicht darum, ob man beten darf oder nicht, sondern darum, am Entscheidungsprozess teilzunehmen."
"Auch die Rechte der Frauen sind eine Herausforderung. Die HTS hat nicht gezögert, NROs oder Organisationen zu schließen, die sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen."
"Ihre Menschenrechtsverletzungen - wie die Verhaftung politischer Gegner - wurden auch bei den Protesten vor einigen Monaten verurteilt. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich auch das Assad-Regime nicht für die Menschenrechte eingesetzt hat."
"Alles wird von der Fähigkeit der syrischen Gesellschaft abhängen, ihre Rechte zu verteidigen und sich als demokratischer Block, beispielsweise in Gewerkschaften, zu organisieren."
Was geschieht mit den syrischen Flüchtlingen in Europa?
Der Sturz der Assad-Regierung könnte das Schicksal von Tausenden syrischen Asylbewerbern in Europa verändern.
Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 2011 hatten Hunderttausende Syrer Schutz in Europa und den Nachbarländern gesucht.
Offiziellen Angaben zufolge beherbergt allein die Türkei schätzungsweise drei Millionen syrische Asylbewerber, doch die tatsächlichen Zahlen dürften weitaus höher sein
In der EU waren Syrer mit rund 130.000 Personen die größte Gruppe, die im Jahr 2023 einen Schutzstatus erhielt (32 %).
Syrer und Venezolaner waren mit über 90 % die Gruppe mit der höchsten Anerkennungsquote nach einer Antragstellung.
Die EU-Mitgliedstaaten genehmigten im vergangenen Jahr 51.250 Anträge syrischer Staatsangehöriger, das ist halb soviel, wie mit dem Höchststand im Jahr 2018 von 103.365 erreicht wurde. Eurostat-Daten zeigen, dass die Zahl seither rückläufig ist.
Im Jahr 2023 genehmigte Deutschland die meisten Anträge (16.230), gefolgt von Frankreich (13.605), Italien (11.315), Österreich (3.645) und den Niederlanden (1.660).
Innerhalb der EU beherbergt Deutschland mit mehr als 1,2 Millionen Menschen die meisten syrischen Menschen. Das Ende der Tyrannei Assads, wie die Bundesregierung es nannte, hat Deutschland dazu veranlasst, fast 50.000 Asylanträge einzufrieren.
Frankreich, das Vereinigte Königreich, Italien, Belgien, Norwegen, Dänemark und Schweden kündigten ähnliche Maßnahmen an. Österreich, das rund 95.000 syrische Flüchtlinge beherbergt, geht sogar noch weiter und kündigte die Vorbereitung von Abschiebungsplänen an.
Syrer "sollten nicht zur Rückkehr gezwungen werden"
"Syrien ist kein sicheres Land, auch wenn Assad weg ist", sagt Daher.
"Syrische Flüchtlinge sollten das Recht haben, zu bleiben oder zurückzugehen, wenn sie wollen. Aber sie sollten nicht gedrängt werden."
"Die Situation im Land ist sehr schlecht: 90 % der Bevölkerung lebt in Armut. Die Infrastruktur ist massiv zerstört, viele qualifizierte Arbeitskräfte haben das Land verlassen, und die Verkehrsverbindungen sind sehr schlecht."
"Der Agrarsektor ist stark zerstört, die Löhne sind sehr niedrig. Und selbst wenn die Menschen zurückkehren, wissen wir nicht, ob ihre Häuser zerstört worden sind oder nicht".
"Syrien wird auch in den kommenden Jahren internationale und humanitäre Hilfe für seine Entwicklung benötigen. Die nächste Regierung sollte nicht die Fehler der vorigen Regierung wiederholen, indem sie sich für eine Entwicklung entscheidet, die nur einer kleinen Minderheit statt der Mehrheit der Syrer zugute kommt."
Politikwissenschaftler Daher betont: "Es gibt jetzt noch viel Unsicherheit, aber auch Hoffnung auf einen Wiederaufbau".